Almut Undisz
„Grenzpfahl, Deich, dahinter der Fluss. Zollbrücke im Oderbruch. Am Rand steht ein Theater. Gleich am Ortseingangsschild, im hundertjährigen Fachwerkhaus. 55 Plätze, ein roter Vorhang, aufsteigende Ränge. Die Landschaft diktiert die Regeln. Einfachheit, Professionalität. Bodenständig erzählte Geschichten, handgemacht. Bühnenbretter biegen sich. Ein Ton wird zum Ereignis. Wind und Wetter spielen mit. Oder am Abend. Ein Ort zum Verweilen. Eintritt bei Austritt. Den Preis bestimmt der Zuschauer nach der Vorstellung. Entscheiden Sie selbst über den Wert von Kultur. Zahlen Sie, was wir brauchen...“
Mit dieser Einladung begann 1998 die Geschichte des Theaters am Rand. Gegründet in einem 19-Seelen-Dorf mit dem poetischen Namen Zollbrücke, einen Katzensprung vom deutsch-polnischen Grenzfluss Oder entfernt. Tobias Morgenstern, Musiker und Komponist, kam 1986 nach Zollbrücke. Auf der Suche nach einem stillen Ort zum Arbeiten verschlug es ihn ans östliche Ende der damaligen DDR. Im 100 Jahre alten Fachwerkhaus gab es weder Strom noch fließend Wasser. "Zollbrücke war damals ein Ort wie zur Kaiserzeit. Es gab Reitwege statt befestigter Straßen."
Das Zauberwort heißt Freiheit.
1996 begann die künstlerische Zusammenarbeit zwischen Tobias Morgenstern und dem Schauspieler Thomas Rühmann. Die Lust auf das gemeinsame Spiel und die Vision einer eigenen Bühne vereinte beide Künstler.
In Morgensterns Haus setzte ihnen vorerst nur die Natur Grenzen – und die unverrückbaren Außenwände des Hauses. Alle anderen wurden mit den Jahren abgerissen, um mehr Platz für Zuschauer zu schaffen.
Das Theater wuchs mit seiner Akzeptanz, mit dem Zustrom an Publikum. Waren es anfangs Freunde und deren Freunde, strömten wenig später Leute aus der Region – oftmals waren es vorerst die zugezogenen, theateraffinen Stadtflüchtenden –, zunehmend aber auch Menschen aus Berlin und anderen Städten nach Zollbrücke. Zur gleichen Zeit eröffneten in der Nachbarschaft ein Gasthaus am Damm und ein Ziegenhof. Ein Theatergänger war potenzieller Mittagsgast und Ziegenkäsekäufer. Auch die Pensionen der Gegend profitierten von Anfang an von den Gästen, die nach der Vorstellung nicht zurückfahren wollten. Ein Netzwerk der Gegenseitigkeit wurde gewebt. Der Ort prosperierte, wurde zum Geheimtipp.
Auch später, als das Haus aus allen Nähten platzte und im Sommer bereits ständig auf der Wiese gespielt wurde, war das Motto: "Selber anpacken und nicht auf die Politik warten"! Die war gefragt, als es darum ging, den ungewöhnlichen Theaterbau nach Modellen von Tobias Morgenstern, ganz aus Holz und mit Platz für 200 Zuschauer, zu genehmigen. Es gab kurze Wege, das persönliche Gespräch, einen Landrat mit Rückgrat und findige Mitarbeiter im Bauamt, die wohlwollend ihre Spielräume zu nutzen verstanden.
„Wenn eine Idee, eine Vision, stark genug ist, wenn sie einem tiefen inneren Bedürfnis folgt, regelt sich alles andere“, sagte Tobias Morgenstern und baute den Raum. „Es geht um die Entdeckung eines selbsterfundenen, selbstbestimmten mythischen Raums. Die künstlerische Möglichkeit, tiefer zu loten und Menschen in Geschichten zu ziehen, die sich abseits, am Rande, bewegen. In den glanzvollen Momenten gelingt es, Leben zu erzählen“, sagte Thomas Rühmann und füllte Morgensterns Raum mit Geschichten. Ein Glücksfall war sicherlich, dass beide Künstler mit dem Theater nicht ihr Brot verdienen mussten. So konnten sie für das Theater leben; sie mussten sich nicht von ihm ernähren.
Das Prinzip war einfach: Indem die Gründer und künstlerischen Leiter, obgleich sie jährlich 80 bis 100 Vorstellungen im Theater am Rand spielten, auf sämtliche Honorare verzichteten, sicherten sie Erhalt und Wachstum des Unternehmens. Es brauchte viel Enthusiasmus, Spiellust, kreatives Überschäumen und eine gehörige Portion Wahnsinn, um eine derartige Selbstausbeutung rechtfertigen zu können.
Man kann das eine Weile machen, aber es ist kein empfehlenswertes Konzept über Jahre. Kritisch wird es, wenn es um die Nachfolge geht. Ein solches Konzept ist nicht übertragbar. Um das Theater übergabefähig zu machen, müssen seit einigen Jahren neue Finanzierungsmöglichkeiten gefunden und neue Nutzungen etabliert werden. Die größte Aufgabe der kommenden Jahre wird ein Generationswechsel sein. Es müssen vor allem Künstler gefunden werden, die sich ein Leben auf dem Land vorstellen können und dem Zauber der untergehenden Sonne im Bühnenhintergrund mehr Wert beimessen als dem Saldo des Lohnscheines. Und doch – eine neue künstlerische Generation braucht Bedingungen, die einladend wirken, die Sicherheiten bieten, die kreatives Schaffen befeuern und nicht bremsen. Finden sie dies nicht vor, werden sie eigene Wege einschlagen.
Seit Anbeginn leistet sich das Theater ein solidarisches Eintrittsmodell, das Arm und Reich auf einer Bank nebeneinandersitzen lässt. Nach vielen Jahren, in denen allein die Zuschauer über den Wert des eben Dargebotenen zu entscheiden angehalten waren, wird nun ein empfohlener Austrittspreis benannt, den zu über- oder unterschreiten jedem Gast freisteht. So werden die Menschen verantwortlich für den Fortbestand des Hauses. Es entsteht eine Beziehung des Publikums zum Theater und ein Nachdenken über den Wert von Kultur.
Immer in Relation zum eigenen finanziellen Vermögen.
Neben der allabendlichen Rede an das Theatervolk, die Kassen reichlich zu füllen, spielen in den letzten Jahren zunehmend Fördermittel eine Rolle für die Finanzierung des Hauses. Der Landkreis und die Kommune engagieren sich, fördern Konzertreihen und sichern die Kofinanzierung der Landesmittel ab. Bisher gibt es noch keine strukturelle Förderung, die Unterstützung ist auf einzelne Projekte bzw. Inszenierungen begrenzt.
Das kulturelle Angebot des Theaters ist breit. Gezeigt wurde und wird erzählendes Theater – eine Spielform, die dieses zur Abwechslung einmal vom Kopf auf den Bauch stellt. Gefühlvoll und sinnlich werden mit anschaulich und alltagsnah einleuchtende Geschichten und exemplarische Einzelfälle erzählt – und sich so grundsätzlich am Beispiel orientiert, nicht an der Theorie. Neben dem Repertoire – meist dramatisierte Romane –, Konzerten und Gastspielen nennt sich ein wichtiges Veranstaltungsformat „Randthemen“. Hier geht es um Themen wie Windenergie, Hochwasserschutz, Amaranth-Anbau, Landwirtschaft ohne Gentechnik, Glyphosat, um Gemeinwohlökonomie und bedingungsloses Grundeinkommen. Die Referate und Diskussionsrunden mit hochkarätigen Vortragenden werden immer ergänzt um künstlerische Kommentare; Tobias Morgenstern komponierte beispielsweise die Lebensmittelsonatine, die Scheißkantate, die Börsensonette oder den Biberlieder-Zyklus. Gerade diese Veranstaltungen sorgten für Publikum aus der direkten Umgebung. Hier kamen auch Menschen, die sich vom Theaterprogramm sonst nicht eingeladen fühlen. Gemeinsam mit dem Büro für Landschaftskommunikation und später auch dem Oderbruchmuseum Altranft entstanden Präsentationen zu regionalen Themen, erarbeitet mit Studierenden, und drei Theaterstücke zu regionalen Fragestellungen.
Seit diesem Jahr gehen die Randthemen auf im künstlerisch-politischen Forum „Freies Wort – Freie Musik“. Dieses verknüpft Interviews mit Experten zu aktuellen politischen Themen wie etwa die Grenzen des kapitalistischen Systems, den Zustand unserer Demokratie oder die Erhaltung der Meinungsfreiheit, mit experimenteller Musik.
Getragen wird das Theater von einem gut eingespielten Team, sieben Angestellte und zahlreiche freie Mitarbeiter umfassend. Annähernd 100 freie Künstler und Künstlerinnen bestreiten gemeinsam mit den künstlerischen Leitern Tobias Morgenstern und Thomas Rühmann ca. 180 Vorstellungen im Jahr, die von 20.000 Zuschauern besucht werden. Die Gastronomiebetriebe – eine davon, die „Randwirtschaft“ genannte Theaterklause – Pension, Eisladen und Ziegenhof bilden ein attraktives Ausflugsziel.
Aus dem Geheimtipp ist ein bekannter touristischer Ort mit allen Herausforderungen geworden, die mit dem Erfolg einhergehen: Der Parkplatz ist zu klein und die Dorfbewohner fühlen sich gestört angesichts der Menschenfluten an den Sommerwochenenden. Ob sich die Lage entzerrt oder verschärft mit einem weiteren touristischen Anziehungspunkt, der neu eröffneten Europabrücke über die Oder etwas nördlich von Zollbrücke, wird sich zeigen.
Inzwischen ist über den Verband der freien darstellenden Künste die Verbindung des Theaters mit zahlreichen anderen freien Theatern und Projekten eine hilfreiche Achse für Informationen und künstlerischen Austausch geworden. Der Kontakt zum zuständigen Ministerium auf Landesebene ist gerade in den letzten beiden Jahren gewachsen und ermöglicht einen offenen Austausch über die Bedürfnisse und Gemengelagen im Theater am Rand.
Komplexer geworden sind die Anforderungen an Werbung und Marketing. Gelang es jahrelang mittels Mundpropaganda und einer einfachen Website, den kleinen Raum im alten Fachwerkhaus zu füllen, so ist dies schon lange nicht mehr ausreichend, um Woche für Woche mehrere hundert Zuschauer und Zuschauerinnen zu bewegen, von teilweise weit her aufs platte Land zu fahren. Wie erreichen wir Menschen aus einem sehr weiten Einzugsgebiet, aus der Umgebung ebenso wie aus der Berliner Szene, Menschen, die uns seit Jahren verbunden sind ebenso wie neue, junge Leute? Wie bewerben wir täglich wechselnde Vorstellungen und Konzerte, die zwar immer etwas Besonderes sind, aber nicht zwangsläufig den Mainstream treffen? Mit Plakaten auf den umliegenden Dorfangern ist es da ebenso wenig getan wie mit gelegentlichen E-Mails an den festen Besucherstamm. Mithilfe einer Förderung des Europäischen Sozialfonds haben wir ein differenziertes Marketingkonzept entwickelt: neue Website, Präsenz in verschiedenen sozialen Medien, kontinuierliche Pressearbeit, überarbeitete Drucksachen.
Die Zukunft: Visionen gab es im Theater immer wieder.
Ein Landschaftshaus wurde geplant, mit Büro, Seminarräumen und Gästezimmern. Allein: Die 2 Millionen Euro müssen sich noch finden, um es Realität werden zu lassen. Vielleicht sind ein paar Tiny-Häuser auf der Wiese ein erster bewältigbarer Schritt. Die vor 15 Jahren noch wenig bekannten Trockentrenntoiletten waren Anlass, über die Herstellung von Terra preta nachzudenken. Ein Bauernhof in der Nachbarschaft konnte an interessierte Ökolandbaustudenten vermittelt werden, mit genügend Platz für ein Vererdungsbecken. Der Oderbus wurde erfunden, eine touristische Wochenend-Linie, die die Bahnhöfe der am Rand des Oderbruchs gelegenen Städte Wriezen und Bad Freienwalde mit dem Umland, auch mit dem Theater am Rand verbindet. Inzwischen ist die Linie im ÖPNV-Grundangebot.
Die wichtigste Vision ist jedoch jene für die Entwicklung und das Weiterwirken des Theaters, das Finden neuer, jüngerer, ambitionierter Künstler und Künstlerinnen, die diese Aufgabe in die Hände nehmen, eigene Visionen formulieren und neue Wege gehen.
Almut Undisz,
geb. 1968, Geschäftsführerin und gemeinsam mit Tobias Morgenstern und Thomas Rühmann künstlerische Leiterin des Theaters am Rand. Kernanliegen ist die Erhaltung des künstlerischen, solidarischen und ökologischen Konzepts im Spannungsfeld von Freiheit, Kreativität und Abhängigkeit.