Soziale Innovationen, Transformation und Vertrauen

Gänse auf einem Hof mit einer Wiese

Schorstädt

Foto: Ostkreuz (Ute Mahlerr)

Die Bürgerinnen und Bürger Ostdeutschlands haben 1989/90 ein autoritäres Staatssystem gestürzt. Sie haben für Meinungs-, Reise- und Pressefreiheit demonstriert und damit die Grundlagen für demokratische Verhältnisse im Osten Deutschlands geschaffen.

Deshalb war nach der Wende nicht nur der Aufbau marktwirtschaftlicher Strukturen für sozialen Wohlstand wichtig, sondern es galt ebenso, neue zivilgesellschaftliche Mitsprache– und Beteiligungsmöglichkeiten zu schaffen. Erst das offene und freie Handeln zivilgesellschaftlicher Akteure macht die Demokratie stark. 

Die Zivilgesellschaft vor Ort entsteht durch die Ideen und das Handeln von Bürgerinnen und Bürgern selbst. Hier kann kein Transfer stattfinden wie bei Wirtschaft oder staatlicher Verwaltung – Zivilgesellschaft muss aus sich selbst heraus entstehen. Aus der Forschung zu sozialem Kapital wissen wir, dass dazu Vertrauen und Respekt sowie tragfähige soziale Netzwerke nötig sind. Gerade unter Umbruchs- und Transformationsbedingungen starke zivilgesellschaftliche Netzwerke zu schaffen, stellt dabei eine große Herausforderung dar: Die alten Netzwerke sind entwertet und die Möglichkeiten sich für neue zu engagieren, sind eingeschränkt, weil die Menschen viele Transformationsaufgaben (Jobsuche, Pendeln, Qualifizierung, Existenzangst usw.) gleichzeitig bewältigen müssen. Das heißt, schon in weniger turbulenten Zeiten brauchen zivilgesellschaftliche Strukturen Zeit. In Zeiten großer Umbrüche brauchen sie deutlich mehr Zeit. 

Und gerade der ländliche Raum ist ganz besonders auf das demokratische Engagement der Menschen in den Dörfern und Kleinstädten angewiesen, weil staatliche Infrastruktur nicht in derselben Dichte wie in den Ballungsräumen vorhanden ist. 

Für Transformationen ist experimentelles, transformatives Handeln der Leute unabdingbar. Sie schaffen dadurch die sozialen Innovationen, die nötig sind, um überhaupt auf neue Wege zu kommen. Es gibt also einen wichtigen Zusammenhang, zwischen gesellschaftlichen Umbruchsprozessen und der Schaffung einer gesellschaftlichen Kultur des Vertrauens, in der soziale Innovationen möglich sind.

Wie kann dies gelingen?

Soziale Innovationen sind, wie alle Innovationen, nichts anderes als eine neue Kombination vorhandener Ressourcen zu neuen Lösungen. Aber im Unterschied zu technischen Innovationen lassen sie sich nicht privat aneignen. Sie werden sozial, indem die Lösungen mit anderen Menschen geteilt werden. Teilhaben können andere Akteure dadurch, dass sie ein Angebot wahrnehmen, das durch soziale Innovationen in die Welt gestellt wird, oder dass Menschen selbst Teil eines transformativen Netzwerks werden.

Ein Beispiel: Vor mehr als 10 Jahren entdeckte eine Gruppe junger Leute ein leerstehendes Kühlhaus am Rand von Görlitz. Görlitz galt seinerzeit als eine Art „Pensionopolis“, das heißt als eine Stadt für ältere Menschen. Für junge Leute gab es wenig attraktive Angebote, so dass sie scharenweise die Region und die Stadt verließen. Im Kühlhaus Görlitz wurden zu DDR-Zeiten Staatsreserven gelagert. Es liegt nicht in einer Siedlung. Die Nachbarn sind die Bahn, der Hundesportverein und die Schützengilde. Es zeigte sich, dass es für junge Leute dadurch ein guter Ort für Musik und Party ist.

Heute ist das Kühlhaus Görlitz ein soziokulturelles Zentrum, ein Zelt- und Stellplatz für Wohnmobile, ein Lager, die Heimstatt des Kühlhausvereins, Vermieter, Arbeitsort – auch für diejenigen, die dort mal angefangen haben. Es gibt einige Handwerksbetriebe und ein Coworking-Space. Sie selbst beschreiben sich so: „Das soziokulturelle Langzeitprojekt „Kühlhaus Görlitz“ zeigt einen Weg auf, wie leerstehende Industriegebäude, mit Hilfe von bürgerschaftlichem Engagement, sinnvoll und auf alternative Weise genutzt werden können. Hier treffen sich Menschen unterschiedlichen Alters, um gemeinsam die Ruhe zu genießen, zu lernen und zu arbeiten – eine Art Verschmelzung von Kunst, Kultur, Arbeit und Bildung mit allgemeiner Freizeitgestaltung.“

Selbstverständlich, möchte man sagen, sind die Kühlhäusler auch in der Kommunalpolitik aktiv, mit Sitz im Stadtrat. So ist durch die Kombination von Leerstand, Engagement und Kreativität – und auch mit der Unterstützung des Immobilieneigners – ein neuartiger sozialer Ort entstanden, der ein gutes Beispiel für soziale Innovationen ist. Mit ihm sind Vertrauensstrukturen entstanden: Selbstvertrauen derer, die diesen Weg so weit vorangekommen sind, Vertrauen in das Team als Akteure der städtischen Zivilgesellschaft und Politik sowie Vertrauen derer, die die Angebote nutzen und eingeladen sind, selbst dort aktiv werden zu können. Soziale Innovationen dieser Art schaffen daher nicht nur neue Lösungen durch „neue kreative Praktiken“, um gesellschaftliche Veränderungsprozesse gestaltbar zu machen, sondern eben auch die Vertrauensstrukturen, die letztlich für die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts notwendig sind. 

Mittlerweile gibt es im Osten zahllose solcher und ähnlicher neuartiger sozialer Orte und Gelegenheiten. Manufakturen für die Herstellung regionaler Produkte, Höfe, die sich als Verein für ländliche Bildung, ökologische Landwirtschaft und nachhaltigen Tourismus öffnen. Bahnhöfe, wie viele andere industrielle Großruinen, werden als Gemeinschaftshäuser – zum Beispiel zusammen mit modernen, professionellen Pflegeangeboten – wiederbelebt. Diese sozialen Innovationen bündeln drei Handlungsfelder transformativen Handelns: Dabei spielt das unmittelbare „Projekt“, z.B. eine Lesung zu organisieren, Felder zu bestellen oder alte Gebäude zu renovieren, eine merkwürdig untergeordnete Rolle. 

Es geht allen diesen kreativen und konstruktiven Gestaltern des Umbruchs darum, eine neue Gemeinschaftlichkeit herzustellen, indem sie Gelegenheiten zum Zusammenkommen kreieren. Neben dieser veränderten Kultur des Zusammenlebens verfolgen sie zudem das Ziel, sich selbst und ihre Orte zurück in regionale wertschöpfende Kreisläufe zu bringen. Sie wollen im Kern damit „Produzenten“ von mehr Lebensqualität werden. „Produzent“ zu sein bedeutet in diesem Zusammenhang, die Dinge wieder in die eigenen Hände zu bekommen, sich neue Spielräume zu erschließen und selbst wieder in Austauschprozesse integriert, statt immer nur Empfänger von etwas zu sein.

Der Verein zur Förderung ökologisch-ökonomisch angemessener Lebensverhältnisse westlich des Plauer Sees in Wangelin (Mecklenburg-Vorpommern) beispielsweise hat seit seiner Gründung 1990 vielen Menschen bei der Gründung einer selbstständigen wirtschaftlichen Existenz geholfen, die sich mit nachhaltigem Bauen, mit regionalen Baustoffen (wie Lehm und Stroh) und mit der Verarbeitung lokaler Produkte beschäftigen. Dabei bleiben diese Produzentenaktivitäten nicht bei wirtschaftlichen Ausgründungen stehen. Zusätzlich werden auch gemeinschaftsfördernde Angebote wie zum Beispiel das Tauschhaus etabliert. Der Verein selbst versteht sich als „Werkstatt des Guten Lebens“.

Die sozial-innovativen Akteure suchen nach der Wiedererlangung politischer Handlungssouveränität. Es handelt sich dabei um neue Formen politischen Handelns. Statt in klassischen Protestformen sehen sie sich wirkungsvoller, indem sie praktische, nachvollziehbare Beispiele für einen anderen Gesellschaftsentwurf in die Welt bringen. Das solidarische Restaurant „Moorbauer“ bei Malchin in Mecklenburg-Vorpommern funktioniert nur dadurch, dass von Mai bis August nicht nur die Mitglieder des tragenden Vereins dort im Gastronomiebereich viele Stunden Arbeit leisten, sondern dass eine große Zahl junger Leute dort mithilft. Mit dem solidarischen „Moorbauer“ soll der Beweis angetreten werden, dass sehr wohl mit regionalen Produkten, bezahlbaren Preisen und gemeinschaftlicher Arbeit nachhaltiger Tourismus möglich ist. Die Initiative lenkt die Aufmerksamkeit zudem auf die Gestaltung von Moorlandschaften und ihre überragende Funktion bei der CO2-Speicherung. Das sind unmittelbar politische Botschaften, dass diese Transformationen gelingen können. Auffällig ist zudem, dass früher oder später viele dieser Aktiven in die Kommunal- und in die Landes- oder Bundespolitik drängen. Auch hier liegt der Zusammenhang zwischen sozial-innovativem Engagement, das auf gesellschaftliche Veränderung gerichtet ist, und politischer Wirksamkeit auf der Hand.

Wie ließe sich nun dieses Engagement besser unterstützen?

Es handelt sich um bürgerschaftliches Engagement; es ist aber kein Ehrenamt, sondern Arbeit an der Gesellschaft. Dies sollte sich auch in der Förderlogik abbilden. Mit diesem Gestaltungsengagement treten neue, ungebundene, auf individuelle Selbstentfaltung und Selbständigkeit bedachte soziale Akteure in den Raum, die darauf drängen, Gesellschaft anders und vor allem selbst zu gestalten. Die Engführung vieler Förderungen schränkt jedoch die Suche nach den Themen und Problemen vor Ort ein. Oft werden die falschen Empfänger erreicht oder es wird an den relevanten Themen vorbei gefördert. Vertrauen heißt in diesem Zusammenhang, auch den Problembeschreibungen der Gestalter zu vertrauen. Erwägenswert wäre eine Art Vertrauensfonds, der themen- und problemoffen Mittel zur Verfügung stellt und am besten von der Bürgergesellschaft selbst verwaltet würde.

Zurzeit werden gerade die Dörfer, Gemeinden, Kleinstädte und Stadtteile zu Probebühnen neuer demokratischer Aushandlungsprozesse, von wo der Weg in die überregionalen politischen Foren beginnt. Das Land kann viel lernen von diesen Initiativen. Die Gesellschaft braucht bei der Bewältigung der anstehenden Umbruchsprozesse diese transformationserfahrenen Akteure. Insofern lohnt sich ein Blick auf bürgerschaftliches Engagement und seine neuen Formen in ländlichen Räumen.

Andreas Willisch,
geb. 1962 in Karl-Marx-Stadt, Soziologe und Biolandwirt, Vorstand des Thünen-Institut für Regionalentwicklung Schlemmin, Mitglied des MV-Zukunftsrates. Seit 2012 organisiert er das Programm „Neulandgewinner“, zuerst mit der Robert Bosch Stiftung und seit 2021 mit weiteren Partnern.