Frank Willmann
In den Profiligen des deutschen Fußballs herrscht ein territoriales Ungleichgewicht. Nur vier Mannschaften aus den neuen Bundesländern tummeln sich neben vierunddreißig Mannschaften aus den alten Bundesländern in den ersten beiden Ligen.
Im dreiunddreißigsten Jahr nach der Friedlichen Revolution in der DDR kickt neben dem traditionsreichen 1. FC Union Berlin nur Rasenball Leipzig in der 1. Liga. In der 2. Liga spielen Hansa Rostock und der 1. FC Magdeburg.
Wie fast überall auf der Welt war auch in der DDR der Fußball die beliebteste Sportart. Besonders Männer besuchten die Spiele der Oberliga an jedem Wochenende. Der Eintritt war günstig, Bockwurst, Programmheft und wetteroffener Stehplatz rundeten den Stadionbesuch ab. Bier floss meist nur in den Clubgaststätten, die sich innerhalb mancher Tribünen befanden. Das Publikum bestand aus Arbeitern und kleinen Angestellten. Aber auch viele Kinder und Jugendliche standen auf den Stadiontraversen. Beim Fußball konnte man gepflegt Frust ablassen und sich verklausuliert politisch äußern: „Die Mauer muss weg!“ oder sich via „Wo bleibt denn der Eigendorf?“ über in den Westen abgehauene Spieler des BFC Dynamo lustig machen.
1989 brach die heile Fußballwelt im Osten Deutschlands zusammen. Der Fußball verpatzte den Sprung in die westdeutschen Profiligen. Einige der erfolgreichsten DDR-Clubs sind heute in der Versenkung verschwunden.
Doch es gibt auch Erfolgsmeldungen. Rasenball Leipzig ist gegenwärtig in Deutschland und Europa ein aufstrebender Club. Und der 1. FC Magdeburg, der am 8. Mai 1974 als einziger DDR-Club als Europapokalgewinner in die Fußballgeschichte einging, beweist nach dem diesjährigen neuerlichen Aufstieg in die 2. Bundesliga, dass man durchaus mit Glück und Geschick an den Platz an der Fußball-Sonne gelangen kann. Der viel besungene Europapokalsieg war für die heutige sachsen-anhaltische Landeshauptstadt und ihre Bewohner ein identitätsstiftendes Ereignis mit Langzeitwirkung. Die Menschen in Magdeburg wachten am 9. Mai 1974 auf und gingen beschwingt im Bewusstsein zur Arbeit, nun „…zu den größten der Welt…“ zu gehören.
Magdeburger Wirklichkeit
Der Europapokalsieg der Magdeburger färbte auf die gesamte DDR ab. Viele Menschen waren stolz auf „ihren FCM“. Die Produktivität im „Schwermaschinenbau-Kombinat Ernst Thälmann“ (SKET) stieg nach oben, die Menschen sonnten sich im internationalen Glanz.
Nach der Wende qualifizierte sich Magdeburg nicht für die 1. oder 2. Bundesliga und verschwand für Jahrzehnte im Niemandsland des Amateurfußballs. Der FCM erlebte eine Insolvenz und klopfte erst in den Nullerjahren zaghaft ans Tor zur 2. Liga, um dramatisch zu scheitern. Seit dem WM-Jahr 2006 spielt Magdeburg in der MDDC-Arena, die von den Fans nach dem Trainer der 1974er Europapokalsieger konsequent HKS (Heinz-Krügel-Stadion) genannt wird.
2018 stieg der FCM in die 2. Liga auf. Leider dauerte sein Gastspiel nur eine Saison, weil der Club weder sportlich noch wirtschaftlich mithalten konnte. Nun folgte eine beeindruckende Phase der Konsolidierung. Die Clubführung schuf professionelle Strukturen, die besonders im sportlichen Bereich schnell Früchte trug. Auch die Fans schlossen sich um 2015 gruppenübergreifend zur „Einheitsfront“ „Block U – Hintertortribüne“ zusammen. Die damit verbundene Einbindung tausender Clubfans in die Unterstützung der Mannschaft ermöglichte den heute unvergleichlich brachialen und bedingungslosen Support im Stadion. Wo sich andernorts viele Fankurven aus politischen Gründen aufspalteten, regiert in Magdeburg allein der gemeinsame Nenner 1. FC Magdeburg. Ultras, Kuttenfans, Normalos und Hooligans bewegten sich aufeinander zu. Das Lieblingswort der Magdeburger Fans heißt GEMEINSAM. Und das, obwohl der Club seit Februar 2017 seine Lizenzspielerabteilung aus dem e.V. via Abstimmung der Mitglieder ausgliederten.
Das hindert viele progressive, aktive Fans allerdings nicht daran, Verantwortung für sozial schwache Menschen zu übernehmen. Wie in vielen Ultraszenen in Deutschland engagierten sich junge FCM-Fans zuletzt in der Ukrainehilfe. Sie sammelten Kleider- und Sachspenden und brachten sie selbstorganisiert in die Ukraine. Fanszene und Vereinsführung arbeiten in Magdeburg eng zusammen, man schätzt und respektiert sich.
Durch die Kommerzialisierung des Fußballs sind die Spieler der Fußballclubs unwichtig geworden, sie taugen nicht zur Identifikation, weil die Spieler schon morgen aus finanziellen Gründen zum Verein XY wechseln werden. Was den Fans bleibt, sind die geografische Verortung, das Clubemblem, die Farben und die Vereinsgeschichte. So konzentriert sich die Fanliebe in Magdeburg heute auf städtische Symbole wie den Dom, die Ottos (Otto von Guericke und die Ottonen), die Elbe.
Der 1. FC Magdeburg ist in der Stadt wieder eine sportliche Institution. Die DDR-Historie ist im Clubkanon eingebettet, aber niemand will die DDR zurück, die Fans begreifen sich als Magdeburger und Ostdeutsche und glauben allenfalls an den Fußballgott.
Jenaer Fußballmärchen
In Jena ist das einheimische Ernst-Abbe-Sportfeld gegenwärtig eine Baustelle. Ein Grund zur Freude für Stadt und Fans gleichermaßen, 2023 wird ein moderner Stadionbau die hungrigen Fußballherzen zum Hüpfen bringen. Beim Stadionneubau fassen besonders Ultras und junge Fans ehrenamtlich mit an. Im Sommer installierten sie Bauzäune, hievten Wellenbrecher auf die neu entstandene Nordtribüne, bauten die Sitzplätze im A-Block ab.
Ihr Engagement ist nötig, weil der FC Carl Zeiss Jena im Lager der Abgehängten unterwegs ist. Der Club spielt nach einigen Gastspielen in der 2. und 3. Liga seit 2020 in der 4. Liga. Im Nordosten versammeln sich dort neben Jena einige weitere Ex-Größen des DDR-Fußballs, die halbwegs unter Profibedingungen von der 3. Liga träumen. Die ökonomischen Bedingungen sind in der 4. Liga jedoch miserabel. Es gibt keine relevante Summe vom Fernsehen oder der DFL, die Mannschaften sind von Sponsoren abhängig. Die Geschäftsstellen laufen im Notbetrieb. Auch der FCC hat seine Profimannschaft der Männer ausgegliedert, darum kümmert sich der Geschäftsführer der GmbH. Daneben agieren eine Stadionbetreibergesellschaft und der e.V.
Was tun, wenn es an allen Ecken brennt, fragte man sich zu Jahresanfang. Die Kräfte bündeln. Genau das geschieht aktuell in Jena mit viel Bürgersinn. Fans, Verein, GmbH, Sponsoren, Stadionbetreiber und Stadtangestellte setzten sich an einen Tisch und erarbeiteten ein vierundzwanzigseitiges Zukunftskonzept: „Als Traditionsverein wollen wir unseren FC Carl Zeiss Jena auf die Zukunft ausrichten. Unser Ziel ist, dass wir als fest in der Region verankerter Verein auch auf die regionale Stärke setzen. Wir wollen noch stärker auf unseren Nachwuchs setzen. Wollen aus eigener Stärke wachsen.“
Das in einer Präambel festgehaltene Ziel, den FCC unter den fünfzig besten Fußballclubs Deutschlands zu etablieren, klingt gut. Alle Beteiligten wollen fortan „…selbstlos, reflektiert, leidenschaftlich und vertrauensvoll…“ agieren. Liest sich wie ein Märchen, aber warum soll das Jenaer Fußballmärchen nicht wahr werden?
In der ewigen Tabelle des DDR-Fußballs steht der Verein auf Platz eins. Der vielfache DDR-Meister und FDGB-Pokalsieger ist, statistisch gesehen, der beste DDR-Club. In der Gegenwart bringt das nichts, weil alte Kamellen keine Tore schießen. Zu DDR-Zeiten wurde der FCC vom größten Kombinat (VEB Carl Zeiss Jena) der DDR gepampert.
Die Stadt Jena ist heute die reichste Stadt der neuen Bundesländer. Sie ist in Sachen Jobs und Lebensqualität die Nummer eins und streitet sich mit Erlangen um die höchste Akademikerdichte Deutschlands. Die Kehrseite der Medaille sind hohe Lebenshaltungskosten.
Die Fankurve ist studentisch und links geprägt, was sich in vielfältigen Solidaritätsaktionen mit Flüchtlingen, der Tafel, Sea-Watch, Amnesty International etc. widerspiegelt. Als „Juden Jena“ werden die Jenafans immer wieder von Teilen der ostdeutschen Konkurrenz beschimpft.
Viele Jenenser lieben den FCC, wenn er Erfolg hat, finden es aber komisch, dass in einer reichen Stadt wie Jena der Fußball so schlecht ist, obwohl sich der Weltkonzern Carl Zeiss im Clubnamen befindet. Leider interessiert sich der Konzern mit Sitz in Oberkochen nicht für den gleichnamigen Fußballclub, was teilweise mit dessen Vergangenheit in der DDR-Diktatur zu erklären ist. Schließlich war der Kombinatschef des VEB Carl Zeiss Jena, Wolfgang Biermann, einflussreiches Mitglied im ZK der SED. Eine wirkliche Auseinandersetzung im Verein mit der DDR-Vergangenheit (SED, Stasiverwicklungen, Unterdrückung Andersdenkender) fand in Jena bisher nicht statt. Ehrenhalber muss man aber sagen: bei den anderen ehemaligen DDR-Clubs ebenso nicht.
Die Jenaer Fankurve will Mehrwert mit sozialem Gemeinsinn schaffen. Der FCC soll ein Club für alle sein (arm, reich, queer, hetero). Gegenwärtig werden die Jenaer Ultras und aktiven Fans vom Normalfan mitunter als abgehoben, politisch linkslastig und auf sich fokussiert wahrgenommen. Ein Schulterschluss wie in Magdeburg ist in weiter Ferne, aber auch kein Muss.
Der GmbH-Geschäftsführer ist gegenwärtig stark in Sachen Fanbelange unterwegs und wehrt sich gerichtlich gegen das Abwälzen von Verbandsstrafen beispielsweise wegen Pyrotechnik auf die klamme Clubkasse. Lars Eberlein, der treibende Mann in der Stadiongesellschaft, ist die wichtigste Figur im Spiel um die neue Rolle des FCC. Auffällig sind die Besucherzahlen an den Wochenenden, wenn zahlreiche Jenaerinnen den Fortschritt beim Stadionneubau persönlich bestaunen. Die Stadtspitze zeigt sich ebenfalls begeistert, auch wenn im wissenschaftlich und intellektuell geprägten Jena nicht jeder den Fußballquatsch gut findet. Jena ist keine Stadt, die mit Zeche und Automobilwerken punkten kann.
Der Club baut ein neues Stadion nicht ohne Ambitionen. Er ist noch nicht oft Talk of the Town, wie etwa der 1. FC Magdeburg. Man lebt etwas frustriert mit der großen DDR-Vergangenheit des Vereins, ohne die DDR zu verklären. Der Verein hat in gesellschaftlichen und sportpolitischen Fragen eine Haltung. Der FCC ist ein Patient, aber nicht ohne Hoffnung.
Leipziger Erfolg dank Red-Bull-Geldregen
Dass viel Geld viel Erfolg bringen kann, bewies RB Leipzig in den dreizehn Jahren seit seiner Gründung nachhaltig. Im Schnelldurchlauf rauschte RB von der Oberliga Nordost-Süd innerhalb von sieben Jahren in die 1. Bundesliga, wurde dort bereits im ersten Jahr Vizemeister und spielte im folgenden Jahr in der Champions League mit. Rasenball ist in der 1. Bundesliga etabliert, obwohl Verein und Fans als Parias behandelt werden. Das ist schon ein wenig kurios, wenn man sich anschaut, wie wenige Clubs 2022 noch real existierende, eingetragene Vereine sind.
Rasenball Leipzig ist weit von diesem Wurmfortsatz an Demokratie entfernt. Rasenball darf sich e.V. nennen, aber Ende 2021 wurde bekannt, dass der e.V. nur über 21 Mitglieder verfügt, die alle im Sinne des Konzerns entscheiden.
Der kalte Gegenwind seitens der RB-Funktionäre wehte sämtlichen Versuchen junger Menschen entgegen, die versuchten, die Ultrakultur bei RB zu etablieren. Bis zu Coronabeginn hielt sich neun Jahre die progressive und linksorientierte Ultragruppe Red Aces im RB-Fanblock, die man als Enklave des klaren Denkens bezeichnen konnte. Hier ihr resignativer Abschiedsbrief:
„Liebe Weggefährt*innen, 9 Jahre Utopie. 9 Jahre im Wandel. Gegen Widerstände gekämpft, sie ausgehalten, manchmal gewonnen, noch häufiger verloren. Stets auf der Suche nach einem Platz für unsere Ideale. Dieser Weg nimmt nun ein Ende. Nach den Sternen gegriffen, sie gesehen, aber nie erreicht. Red Aces Leipzig, März 2020“.
Das Stimmungsloch versucht Zone147 zu füllen. Die Ultra-Gruppe ist nicht politisch aktiv und hat sehr junge Mitglieder, die gerade die zwanzig überschritten haben. Viele von ihnen kommen aus dem Leipziger Gürtel. Insgesamt kommt die große Masse der Durchschnittsfans aus dem Umland, das bei RB bis nach Thüringen und Sachsen-Anhalt reicht. In Sachen Wirkmächtigkeit ist RB im Süden der ehemaligen DDR weit verbreitet. Für die neue Saison erzielte RB einen Dauerkartenrekord. 32.000 Menschen wollen alle RB-Heimspiele sehen. Das ist eine Größenordnung, von der andere von Großkonzernen gepamperte Erstligaclubs wie der VfL Wolfsburg (VW), Bayer Leverkusen (Bayer) oder die TSG Hoffenheim (SAP) nur träumen können.
Rasenball verfügt über keine belastende DDR-Vergangenheit, der Club ist ein Tochterunternehmen einer weltweit agierenden, erfolgreichen Marke. Was zählt, ist der Erfolg, kritische Neider werden niedergebrüllt, der Kapitalismus hat gesiegt, der Spitzenfußball ist das Geschenk, die Sportstadt Leipzig atmet auf, die Konsumentengesellschaft hat das Gefühl, im Konzert der großen Bundesligaclubs eine Stimme zu haben. Nicht zu vergessen das Provokationspotenzial: Welcher Ossi möchte es nicht dem vermeintlich reichen und ewig bevorteilten Westen zeigen?
Neben den Ultras gibt es den kritischen Fandachverband der Rasenballisten. Wertekonsens linksgeprägt. Aufmerksame Leser erkennen sofort: Hier geht es nicht um Redbullisten, sondern um Rasenballisten, die sich nicht dem Konzern, sondern der Stadt Leipzig verbunden fühlen.
Diese Saison sollten Fans bestimmte Flächen im Stadion gestalten. Bedingung: RB segnet alles ab. Ein Jahr lang durften Vorschläge eingereicht werden. Seit Januar liegen die Vorschläge beim RB-Geschäftsführer. Die Fans wollen in großen Lettern RASENBALLSPORT LEIPZIG an ihren gestalteten Wänden haben. Bisher blockiert aber RB den eigenen Vereinsnamen.
Alle Kurvenfans sehen sich als Rasenballisten, alle Gesänge umschmeicheln Rasenball und nicht Red Bull, nur in einem Lied kommt Red Bull vor, wo es harmlos lautet: „Red Bull mit Cola, Red Bull mit Vodka, Red Bull für uns und ganz Europa! Wir sind die Roten, wir sind die Weißen, wir sind diejenige, die RasenBallsport heißen!“
Der wichtigste Identifikationsanker ist für Rasenballisten der Geist des alten Leipziger Zentralstadions, auf dessen Fundamenten das aktuelle RB-Stadion fußt. Red Bull ist für sie nur ein Sponsor, der schon morgen anders heißen kann. Die Eintrittspreise sind bei RB im Bundesligadurchschnitt moderat und liegen unter denen des 1. FC Union Berlin. Die Politik liebt RB, der Bürgermeister meinte jüngst, dass RB ein Glücksfall für Leipzig sei.
Drei verschiedene ostdeutsche Vereine gehen drei verschiedene Wege. Alle drei erfreuen sich in ihrer jeweiligen Region großer Beliebtheit. Sie geben den Menschen Glück, sie definieren sich ein Stück weit über ihren Fußballclub. Die Mehrheit der Fans sind Konsumenten mit Vereinsschal im Schrank, die sich unterhalten lassen wollen. Ultras sind sieben Tage in der Woche jeweils vierundzwanzig Stunden Fans ihres Clubs. Ultra ist unterschiedlich, hier zivilgesellschaftliches Engagement, dort Gewalt und Hassrede. Die stark geschrumpften Gruppen rechtsaffiner Hooligans, die 1990 die Stadien der ehemaligen DDR unsicher machten, sind eine in die Jahre gekommene Minderheit. Die DDR-Historie interessiert 2022, wenn überhaupt, nur am Rande. Eine kleine Gruppe Ostalgiker mag der DDR hinterhertrauern, die große Masse ist auch fußballerisch im Hier und Jetzt verankert.
Frank Willmann,
Schriftsteller, Mitglied der Akademie für Fußballkultur und Herausgeber der Bibliothek des Deutschen Fußball, 2021: Ich bin Trainer, kein Diplomat!, mit Anne Hahn: Vereint im Stolz. Fußball, Nation und Identität im postjugoslawischen Raum, 2022: negativ-dekadent - Punk in der DDR.