Ostdeutschland. Ein neuer Blick.

Bericht des Ostbeauftragten 2022 Ostdeutschland. Ein neuer Blick.

Es ist Zeit für einen neuen Blick auf Ostdeutschland. In den Jahren nach der Wiedervereinigung standen häufig die Defizite des Ostens im Fokus: die niedrige Wirtschaftskraft, die schlechtere Infrastruktur, die hohe Abwanderung. Der Vergleichsmaßstab war dabei stets der Westen, zu dem der Osten aufschließen sollte.

Carsten Schneider, Staatsminister beim Bundeskanzler und Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland

Carsten Schneider, Staatsminister beim Bundeskanzler und Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland

Foto: Bundesregierung/Steffen Kugler

Vielen Menschen erschien der Blick auf das, was noch fehlt, das, was aufgeholt werden muss, als die selbstverständliche Perspektive. Mehr noch: Wenn die Medien über den Osten berichteten, dann allzu oft mit negativen Assoziationen. Wir alle kennen die Berichte über Nazis, Doping und die Stasi. Sie haben dazu beigetragen, dass sich in vielen Köpfen ein einseitiges und verzerrtes Bild vom Osten festgesetzt hat. 

Dabei gibt es „den“ Osten gar nicht. Die Entwicklungspfade einzelner Regionen sind sehr unterschiedlich – und sie werden nicht mit der Zeit verschwinden. Das gilt übrigens auch für Westdeutschland: Saarland und Baden-Württemberg haben ebenso unterschiedliche strukturelle Voraussetzungen in die deutsche Einheit eingebracht wie Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen. Und heute haben auch Teile Westdeutschlands mit strukturellen Problemen zu kämpfen, die bewältigt werden müssen. Umgekehrt haben ostdeutsche Besonderheiten und Stärken das vereinte Deutschland an vielen Stellen bereichert und müssen bestehen bleiben. Kurzum: Das heutige Deutschland ist heute kein „Westdeutschland plus“, sondern ein vollständig neues Land – und das ist auch gut so! 

Mit diesem Bericht möchte ich ein differenziertes, realistisches Bild vom heutigen Osten vermitteln und die Potenziale des modernen Ostdeutschlands herausstellen. Ostdeutschland hat in den vergangenen drei Jahrzehnten einen tiefgreifenden Umbruch erlebt und musste sich mehrfach neu erfinden. Diese Erfahrungen waren hart und schmerzhaft. Doch vielerorts sind auch eine neue Energie und Dynamik, eine Aufbruchstimmung und gerade in der jüngsten Zeit ein neues Selbstbewusstsein entstanden. 

Kein Zweifel: Der Osten hat sich in den vergangenen Jahren gut entwickelt, in Teilen boomt er sogar. Neue Firmen siedeln sich an und alte expandieren. Die Arbeitslosigkeit ist gesunken. Und die Infrastruktur kann mittlerweile vielerorts mit anderen Wachstumsregionen mithalten, auch dank Milliardeninvestitionen des Bundes. 

Es ist ja kein Zufall, dass sich in den letzten Jahren große internationale Konzerne für den Standort Ostdeutschland entschieden haben. Der Chip-Hersteller Intel wird in Magdeburg rund 17 Milliarden Euro investieren, während der Autobauer Tesla in Grünheide in Brandenburg mit der „Gigafactory“ seinen ersten Produktionsstandort in Europa gebaut hat. Bundeskanzler Olaf Scholz hat es auf den Punkt gebracht: „Der Osten Deutschlands ist inzwischen in vielerlei Hinsicht eine der attraktivsten Wirtschaftsregionen Europas.“ 

Diese Erkenntnis spricht sich inzwischen auf der ganzen Welt herum. In internationalen Zeitungen wie der Financial Times oder im Guardian sind ausführliche Artikel über die ostdeutschen Ansiedlungserfolge erschienen. Die Financial Times beschreibt etwa, wie die ökonomische Landkarte Deutschlands gerade neu gezeichnet wird. Und sie nennt die Erfolgsfaktoren: die hochmotivierten Arbeitnehmer, der Vorsprung bei den erneuerbaren Energien, eine kooperative Verwaltung sowie alte Industrie-Traditionen. Diese Stärken müssen wir weiter ausbauen.

Ostdeutschland ist im Aufwind. Zumindest grundsätzlich gesprochen. Andererseits steht der Osten weiterhin vor großen Herausforderungen, die politische Antworten erfordern – allen voran die aktuell unsichere Energieversorgung und die stark gestiegenen Preise in Folge des russischen Angriffskrieges. Sie sind für die ostdeutsche Bevölkerung besonders bedrohlich: Im Osten sind die Einkommen immer noch deutlich niedriger als in Westdeutschland, die Bürgerinnen und Bürger verfügen über weniger Rücklagen und kaum Vermögen. Umso wichtiger ist es, dass der gesetzliche Mindestlohn ab Oktober 2022 steigt und der Staat die Menschen mit geringen und mittleren Einkommen unterstützt. Die Bundesregierung setzt alles daran, das Land sicher durch die Energiekrise zu führen. 
Unabhängig von der aktuellen Krise bleibt das Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe für die Politik in Bund und Ländern. Gerade viele ostdeutsche Regionen sind nach wie vor strukturschwach und – damit eng verbunden – leiden unter einer ungünstigen demografischen Entwicklung. Noch immer bedarf es im Osten eigener Entwicklungsstrategien und Unterstützung dabei, von einer strukturell schlechteren Ausgangsposition die innovativen Zukunftstrends zu nutzen. 

Dies betrifft insbesondere auch den Arbeits- und Fachkräftemangel, der im Osten bereits heute eklatant ist (und auch Westdeutschland zunehmend erreicht). Dem „Betriebspanel Ostdeutschland“ zufolge suchte selbst im zweiten Pandemiejahr 2021 mehr als jeder dritte ostdeutsche Betrieb (36 Prozent) Fachkräfte – rund drei Prozentpunkte mehr als in Westdeutschland. Hochgerechnet ergab sich ein Bedarf von bis zu 550.000 Fachkräften in Ostdeutschland für 2021. Wir müssen alles tun, damit der Arbeitskräftebedarf nicht zur Wachstumsbremse wird. 

Der Bericht des Beauftragten für Ostdeutschland ist ein Novum. Er soll künftig im Wechsel mit dem Bericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit erscheinen, ausgewählte thematische Schwerpunkte präsentieren und dabei auch individuelle Blickwinkel zulassen. 

Der vorliegende Bericht benennt die zentralen Herausforderungen für Ostdeutschland und erläutert die politischen Vorhaben der Bundesregierung, mit denen wir den Osten weiter stärken wollen. Dabei geht es etwa um eine vorausschauende Struktur- und Industriepolitik und den Ausbau der Erneuerbaren Energien, aber auch um Maßnahmen, damit endlich mehr Ostdeutsche in Führungspositionen gelangen. Dass einer Studie der Universität Leipzig zufolge bei einem Bevölkerungsanteil von 17 Prozent nur 3,5 Prozent der bundesweiten Führungspositionen von Ostdeutschen besetzt werden, kann so nicht bleiben. 

Außerdem stellt der Bericht das geplante „Zukunftszentrum Deutsche Einheit und Europäische Transformation“ vor, das Bundesregierung und Bundestag im Frühjahr 2022 beschlossen haben. Diese neue Institution soll zu einem zentralen Ort der Auseinandersetzung um die Einheit und die Transformation in Mittel- und Osteuropa werden. Auf dieser Basis können Lösungsansätze für die aktuellen Herausforderungen der Zeit entstehen. 

Für diesen Bericht habe ich Gastautorinnen und -autoren eingeladen, ihren jeweils eigenen Blick auf den Stand der Einheit und auf Ostdeutschland zu schildern. Diese Texte sind nach vorn gerichtet und machen Mut. Sie zeigen unter anderem die Bedeutung des ehrenamtlichen Engagements, die Stärke der Kultur – und den ungebrochenen Gestaltungswillen der Menschen im Osten. Die Bürgerinnen und Bürger sind kreativ und nehmen ihre Zukunft selbst in die Hand. Ich bin überzeugt: Gerade in Krisenzeiten können wir auf die große Kraft des gemeinschaftlichen Handelns vertrauen. Der Staat unterstützt dieses Engagement, wo immer möglich. 

Die Mentalitätsunterschiede zwischen Ost und West, die es nach wie vor gibt und die auch in diesem Bericht eine Rolle spielen, haben ihre Ursache nicht nur in der deutschen Teilung bis 1989/90, sondern gerade auch in der nachfolgenden Zeit großer Umbrüche im Osten. Mit dieser bewegten Phase haben sich in der jüngsten Zeit viele jüngere Künstlerinnen und Künstler auseinandergesetzt – eine Zeit der Unsicherheit, Perspektivlosigkeit und gefühlten Anarchie. Der alte Staat existierte nicht mehr, der neue hatte noch brüchige Strukturen und zum Teil keine Autorität. Über die „Baseballschlägerjahre“ in den neunziger Jahren und die ostdeutsche Identität sind gleich mehrere lesenswerte Romane entstanden.

Ich selbst war in dieser Zeit ein Jugendlicher und kann mich sehr gut daran erinnern. Die furchtbaren rassistischen Angriffe auf Asylbewerber und ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter in Rostock-Lichtenhagen vor genau 30 Jahren waren der Weckruf für mein eigenes politisches Engagement. Damit war ich nicht allein: Hunderttausende haben sich seither gegen Rassismus und für unsere Demokratie engagiert. Wichtige Initiativen sind entstanden, im Osten zum Beispiel die Mobilen Beratungsteams, die Betroffene von Rassismus unterstützen und mittlerweile auch in Westdeutschland arbeiten. Die demokratische Zivilgesellschaft hat einen großen Anteil daran, dass viele heute stolz darauf sind, aus Ostdeutschland zu stammen oder dort zu leben.   

Es ist in unserem ureigenen Interesse, gegen den Rechtsextremismus, gegen Vorurteile und für ein weltoffenes Deutschland zu kämpfen – für Vielfalt, Toleranz und Demokratie. Diese Frage wird mit darüber entscheiden, ob der Osten eine Zukunftsregion bleibt. Denn Einwanderung ist die große Chance gerade für den Osten. Von ihr hängen die wirtschaftliche Entwicklung und die Daseinsfürsorge entscheidend ab. Das moderne Ostdeutschland muss eine moderne Einwanderungsregion sein. Dafür werbe ich auf meinen vielen Reisen durch Ostdeutschland immer wieder. 

Dieser Bericht macht deutlich, dass die Bundesregierung die Bedürfnisse des Ostens genau im Blick hat. Mit der Ansiedlung im Bundeskanzleramt wurde der Beauftragte der Bundesregierung für Ostdeutschland in dieser Wahlperiode institutionell gestärkt. Dass ich dieses Amt ausfüllen darf, ist mir eine besondere Ehre. 

Ich danke allen Gastautorinnen und -autoren für ihre spannenden und klugen Beiträge. 

Ihnen wünsche ich viel Freude beim Lesen!

Mit herzlichen Grüßen

Carsten Schneider