Nina Mercedes Kummer
Hauptsache weg.
In meiner Schulzeit konnten meine Mitschülerinnen und Mitschüler es kaum erwarten, ihren Abschluss zu machen, um Chemnitz endlich verlassen zu können.
Sie wollten nach Leipzig ziehen, nach Dresden, nach Berlin, vielleicht sogar ganz weit weg ins Ausland. Hauptsache raus aus Chemnitz, dieser Drecksstadt, in der es nichts gibt außer alte Menschen, Nazis, Apotheken und Lärmbeschwerden.
Für mich kam das nicht in Frage, weil ich mir hier bereits Strukturen aufgebaut hatte, die ich so schnell in einer anderen Stadt nicht wiederbekommen würde. Ich hatte gerade die ersten Auftritte mit meiner Band, einen Proberaum bezogen und Studiotermine für unsere CD vereinbart – in Chemnitz natürlich. Meiner Heimatstadt jetzt den Rücken zu kehren, wäre bescheuert gewesen.
Meine Mitschülerinnen und Mitschüler schimpften über Chemnitz. Ich habe das verstanden und wollte eigentlich mitschimpfen. Gründe gab es ja genug. Ich hatte mir aber vorgenommen, meine Zukunft in Chemnitz zu gestalten, deshalb konnte ich nicht mitschimpfen. Ich hielt aus Trotz die Fahne hoch für „meine“ Stadt. Ich tat so, als wären die anderen langweilige Leute, die mit der Masse schwimmen, während ich als eine der wenigen in meinem Alter checkte, wie cool Chemnitz ist. Ich wollte der lässige Underdog sein und versuchte den Gedanken zu verdrängen, dass ich in dieser hässlichen, grauen Stadt auf ewig versacken könnte.
Dann machte ich Abitur. Viele gingen und ich blieb. Die, die gingen, wollten endlich in einer coolen Stadt wohnen, einer instagramtauglichen Metropole, in der man zu Starbucks Kaffee trinken gehen kann und in der man sich nicht ständig für alles schämen muss. Ich hatte immer Verständnis dafür. Ich wusste, dass in Chemnitz zu leben, immer anstrengend sein würde.
„Wir sind Blond, und wir kommen aus Chemnitz.“
Zum Shoppen muss ich immer nach Leipzig fahren. Sehe ich mir Postings von Weggezogenen im Internet über die Wahlergebnisse aus Chemnitz an, heißt es: „Gut, dass ich mit dieser Nazi-Stadt nichts mehr zu tun habe.“ Sie können nicht ahnen, dass nicht alles hier doof ist. In Chemnitz hatten wir alles, was man als junge Band brauchte. Der oft beklagte Leerstand in ostdeutschen Kommunen bescherte uns Proberäume und günstige Mieten. Die verbliebene Kreativ-Szene war gut vernetzt und unterstützte sich gegenseitig. In unserem Umfeld fanden sich Menschen, die unsere Musikvideos drehten, Kulissen bastelten oder Fotos schossen. Wir fanden schnell Bühnen, auf denen wir auftreten konnten.
Irgendwann interessierte es auch Leute aus anderen Städten, was wir so trieben. Während Chemnitz immer wieder mit Nazi-Themen in den Medien landete, tourten wir durch Deutschland und wuchsen als Band.
Jeden Abend betraten wir die Bühne mit den Worten „Wir sind Blond, und wir kommen aus Chemnitz“. Leute klatschten, manchmal buhten sie.
In Interviews mussten wir immer wieder erklären, weshalb wir noch in Chemnitz leben, wir würden mehr nach Berlin klingen und aussehen. Zunächst klang das wie ein großes Lob. Super, man hört und sieht uns unsere üble Herkunft nicht an. Heute weiß ich, dass das, was die Leute an uns mögen, zum großen Teil etwas ist, was mit unserer Heimatstadt in Zusammenhang steht.
Das ist zum einen der DIY-Stil, den wir bedienen, weil keiner von uns das, was er macht, studiert hat. In Chemnitz gab es nie eine Kunsthochschule und die Stadt begriff sich immer als Arbeiterstadt. Zum anderen gibt es unsere politische Seite. Politisch „neutral“ zu sein kann man sich nur leisten, wenn man sich raushalten kann. In Chemnitz ist das nur schwer möglich.
Nazis waren immer Teil des Chemnitzer Stadtbilds.
Ich wurde früh politisiert. Nazis waren immer Teil des Stadtbilds und eine Sache, gegen die man kämpfen muss. Seit meiner frühen Jugend war ich regelmäßig auf Gegendemos, gegen NPD, Pro Chemnitz, die AfD, Cegida oder den Dritten Weg. Auf die Straße zu gehen, war ein fester Termin bei mir und meinen Freunden. Da standen wir, riefen „Nazis raus“ und kritisierten die Polizei, die entweder mit dem Rücken zu den Faschos stand oder uns brutal aus Sitzblockaden rausprügelte. Ich habe gecheckt, dass die Polizei völlig unverhältnismäßig gegen linke Demonstrantinnen und Demonstranten vorging, während „besorgte Bürger“ mit Samthandschuhen angefasst wurden.
Ich war dabei, als einem wehrlosen Jugendlichen während einer Cegida-Gegendemo von einem Polizisten in den Bauch geschlagen wurde. Von dieser Situation gibt es ein Video, das sich schnell im Internet verbreitete und eine Debatte über Polizeigewalt und rechte Strukturen bei der Polizei auslöste.
Später tauchte Chemnitz wieder in den Schlagzeilen auf. Die Nazi-Hipster-Bewegung „Rechtes Plenum“ wurde geoutet. Deren Mitglieder waren gerade dabei, einen Nazi-Kiez in dem Chemnitzer Stadtteil Sonnenberg aufzubauen.
Im August 2018 kam es am Rande des Chemnitzer Stadtfestes zu einer Auseinandersetzung, bei der ein Mann zu Tode kam. Rechtsextreme Gruppierungen instrumentalisierten den Mord. Sie riefen zu Demonstrationen auf und es kam zu Hetzjagden, bei denen Neonazis Menschen durch die Chemnitzer Innenstadt trieben, die „ausländisch“ aussahen. Der Hitlergruß wurde gezeigt, Menschen verprügelt und ein jüdisches Restaurant angegriffen. Tags darauf gab es wieder eine rechte Demo, zu der Nazis aus ganz Deutschland, Polen und Tschechien anreisten. Die sächsische Polizei unterschätzte wie so oft die Größe und Gewaltbereitschaft der rechten Szene. Die Gegendemo konnte nicht geschützt werden. Wieder kam es zu rechter Gewalt. Um ein Zeichen zu setzen, wurde als Reaktion auf die Geschehnisse unter dem Motto „Wir sind mehr“ ein Konzert gegen Rechtsextremismus organisiert. 65.000 Menschen besuchten diese Veranstaltung.
Chemnitz hat ein Problem mit rechten Strukturen, das wird so bleiben, wenn man nicht energisch dagegen vorgeht. Hin und wieder kommt dieses Problem ans Licht. Mal kurz drüber sprechen, reicht da nicht.
Wir wollten diesen Titel gewinnen, weil wir ihn bitter nötig haben.
2018 bewarb sich Chemnitz als Kulturhauptstadt und kam 2019 auf die Shortlist. Dresden flog raus und alle waren verwundert. Dresden hatte immerhin die Semper-Oper und ganz viel Hochkultur. Was hat Chemnitz?
Die Bewerbung bedeutete mir und meinem Umfeld viel. Es gab diese Hoffnung, endlich stolz auf Chemnitz sein zu können, die Hoffnung, ein anderes Bild der Stadt zeichnen zu können. Endlich einen Beweis, dass Chemnitz nicht ganz doof ist. Wir wollten diesen Titel nicht gewinnen, weil wir toll sind, sondern weil wir ihn bitter nötig haben. Menschen, die jahrelang, trotz aller Schwierigkeiten, für Kunst und Kultur viel auf die Beine gestellt haben, die brauchten dringend eine Ermutigung.
Ein wichtiger Bestandteil der Chemnitzer Bewerbung war es, Probleme zu benennen, Niedrigschwelligkeit zu gewährleisten, die Bevölkerung mit einzubeziehen und vor allem die sogenannte „stille Mitte“ zu erreichen. Dazu finden sich im Bewerbungsbuch zur Kulturhauptstadt auch Pläne für viele Projekte zum Rechtsextremismus-Problem und zur politischen Bildung. Außerdem ging es um pragmatische Macherinnen und Macher und um Autodidaktinnen und Autodidakten. Es wurden Blühwiesen gepflanzt, alte Straßenbahnen bemalt und Geld für kleinere Projekte vergeben. Es gab viele Aktionen, die den Bürgerinnen und Bürgern Kultur näherbrachten. So gab es beispielsweise eine Ausstellung im öffentlichen Raum mit Gegenwartskunst. Leute, die zur Arbeit oder zum Bäcker gingen, haben die Werke gesehen und mussten sich mit der Kunst auseinandersetzen. Viele haben die Exponate geliebt, manche haben sie gehasst. Das war gut, Hauptsache Auseinandersetzung. Besser heftige Reaktionen als Gleichgültigkeit. Ein Schweizer Künstler versenkte zur Hälfte ein Auto im Schlossteich, die vordere Seite ragte aus dem Wasser und nachts leuchteten die Scheinwerfer. Es wurde sowohl im Internet als auch auf der Brücke vor Ort darüber gestritten. Dort standen immer wieder Leute, die debattierten, ob das jetzt Kunst ist und was das soll.
Allmählich wurden die Bürgerinnen und Bürger warm mit der Bewerbung. Der Glaube daran, dass Chemnitz doch eine Chance haben könnte und das Bewusstsein, dass man in einer vielleicht gar nicht so uninteressanten Stadt wohnt, wuchs.
Mehr und mehr Menschen begriffen, dass Kultur nicht nur aus Hochkultur, Theater und Oper besteht, sondern auch aus Industrie-, Brauerei-, Lebens-, Sub-, Holschnitz- oder sogar Sportkultur. Der Titel wird selten an Städte vergeben, die fertig sind, sondern an Städte, in denen ein Potential schlummert.
Auf geht’s Chemnitz: kämpfen und siegen.
Weil ich es cool finde, bei etwas mitzufiebern, finde ich es toll, Fußballfan zu sein. Wären beim Chemnitzer Fußballclub nicht immer diese verflixten Nazis gewesen, hätte ich dort häufiger in der Fankurve gesessen. Zum Beispiel wurde im Stadion einer regionalen Nazi-Größe öffentlich gehuldigt, mit deren Hilfe der CFC seit der Wende unterwandert worden ist. Dann der ehemalige Mannschaftskapitän, der wegen seiner Nähe zu Rechtsextremen rausgeworfen wurde. Dazu die CFC-Fans und Hooligans mit ihren Runen-Tattoos und Fascho-Klamotten, die unter anderem bei den Demos 2018 präsent waren.
Ich konnte es also nie mit mir vereinbaren, Fan vom CFC zu sein.
Als es dann um den Titel zur europäischen Kulturhauptstadt 2025 ging, konnte ich das erste Mal in meinem Leben für etwas mitfiebern: meine Stadt. Ich wurde zum Kulturhauptstadt-Ultra.
Am 28.10.2020 gewann Chemnitz tatsächlich den Titel. Niemand hat sich das vorstellen können, aber es hätte sich auch niemand vorstellen wollen, dass es nicht klappt.
Ich habe die romantische Vorstellung, dass Kunst und Kultur einem Abdriften der gesellschaftlichen Mitte nach rechts entgegenwirken können, sie wieder mehr für Demokratie, Kultur und Europa begeistern können. Ein großer Vorteil des Kulturhauptstadt-Titels ist es, dass eine finanzielle Kürzung im Kultur- und Sozialbereich nun schwer vermittelbar wäre. Normalerweise wird da immer zuerst gestrichen. Aber jetzt muss die Kultur erstmal eine Weile nicht betteln und bangen.
Wir liefen nach der Verkündung am Abend durch die Straßen und schrien: „Ku-Ha, auf geht’s Chemnitz: kämpfen und siegen.“ Die meisten haben schon geschlafen, außer uns war kein Mensch unterwegs. Wir landeten auf einer Home-Party, bei der Chemnitzer Clubbetreiberinnen und Clubbetreiber, Künstlerinnen und Künstler, Studierende, Musikerinnen und Musiker und DJs feierten. Alle die Menschen, die sich immer wieder engagiert hatten, bekamen nun endlich eine Ermutigung, eine Bestätigung. In Chemnitz kann die Zukunft noch gestaltet werden. Die hier weit verbreiteten Minderwertigkeitskomplexe und demokratischen Defizite müssen nicht ewig Bestand haben.
Nina Mercedes Kummer,
geb. 1997 in Chemnitz, selbstständig tätig als Musikerin, unter anderem bei der Band "Blond". Texterin und bildende Künstlerin. Sie ist im Osten aufgewachsen, stammt aus einer Künstlerfamilie und lebt in Chemnitz.