Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation

Frau Steht auf der Seebrücke und schaut durch ein Fernrohr

Seebrücke

Foto: Ostkreuz (Thomas Meyer)

Hat sich nicht längst eine Normalität des Miteinanders eingestellt, so dass der Stand und die Zukunft der „Deutschen Einheit“ gar kein Thema mehr sind? Mitnichten. 32 Jahre nach Friedlicher Revolution, Deutscher Einheit und dem Zusammenbruch des Ostblocks stellt sich die Frage nach der tatsächlichen inneren Verfasstheit der deutschen Gesellschaft vielleicht mehr denn je.

Die Absicht, ein Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation zu gründen, basiert auf einer Empfehlung der Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“ aus dem Jahr 2020. Es ist ein zentrales Projekt der Bundesregierung in Ostdeutschland. Bundesregierung und Bundestag haben im Frühjahr 2022 mit je eigenen Beschlüssen die Gründung und den Bau des Zukunftszentrums befürwortet.

Drei Arbeitsbereiche: Wissenschaft, Dialog und Kultur

Das Zentrum wird sich in die drei Arbeitsbereiche Wissenschaft, Dialog und Kultur gliedern. Es soll die Erfahrungen und Leistungen der Menschen in Ostdeutschland sichtbar machen, die Bedingungen für eine gelingende Transformation erforschen sowie Erfolge und Chancen, aber auch nachwirkende Folgen der Umbrüche mit Blick auf heutige Herausforderungen untersuchen und für eine breite Öffentlichkeit zur Diskussion stellen.

Ohne die Erfolge und das unbestreitbare Gelingen der Deutschen Einheit auf vielen Feldern in Frage stellen zu wollen: Zwischen Ost und West bestehen objektive Unterschiede fort. Eine unterschiedliche Einkommensverteilung, die im Schnitt geringeren Vermögen, prekäre Beschäftigungsverhältnisse und die infrastrukturellen Folgen des andauernden Bevölkerungsverlustes sind Stichworte, die auch in diesem Bericht an anderer Stelle ausführlicher behandelt werden. 

In der Folge ist die Zufriedenheit mit der gesellschaftlichen und politischen Lage vielerorts geringer ausgeprägt, Politik und politische Akteure werden kritischer und skeptischer beurteilt. Die Anerkennung andersartiger Erfahrungen und Prägungen vieler Menschen in Ostdeutschland kam in der Vergangenheit häufig zu kurz. Erwartet wurde stattdessen ein Ankommen in einem „Normalzustand West“. Das auch heutige Generationen noch beeinflussende kulturelle Gedächtnis der Ostdeutschen, zusammengesetzt aus individuellen Erfahrungen, Enttäuschungen und Anstrengungen, hat in der gesamtdeutschen Erfolgsgeschichte einer gelungenen Wiedervereinigung beider deutscher Staaten noch keinen angemessenen Platz gefunden.

Dies führt zu Missverständnissen, die in gesellschaftlichen Stresssituationen wiederum schnell in pauschalen Urteilen münden können. Die mentalen Unterschiede zwischen Ost und West sind das Ergebnis von gesellschaftlichen, sozialen und ökonomischen Brüchen, von individuellen Erfahrungen, die auch heute noch in den nachfolgenden Generationen fortwirken. 

Anerkennung der Lebensleistungen der Ostdeutschen

Das Ende der deutschen Teilung veränderte im Westen zunächst wenig. Im Osten dagegen brachte die Vereinigung eine große, lange dauernde Transformation aller Bereiche des Lebens mit sich. Ostdeutschland hat daher ein anderes Krisenbewusstsein aus einer anderen Krisenerfahrung – und auch ein anderes Selbstbewusstsein. 
Dabei gilt: Jedes vereinfachende Bild von Ost und West kann zu weiteren Missverständnissen führen. Gegenseitige Fremdzuschreibungen als „Ossis“ und „Wessis“ drohen am Ende zur Entfremdung zu führen. Ein Gefühl der Nichtanerkennung sorgt für Wut. Dem entgegenzuwirken, ist Ziel des Zukunftszentrums. Es soll die Umbruchjahre nach 1990 im kulturellen Gedächtnis auch der Westdeutschen verankern. Die gesellschaftlichen Erschütterungen ebenso wie die vielen auch persönlichen Erfolge der Transformation gehören als ein gemeinsames Wissen in den Kanon der gesamtdeutschen Geschichte. Sie dürfen nicht „Ostgeschichte“ bleiben. Das Zukunftszentrum ist ein gesamtdeutsches Projekt.

Umgang mit aktuellen Herausforderungen

Die Wiedervereinigung mit zum Teil traumatischen sozialen Deklassierungserfahrungen und harter Ankunftsarbeit in einem neuen, unbekannten System untergrub in der ehemaligen DDR oft das Gefühl von Sicherheit und Stabilität. Aber auch Westdeutschland kam seit den neunziger Jahren in einen erheblichen Globalisierungsstress. Der dramatischen Deindustrialisierung Ostdeutschlands folgten weitere Erschütterungen in Ost und West: der 11. September 2001, die Finanzkrise 2008, die Eurokrise 2010, die Klimakrise, die Flüchtlingskrise 2015, seit 2018 die Corona-Krise sowie aktuell die Auswirkungen des russischen Krieges gegen die Ukraine auf die Energieversorgung, die wirtschaftliche Entwicklung und die Sicherheit in Europa.

Das zeigt: Die Risiken bleiben hoch. Das einzig Verlässliche sind neue Veränderungen – und zwar in ganz Deutschland. Ihnen muss sich Deutschland gemeinsam stellen. Deshalb wird es im Zentrum nicht nur um Ereignisse der vergangenen 30 Jahren gehen, sondern auch um den Umgang mit aktuellen Herausforderungen. Darüber wird zu streiten sein: unter Deutschen, und unter Europäern.

Der Krieg in der Ukraine, der Umbau des Energiesystems, die Bekämpfung des Klimawandels, der durch Fachkräftemangel zwingend notwendige Zuzug ausländischer Arbeitskräfte: Das alles sind gesamtdeutsche und europäische Herausforderungen. Bisher gehen Ost und West damit teilweise unterschiedlich um. Das Gemeinsame muss zusammen erstritten werden. Darin besteht die viel beschworene Veränderungskompetenz: aus unterschiedlichen Perspektiven heraus etwas Gemeinsames zu entwickeln, um mit den anstehenden Herausforderungen umzugehen – gesamtdeutsch und europäisch. 

Eine zentrale Aufgabe des Zukunftszentrums wird es sein, der eigenen Geschichte und den Erfahrungen der Menschen in Ostdeutschland den Raum zu geben, diese selbstbewusst und gleichberechtigt in anstehende Strukturwandelprozesse einzubringen. Die Menschen in Ostdeutschland bringen ihr Leben als vollwertigen und gleichberechtigten Beitrag mit allen in den letzten 30 Jahren erworbenen Kompetenzen und Umbrüchen ein. 

Verbindung nach Mittel- und Osteuropa

Was für Deutschland gilt, gilt auch für Mittel- und Osteuropa. Unsere östlichen Nachbarn haben nach ihrer Befreiung von Kommunismus und sowjetischer Fremdherrschaft, die wichtige Voraussetzungen für die Friedliche Revolution in der DDR waren, eigene, oft ähnliche Transformationserfahrungen gemacht. Sie kommen aber mit Blick auf die heutige politische Realität regelmäßig zu anderen Ergebnissen beim Umgang mit diesen Erfahrungen. 

Deshalb soll das Zukunftszentrum keine rein deutsch-deutsche Aufarbeitung betreiben. Es wird sich mit gemeinsamen Erfahrungen Zentraleuropas in den vergangenen 30 Jahre beschäftigen und dabei auch auf die Bewältigung kommender Herausforderungen ausgerichtet sein. Dazu gehört selbstverständlich die veränderte Lage in Europa nach dem russischen Angriff auf die Ukraine.

Ausgehend von der deutschen Wiedervereinigung, den Freiheitsrevolutionen in Ostmitteleuropa und den Entwicklungen nach 1989 soll das Zentrum daher Mittel- und Osteuropa als einen gemeinsamen Erfahrungs- und Lernraum in zukünftigen Transformationsprozessen verbinden. Mit dem Zentrum wird ein gesamteuropäischer Resonanzboden für die verschiedenen Erfahrungen mit dem Umbruch entstehen. Damit leistet das Zukunftszentrum auch einen wichtigen Beitrag zur Stärkung der Demokratie und des Zusammenhalts in Europa – einschließlich einer Auseinandersetzung darüber, wie politische Freiheit in der Vergangenheit errungen wurde und auch künftig erkämpft und verteidigt werden kann.

Offener Standortwettbewerb bis Anfang 2023

An das Zentrum sind große Erwartungen und an seine Arbeit ein hoher Anspruch gerichtet. Es ist mehr als ein Symbol. Das Zukunftszentrum soll Erfahrungen sichtbar machen und die Voraussetzungen für das Gelingen von Strukturwandelprozessen untersuchen. Es wird in Ostdeutschland seinen Standort haben. Wo genau, das wird im Rahmen eines offenen Standortwettbewerbs bis Anfang 2023 ermittelt. Direkt daran anschließen wird sich ein Architekturwettbewerb, mit dem der Anspruch verwirklicht werden soll, das Zukunftszentrum in einem spannenden, ja aufsehenerregenden Gebäude mit architektonischer Strahlkraft anzusiedeln. Die endgültige Eröffnung ist für 2028 geplant. Bis dahin stehen neben dem Bau zahlreiche organisatorische Arbeiten an: die Gründung einer Institution, der Aufbau einer Programmstruktur und vor allem auch schon vor Eröffnung die Verwirklichung erster Projekte, die zeigen sollen, wie das Zentrum arbeitet.

Das Zukunftszentrum soll weder Museum noch Elfenbeinturm werden, sondern ein offener Raum für Streit und Zusammenarbeit von Bürgerinnen und Bürgern. Ein für alle erleb- und begehbarer Raum, in dem unterschiedliche Erfahrungen sichtbar werden. So soll es zu einem gesellschaftlichen Miteinander beitragen, das auch Konflikte und Konfrontation aushält. Auf diese Weise kann das Zukunftszentrum einen wichtigen Beitrag zur Zukunft Deutschlands in Europa leisten.