Katharina Warda
In den Tagen zwischen dem 22. und 26.August.1992 fanden die wahrscheinlich schwersten rassistischen Übergriffe in Deutschland seit 1945 statt.
Dabei attackierten hunderte Rechtsradikale, zum Teil aus anderen Teilen der Republik angereist, unter dem Applaus von bis zu 3.000 Schaulustigen über fünf Tage das „Sonnenblumenhaus“ in Rostock-Lichtenhagen. In dem Plattenbau befanden sich die Herberge der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZAst) und die Wohnungen von etwa hundert Vietnamesen und Vietnamesinnen – ehemalige DDR-Vertragsarbeiter und ihre Kinder.
Das passierte nicht schlagartig. Bereits Wochen vorher hatte sich die Stimmung rund um die überfüllte ZAst aufgeheizt. Asylsuchende waren aufgenommen, aber nicht auf andere Orte umverteilt worden. Deshalb waren die Zustände, in denen viele Roma, Rumänen und Rumäninnen leben mussten, inhuman. Sie waren ohne Obdach, Kochmöglichkeiten und sanitäre Anlagen. Sie traf die Wut der Anwohnerinnen und Anwohner zuerst. Die rechtsextreme Kleinstpartei „Hamburger Liste für Ausländerstopp“ verteilte asylfeindliche Flugblätter. Die lokalen Medien veröffentlichten Gewaltandrohungen von Bürgern und Bürgerinnen, in denen der Samstag, 22.08.1992, explizit genannt wurde. Dieser Zorn wurde nachträglich immer wieder damit begründet, dass die Verhältnisse in Rostock eine Zumutung gewesen seien. Er ist jedoch ohne die rassistisch aufgeladene Grundstimmung der Zeit nicht zu erklären.
In den frühen 1990er Jahren dominierten Debatten um die Einschränkung des Asylgesetzes und die „Ausländerfrage“ die Öffentlichkeit. Politik und Medien verbreiteten eine „Das Boot ist voll“-Rhetorik. „Die Flut steigt – wann sinkt das Boot?“ oder „Fast jede Minute ein neuer Asylant" – so lauteten Schlagzeilen der BILD-Zeitung. Auch Politiker und Politikerinnen machten Stimmung gegen Asylsuchende und suggerierten, mit der Einschränkung des Asylrechts und der Abschiebung von Ausländern ließen sich die aktuellen Probleme in den Griff bekommen. Diese rassistischen Ausländer- und Asyldiskurse trafen in Ostdeutschland der frühen 1990er auf Transformation und Chaos, auf einen erstarkenden Nationalismus und auf chauvinistische bis rassistische Muster der ehemaligen DDR-Gesellschaft. Sie trafen auch auf die Massenarbeitslosigkeit, die bereits 1990 die anfängliche Wende-Euphorie ablöste und bei vielen in Frust und Aggression umschlug. Auf diese Weise entstand eine explosive Mischung, die sich nicht nur gegen Asylsuchende richtete, sondern gegen alle, die als Ausländer oder Migranten betrachtet wurden.
So verhieß die Nacht der Wiedervereinigung vom 2. auf den 3. Oktober 1990 bereits nichts Gutes. Mehr als dreißig rechte, teils pogromartige Ausschreitungen in Deutschland, vor allem in den Gebieten der ehemaligen DDR, zählte das Online-Projekt „zweiteroktober90“. Die zum Teil massive rassistische Gewalt richtete sich vor allem gegen ehemalige Vertragsarbeiter und Vertragsarbeiterinnen. Die Gewalt der Nacht der Staatsgründung setzte sich in den folgenden Jahren fort, in den frühen 1990ern gab es bereits dreißig Mordopfer rechter Gewalt.
Am 22.08.1992 eskalierte die Gewalt im Pogrom von Rostock-Lichtenhagen. Zwei Tage später brannte das Sonnenblumenhaus. Obwohl massive Ausschreitungen zu erwarten gewesen waren (wenn auch nicht in diesem Ausmaß), war die Polizei in den fünf Tagen zu wenig und teilweise gar nicht präsent. So entstand ein Klima, in dem die Anschlagsopfer der Gewalt nahezu schutzlos ausgeliefert waren. Nur aufgrund ihres eigenen Handelns und durch reines Glück gab es in der Nacht keine Toten. Den Aussagen von Betroffenen zufolge organisierten sich die Vietnamesen und Vietnamesinnen in dem attackierten Haus selbst, sie brachen die versperrten Notausgänge auf und flüchteten über das Dach in das Nachbarhaus. Die Einzigen, die außerhalb des Hauses Widerstand leisteten und sich mit den Angegriffenen solidarisch zeigten, waren kleine Gruppen linker Aktivisten, von denen aber viele vor Ort verhaftet wurden. Am 24.08. löschte die Feuerwehr das brennende Haus und die Anschlagsopfer wurden aus der Stadt gebracht. Viele von ihnen wurden später ausgewiesen.
Erst am 26.08. bekam die Polizei unter Einsatz von Wasserwerfern und Tränengas die Situation allmählich unter Kontrolle. Die Täter und Schaulustigen zogen ab, die Medien verließen Rostock wieder. Was blieb, war ein fatales Signal, wie man im frisch wiedervereinigten Deutschland mit rechter Gewalt umging: Die Täter wurden auch im Nachgang kaum strafrechtlich belangt. Die Opfer wurden alleingelassen – auch als es um Leben und Tod ging. Um den Konflikt zu lösen, wurden sie aus der Stadt gebracht, als seien sie die eigentlichen Aggressoren. Die Polizei mischte sich kaum ein. Und wer damit nicht einverstanden war, wurde anstelle der Täter verhaftet. Damit wurde Lichtenhagen nicht nur zu einer Zäsur der Gewalt, sondern auch zu einem Symbol dafür, wie ihr fortan begegnet wurde.
Kein Wunder: In den folgenden Wochen und Monaten wuchs die sowieso schon starke rechte und rassistische Gewalt der Zeit noch einmal massiv an. Überall in der Bundesrepublik, vor allem aber in den Gebieten der ehemaligen DDR, wurden Menschen aus rassistischen Gründen angegriffen, Häuser attackiert und Brandanschläge verübt. Aber auch politisch und medial zeigte Lichtenhagen seine Wirkung. Nach dem Pogrom verurteilte BILD mit Schlagzeilen wie „Ihr solltet euch schämen“ nicht etwa die Täter und Täterinnen, sondern Politiker und Politikerinnen, die sich gegen die Einschränkungen des Asylrechts stellten. Wenige Wochen später wurde der „Asylkompromiss“ geschlossen. Im Jahr 1993 trat das Gesetz in Kraft – eine empfundene Niederlage für viele humanitär denkende Menschen in dieser Zeit.
Genau 30 Jahre später ist es Zeit, Lehren aus den Vorfällen zu ziehen. Umso wichtiger, dass sich Gesellschaft und Medien zum 30. Jahrestag kritisch und differenziert mit den Ereignissen auseinandergesetzt haben. Bis dahin war es ein langer Weg, der ohne zivilgesellschaftliches Engagement nicht möglich gewesen wäre. Für viele zivilgesellschaftliche Akteure war Lichtenhagen ein Weckruf. Nicht nur die Gewalt wuchs, auch die Gegenwehr und das Ringen um humanitäre Diskurse erstarkten. In Rostock selbst brachten sich Aktivisten und Aktivistinnen verstärkt in die Stadtgesellschaft ein und kooperierten dabei eng mit den zum Teil zurückgekehrten Anschlagsopfern, die den Verein Diên Hông – Gemeinsam unter einem Dach e.V als Gedächtnis- und Begegnungsstätte aufgebaut hatten. Auch der Rostocker Migrantenrat gründete sich 1992 und vertritt bis heute Anliegen von Migranten und Migrantinnen auf kommunaler Ebene. Zeitzeugen und -zeuginnen wie Nguyen Do Thinh, ein Überlebender aus dem Haus, und Mai-Phuong Kollath leisten bis heute unermüdliche Erinnerungsarbeit aus der Betroffenenperspektive.
Auf Drängen zivilgesellschaftlicher Akteure, vor allem von Zeitzeuginnen und -zeugen der antifaschistischen Gegenwehr des Pogroms, entstand im Jahr 1993 der britisch-deutsche Dokumentarfilm „The truth lies in Rostock“ („Die Wahrheit lügt (liegt) in Rostock“). Dieser Film hielt die Erinnerung an die Ereignisse wach. Die Filmpremiere fand im Rostocker Rathaus statt – ein klares Zeichen für Aufarbeitung und Erinnerungsarbeit. Seit 2015 fördert die Hansestadt Rostock den Aufbau des Dokumentationszentrums „Lichtenhagen im Gedächtnis“, das aktive Erinnerungsarbeit leisten soll. Dieses Engagement – auch außerhalb Rostocks –trägt heute Früchte. Rostock-Lichtenhagen ist nicht in Vergessenheit geraten. Heute profitiert die Stadt davon: Anders als in vielen anderen Regionen in Ost und West spielen rechte Parteien und Akteure dort keine große Rolle mehr.
In den 1990er Jahren entstand das Bild des „braunen Ostens“. Dieses Bild ist mit Blick auf die rechte Gewalt in den Neunzigern berechtigt. Einerseits. Andererseits ist der „braune Osten“ aber auch eine westdeutsch geprägte Projektion, die rechte Gewalt ausschließlich in den Osten verschiebt und Ausschreitungen und rassistische Morde wie in Solingen und Mölln vergessen macht. Zudem wird die Metapher vornehmlich dort verwendet, wo der Westen dem Osten gegenüber moralisch überlegen dastehen kann, anstatt dezidiert rechte Gewalt im Osten zu erkennen und produktiv anzugehen. Diese Problemverschiebung und Herabsetzung löst keine Probleme.
Aber auch die Auseinandersetzung im Osten mit dem Bild des “braunen Ostens” sorgt für Verdrängung. Anstelle einer ernsthaften Problematisierung rechter Gewalt und aktiver Lösungen trifft der Diskurs zu oft auf gekränkte Gemüter. Statt Lösungen dominieren Relativierungen (“Im Westen gibt es das auch“) und Versuche der Imagepflege von Städten und Kommunen den Diskurs. Es handelt sich um eine Art Rassismus-Pingpong. Darunter leiden vor allem die Betroffenen rechter Gewalt selbst– in Ost- und Westdeutschland.
Gerade auch im Osten arbeitet die engagierte Zivilgesellschaft häufig unter erschwerten Bedingungen. Beispielsweise werden diejenigen, die das Problem rechter Gewalt offen ansprechen, nicht selten selbst zum Problem stilisiert. Dabei lässt sich gerade an der Aufarbeitung des Pogroms in Lichtenhagen ablesen, wie wichtig und fruchtbar es ist, die Probleme zu benennen und zu bearbeiten.
Diese Lektion ist bis heute aktuell: Wir müssen aus den dichotomen Erzählungen und Diskursen über den Osten ausbrechen. „Der Osten“ ist nicht nur gut oder nur schlecht, braun oder nur bunt, rück- oder nur fortschrittlich. Der Osten Deutschlands ist ein vielfältiger Raum mit einer komplexen Geschichte. Eine klare öffentliche Problematisierung rechter Gewalt ist dabei keine Nestbeschmutzung, sondern die Voraussetzung für eine souveräne Aufarbeitung und mögliche Lösungswege. Diesen produktiven Weg im Umgang mit Rassismus und rechter Gewalt sollte der Osten, aber auch ganz Deutschland gehen.
Katharina Warda,
geb. 1985 in Wernigerode, Soziologin und freie Autorin mit den Themen Ostdeutschland, marginalisierte Identitäten, Rassismus, Klassismus und Punk. Sie ist sie zudem aktiv in verschiedenen Projekten, auch basierend auf ihren eigenen Erfahrungen als Schwarze ostdeutsche Frau.