Marco Buch
Schon Bertolt Brecht war in die kleine brandenburgische Stadt Buckow verliebt. Die „Perle der Märkischen Schweiz“ liegt inmitten eines Naturparks vor den Toren Berlins, umgeben von fünf Seen und malerischen Hügeln.
Der Dichter hatte hier von 1952 bis zu seinem Tod im Jahr 1956 sein Sommerhaus. In seinen Werken schwärmte er oft von Buckow, unter anderem in der Gedichtesammlung „Buckower Elegien“. Auch mehr als 60 Jahre später besitzt der Ort für viele Menschen eine enorme Anziehungskraft. An Sommerwochenenden platzt Buckow aus allen Nähten, wenn Ausflügler und Ferienhausbesitzer die Kleinstadt bevölkern. Zudem sind in den vergangenen Jahren viele Menschen ganz nach Buckow gezogen oder dorthin zurückgekehrt. Mittlerweile sind rund 60 Prozent der Einwohner Zugezogene – und ich bin einer von ihnen. Die Kurstadt hat in den vergangenen Jahren eine rasante Entwicklung durchgemacht, die anderen attraktiven ostdeutschen Orten womöglich noch bevorsteht. Lässt sich aus Buckows Erfahrungen etwas lernen?
Als ich im Jahr 2008 zum ersten Mal nach Buckow kam und es wenig später zu meinem Wochenenddomizil machte, lag die Kleinstadt noch in einem Dornröschenschlaf. Viele Häuser und Geschäfte standen leer. Die Straßen waren kaum belebt, die Häuserfassaden grau. Gleich am Ortseingang begrüßte die Ruine eines ehemaligen FDGB-Heims die Besucher. Was es gab: einen Supermarkt, das Brecht-Museum und eine Minigolf-Anlage. Buckow wirkte auf mich damals wie eine unbespielte Kulisse. Auch im Umland von Buckow warteten viele Orte rund 20 Jahre nach dem Mauerfall noch auf den Fortschritt. Einige der kleinen Dörfer hatten noch nicht einmal befestigte Straßen, sondern lediglich Sandwege. Ein paar alte Männer, angelnd am Dorfweiher, waren oft die einzigen Menschen, die man zu Gesicht bekam.
Der Hauptgrund für die Tristesse in der Region war die Abwanderung. Die jungen Leute waren zum Arbeiten oder fürs Studium nach Berlin oder in den Westen gegangen. Im Stadtanzeiger gratulierte Buckows Bürgermeister seinerzeit Monat für Monat rund 70 Seniorinnen und Senioren zum Geburtstag. Bei knapp 1.500 Einwohnern war also mehr als die Hälfte der Bevölkerung in hohem Alter.
Die Veränderungen begannen etwa im Jahr 2011. Erst zaghaft, dann immer schneller. Eine Genossenschaft eröffnete einen Bioladen. Zwei Brüder renovierten das alte Kino. Die ältere Frau, der wir an den Wochenenden Kuchen aus dem Wohnzimmer abgekauft hatten, ging in den Ruhestand. Ein Hotelier baute sein Haus zum ersten Öko-Hotel Brandenburgs um. Immer mehr Touristen kamen in die Stadt. Und: Neue Leute zogen nach Buckow, darunter viele Künstler, Musiker und Filmschaffende. Auch drehten die ersten größeren Filmproduktionen hier. Geld brachte das der Stadt nicht viel, aber die Popularität Buckows wuchs dadurch weiter. Die leeren Straßen jedenfalls waren bald Geschichte. Neue Hotels eröffneten, alte wechselten die Betreiber. Selbst Airbnb kam nun in Buckow an.
Schon vor etwa 100 Jahren war Buckow einer der beliebtesten Ausflugsorte für Berliner gewesen. Nach dem Anschluss ans Bahnnetz um die Jahrhundertwende setzte der Tourismus zu Höhenflügen an und brachte Wohlstand nach Buckow. Die architektonischen Schmuckstücke im Ort zeugen noch heute davon. Der Tourismus sowie der ständige Austausch mit Berlin führten dazu, dass der Ort als besonders weltoffen galt. Fast jeder Buckower vermietete damals Zimmer an Touristen. Manche Familien zogen im Sommer sogar in ihr Gartenhaus, um noch mehr Platz für Gäste zu schaffen. Dieses weltoffene Klima existiert bis heute. Die AfD konnte hier - und das unterscheidet Buckow von anderen Städten in der Gegend - bislang kaum Erfolge erzielen.
Trotz der bereits steigenden Immobilienpreise kamen bald auch viele aus der jüngeren Generation, die dem Ort den Rücken gekehrt hatten, nach und nach zurück – mit einem Abschluss und einigen Jahren Berufserfahrung in der Tasche. Aber war nicht gerade im Osten immer von einer kollektiven Landflucht die Rede gewesen? Vermutlich waren die Gründe der Rückkehrer die Nähe zu Berlin sowie der allgemeine Trend zum Landleben. Matthias Tisch, Mitgründer des Bioladens, erklärt sich das Phänomen der Rückkehrer mit einem Buckow-typischen Heimatgefühl: „Buckow ist wie ein warmer Pantoffel. Man schlüpft rein und fühlt sich gut.“
Kurzum: Das Buckow, das ich vor 14 Jahren kennenlernte, ist heute kaum wiederzuerkennen. Auch die Ruine des FDGB-Heims ist mittlerweile abgerissen, die Stadt hat das Grundstück an einen Investor verkauft – eines der letzten in städtischem Besitz.
Aber bei aller Weltoffenheit: Die einschneidenden Entwicklungen gefielen nicht allen Buckowerinnen und Buckowern. Wie auch? Der schnelle Wandel brachte nach Jahren der Stagnation zwar neue Energie in die Stadt, er stellte den Ort aber auch vor große Herausforderungen. Da sind zum einen die steigenden Preise für Häuser und Grundstücke. Aufgrund der Lage im Naturpark können keine Neubaugebiete ausgewiesen werden, weshalb Verdrängung in Buckow eine ungleich größere Rolle spielt als anderswo. Viele Ur-Buckower können sich Immobilien für sich oder ihre Kinder in ihrer eigenen Stadt nicht mehr leisten und suchen vergebens nach Wohnraum. Zum anderen sind die Zweitwohnsitze der Berliner ein Problem. Denn davon, dass die Stadt an den Wochenenden um mehrere hundert Menschen anwächst, profitiert die Stadtkasse kaum. Die Landesmittel fließen entsprechend der Einwohnerzahl. Der Stadthaushalt ist bis heute so klamm geblieben, wie er nach einem Bauskandal direkt nach der Wende immer gewesen ist. Nicht nur einmal erklärten mir die Buckower freundschaftlich, dass ich der Stadt mit der Verlegung meines Erstwohnsitzes helfen könne, auch wegen der Steuern. Im Jahr 2016 entschied ich mich zu diesem Schritt.
Darüber hinaus gibt es Kritik daran, dass die Stadt an vielen Wochenenden aus allen Nähten platzt. Während der Corona-Pandemie, als die Sehnsucht der Städter nach Landleben exponentiell wuchs, fanden nicht nur die letzten verbliebenen Immobilien noch Käufer oder Mieter, die Stadt wurde auch von Touristen förmlich überschwemmt. Die Straßen waren zugeparkt, auf den Parkplätzen drängten sich die Campingbusse, die Wanderwege quollen über vom Müll der Besucher. Manch Alteingesessener erkannte seine eigene Stadt nicht wieder.
Inzwischen bekommen selbst die Idealisten vor Ort erste Zweifel. „Noch 2010 hatten wir alle den Eindruck, es muss etwas passieren, jetzt ist leider fast zu viel passiert, wir wurden überrannt“, sagt etwa Carolin Schönwald, die Vorsitzende des Vereins „Kultus“, der das Ziel hat, die politische Teilhabe der Bürger zu verbessern und den Ort aktiv mitzugestalten.
Und dennoch gibt es Grund für Zuversicht: In Buckow finden sich einige gute Ansätze, um mit den Wachstumsschmerzen umzugehen. Obwohl Buckow über einige Sonderbedingungen verfügt – die Tradition der Weltoffenheit, die Nähe zu Berlin, der Zuzug von Kreativen dank der traumhaften Natur – können andere Städte davon durchaus lernen.
Erstens: Die vielen Rückkehrer sind ein Zukunftspotenzial. Sie bringen ihre anderswo gesammelten Erfahrungen mit und haben neue Ideen für ihren Ort. Beispielsweise engagieren sich viele von ihnen im „Kultus“-Verein. Sie organisieren Freizeitprogramme für Jugendliche, starteten eine Rückkehrer-Initiative für die Region und eröffneten ein Café, in dem auch politische Veranstaltungen stattfinden, eingebettet in einen künstlerischen Rahmen aus Theater, Kulinarik und Musik. Politische Teilhabe, leicht gemacht: Sogar Kommunalpolitiker aus anderen Städten reisten an, um sich das Projekt genauer anzusehen.
Ebenso bemerkenswert: Die Rückkehrer gehen bis heute mit offenen Armen auf die Zugezogenen zu. Sie sind stolz darauf, aus Buckow zu stammen. Sie sind nicht minder stolz darauf, dass ihre Stadt nun so viele neue Leute anzieht.
Womit wir beim zweiten Faktor wären: der Einbindung und dem Engagement der Zugezogenen. Anders als in vielen umliegenden Gemeinden, die den Berlinern lediglich als „Schlafstädte“ dienen, engagieren sich die alten und neuen Buckower oftmals gemeinsam. Beim zweimal jährlich stattfindenden Putztag etwa schwingen stolze 10 Prozent der Bevölkerung die Besen. Auch die Stadtfeste werden größtenteils von Ehrenamtlichen gestemmt, auch hier packen Zugezogene mit an. Ähnliches gilt für eine Initiative zur Versorgung ukrainischer Geflüchteter: In kürzester Zeit stampften Privatleute unter der Regie des Kultus e.V. eine Infrastruktur aus dem Boden und beherbergten in Eigenregie zeitweise mehr als 100 Menschen.
Exemplarisch für diese Dynamik des Miteinanders stehen auch die Neubürger-Empfänge, bei denen die Neulinge zum Speed-Dating mit Vereinen eingeladen werden, deren Überalterung neue Mitglieder nötig macht.
Das Engagement der Zugezogenen ist wichtig für die Stimmung im Ort, zeigt sie doch den Ur-Buckowern, dass den „Neuen“ ihre neue Heimat am Herzen liegt. Den Nährboden dafür bereiten nicht zuletzt die Rückkehrer mit ihren Initiativen - ein produktiver Synergieeffekt. Bürgermeister Tom Mix sagt: „Das geht wahrscheinlich in wenigen Kleinstädten so gut wie hier, weil wir diese Offenheit und Willkommenskultur haben, diese positive Haltung zu allem Neuen.“
Drittens versucht die Stadtverwaltung mit allen Mitteln, dem Wandel eine gute Richtung zu geben. Dem Tourismus-Boom will sie mit einigen infrastrukturellen Maßnahmen begegnen, damit die Einwohner weniger unter ihm leiden. Im besten Fall soll auch die Stadt selbst von ihm profitieren, und nicht nur das Gastgewerbe in privater Hand. Gegen die Gentrifizierung will Bürgermeister Tom Mix mit dem Umbau einer Ruine zu Sozialwohnungen vorgehen. Und auch um Geld in die Stadtkasse zu bekommen, hat er einige Ideen: die Wiedererlangung des Titels Kurbad, eine dauerhafte Anbindung ans Schienennetz, den Wiederaufbau des Stadtschlosses. Wichtig ist ihm dabei, sagt er, dass den vielen privaten Akteuren mit ihrem Veränderungswillen weiterhin jede Möglichkeit gegeben wird, sich einzubringen. Ohne jedoch, dass dabei die Alteingesessenen aus dem Blick geraten. Er ist überzeugt: „Diese Stadt kann ein Modell sein für eine vernünftige, demokratische, diskussionsoffene Stadtgesellschaft.“
Und viertens ist es Buckow gelungen, bei Alteingesessenen und Zugezogenen einen gemeinsamen Stolz auf den Ort zu erzeugen. Im Stadtbild sieht man immer wieder Jutebeutel mit dem Konterfei Brechts und dem Slogan „I love BC“. Nicht wenige Buckower haben die Initialen „BC“ inzwischen in ihre Autokennzeichen integriert.
Ich bin sicher: Bertold Brecht hätte das gefallen.
Marco Buch ,
geb. 1975, Publizist, TV-Reporter und -Producer, freier Journalist und Blogger. Nach ausgiebigen Reisen in rund 90 Länder und Stationen in Kalifornien, Thailand und Berlin lebt der gebürtige Hesse heute in Buckow (Märkische Schweiz), wo er den rasanten Wandel hautnah miterlebte.