Das Potenzial der Wendekinder

Interview mit Jeanette Gusko Das Potenzial der Wendekinder

Lange wurde Ostdeutschland mit negativen Stereotypen verbunden – Doping, Stasi, Nazis. Das ändert sich gerade, der Osten bekommt ein neues Image als attraktiver Wirtschaftsstandort. Sollte man die Probleme also gar nicht mehr benennen, um die positive Dynamik nicht zu gefährden?

Vier Personen sitzend, mit dem Rücken zugewandt

Seifenkistenrennen

Foto: Ostkreuz (Annette Hauschild)

Den Regeln des Rats für Deutsche Rechtschreibung folgend wird auf Wunsch von Jeannette Gusko auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers (m/w/d) verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter

Es ist wichtig zu sagen, was ist. Wir wissen um die Krisen, die sich in Ostdeutschland ausgeprägt zeigen. Stereotype entstehen jedoch dann, wenn einer Gruppe ausschließlich und kontinuierlich bestimmte Merkmale oder Eigenschaften zugeschrieben werden. Die Forschung zeigt eindeutig, dass negative Stereotype nicht einfach verschwinden. Ostdeutschland ist über 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution heute ein anderer Ort - vielschichtig, dynamisch, innovativ. Es ist spannend aufzuzeigen, was Ostdeutschsein auszeichnet. Warum wir in schwierigen Situationen häufiger sagen sollten: Lasst es eine Ostdeutsche machen! 

Sie stehen für die Generation Ostdeutscher, die ihr Leben zum Teil in der DDR und zum Teil nach 1990 verbracht haben. Gibt es besondere Eigenschaften, die Sie ins vereinte Deutschland einbringen?

Meine Generation besteht aus den Wendekindern. Wir haben also in zwei Systemen gelebt. Vor allem das Durchleben eines Systemwandels, dieses “muddling through” der Umbruchsjahre, haben meine Charakterentwicklung geprägt. Wendekinder haben in sehr kurzer Zeit zunächst erlernte Verhaltensweisen, Codes und den Habitus aus der DDR größtenteils abgelegt und um die Regeln, Werte und Normen der vereinten Bundesrepublik ergänzt. Wir taten dies in Abwesenheit von Autoritäten wie Eltern, Lehrern oder Politiker*innen, die Orientierung bieten konnten. Wir sind Systemwandlerinnen und Systemwandler, die wissen, wie es sich im Dazwischen anfühlt. Heute wissen wir wissenschaftlich begründet, dass wir genau solche Fähigkeiten ausgebildet haben, die wir für die Bewältigung großer gesellschaftlicher Transformationen wie des Klimawandels, der Digitalisierung oder mehr sozialer Gerechtigkeit brauchen: Loslassen vom Althergebrachten, Offenheit für Neues, Entscheiden unter Unsicherheit, psychische Widerstandsfähigkeit und Empathie für an den Rand gedrängte Menschen. Jetzt geht es darum, diese Fähigkeiten auch anzuwenden und zu vervollkommnen. Wendekinder, aber teils auch Menschen mit Migrationsgeschichte oder Arbeiterkinder, die gesellschaftlich aufsteigen, erlangten diese Fähigkeiten durch die Umbruchserfahrungen und sind deshalb prädestiniert für Führungsrollen und Zukunftsgestaltung in einer sich immer mehr ausdifferenzierenden Welt.

Ostdeutsche wissen, wie Wandel funktioniert, heißt es häufig. Gibt es nicht zugleich auch eine Veränderungsangst, die aus dem kollektiven Trauma der Nachwendezeit resultiert?

Meine Antwort ist kein Entweder-oder, sondern ein Ja, und … . Veränderung ist ein neutrales Wort, für viele Familien war die Nachwendezeit eine Ausgrenzungserfahrung, zutiefst verunsichernd, wirtschaftlich oder auch identitär existenzbedrohend. Wie Wandel angesehen und angegangen wird, ist einerseits eine Generationsfrage: Wendekinder hatten auch die Gnade der späten Geburt. Für unsere Eltern oder Großeltern, in der DDR sozialisiert, waren die ineinandergreifenden Traumata verheerender. Andererseits ist maßgeblich, wie der oder die Einzelne die Nachwendezeit im Rückblick für sich und seine Familie bewertet - als erfolgreich oder gescheitert. Das wird innerfamiliär über Geschichtenerzählen weitergegeben. Je nachdem wird Neues dann eher abgelehnt oder es werden Flexibilität und Anpassungsfähigkeit gelehrt sowie die Botschaft mitgegeben, dass wir alles schon meistern können, egal wie es ausgeht. 

Unsere Elterngeneration forderte die Anerkennung ihrer Lebensleistung in der DDR, für die Friedliche Revolution sowie für die Bewältigung der Nachwendezeit. Ihr Bedürfnis, ihre Kinder erfolgreich zu sehen, ist überbordend und sicherlich ein Schlüssel zur Versöhnung. Meine Generation fordert nicht weniger als die gerechte Verteilung von Macht zwischen Ost und West für ein zukunftsfähiges Deutschland und Europa. Wir wissen um unseren Transformationsvorsprung sowie unsere innere Freiheit und artikulieren diese selbstbewusst.

Viele aus Ihrer Generation haben im Westen Karriere gemacht. Fühlen sich diese Menschen überhaupt noch als Ostdeutsche?

Die Erfahrungen im Netzwerk 3te Generation Ost zeigen: Sobald junge Ostdeutsche sich mit ihrer Biographie beschäftigen und diese als kollektive Erfahrung erkennen, fühlen sie sich ostdeutsch, ob sie in Westdeutschland oder wie viele auch im Ausland leben. Geschichten und Austausch, zum Beispiel in unseren After-Work-Veranstaltungen oder online, helfen der persönlichen Weiterentwicklung, dem ehrlichen Innehalten und Reflektieren. Ostdeutsch sein ist ein Add-on zu anderen Persönlichkeitsmerkmalen und Rollen, die ich jeden Tag ausführe. Es stiftet eine werteorientierte Sinnhaftigkeit für das eigene Leben, aus der eine tiefe Verantwortung für unser Land folgt. Genau davon brauchen wir mehr, um letztlich gemeinwohlorientierte, zukunftsweisende Entscheidungen treffen zu können. 

Nachfrage: Bestehen Chancen, dass mehr von ihnen in den Osten zurückkehren?  

Auf jeden Fall. Seit Mitte des letzten Jahrzehnts kommen etwa gleich viele Ostdeutsche in die Heimat zurück, wie sie verlassen. Diese Trendwende ist ein wichtiges Zeichen für die Politik, mehr in Kommunikation und Anwerbung von Rückkehrerinnen und Rückkehrern zu investieren. Gerade in der Rushhour des Lebens, wenn Karriere und Familiengründung zusammenkommen, sehnen sich viele – wie in Westdeutschland auch –, zurückzukehren, auch in ländlichen Gegenden. Erste Forschungsergebnisse zeigen, zentrale Motive der Rückkehr sind einerseits Familie und Heimat sowie andererseits die Jobsituation. Kinder lassen sich in der Nähe der Großeltern einfacher aufziehen. Was es braucht, sind deshalb berufliche Perspektiven, attraktive öffentliche Einrichtungen, robuste Infrastruktur sowie verlässliches und schnelles Internet. Gerade hybride Arbeitsmodelle machen es deutlich einfacher, einen Job in der Großstadt mit dem ländlichen Wohnort in Ostdeutschland zu kombinieren. Große Infrastrukturprojekte wie Intel, Tesla oder CATL sowie ein Startup wie Staffbase bieten und erfordern viele zusätzliche Jobs für Hochausgebildete, die eine Chance gerade für Rückkehrerinnen und Rückkehrer darstellen.

Ostdeutsche sind in Führungspositionen nach wie vor unterrepräsentiert. Woran liegt das aus Ihrer Sicht und was lässt sich dagegen tun?

Es ist wichtig zu verstehen, dass Ostdeutsche nicht nur unterrepräsentiert sind in der landesweiten Elite, sondern fast nicht auffindbar. Bei einem Anteil von über 80 Prozent an der Wohnbevölkerung in den ostdeutschen Bundesländern ist der Anteil Ostdeutscher in Elitepositionen zwischen 2016 und 2022 lediglich von 23 auf 26 Prozent gestiegen. In Sachsen-Anhalt richten weiterhin vornehmlich baden-württembergische Richter, in Mecklenburg-Vorpommern leiten bayerische Geschäftsführer mittelständische Unternehmen. Im Westen des Landes gibt es hingegen kaum ostdeutsche Chefinnen und Chefs. Bei 17 Prozent Bevölkerungsanteil sind 2022 nur knapp dreieinhalb Prozent aller Führungspositionen in Deutschland von Ostdeutschen ausgestaltet. Das ist sowohl normativ für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Sozialintegration als auch wirtschaftspolitisch desaströs. Diese extreme Schieflage bei Führungspositionen ist auch kein Nebenschauplatz, sondern Teil des Kernproblems, warum wir uns gegenwärtig so vielen Krisen ausgesetzt sehen. Das in Ostdeutschland verbreitete Gefühl “Bürger zweiter Klasse” zu sein, ist auch eine Folge mangelnder Repräsentation. Diese führt u.a. zu der absurden Situation, dass für Ostdeutschland vorgesehene Gelder nicht in die Regionen verteilt werden können, weil es den Führungspersonen der Bundesministerien an ostdeutschen Netzwerken mangelt, an denen sie andocken können. Dies ist nur ein Beispiel, wie öffentliche und private Institutionen in ihrer Funktionalität eingeschränkt sind. Nur mit mehr Diversität und Perspektivenvielfalt in den Führungspositionen werden wir durch die Krisen navigieren können.

In der Breite fehlen ostdeutsche Führungskräfte, weil nach dem Fall der Mauer eine ganze Generation Westdeutscher Führungspositionen in Ostdeutschland übernehmen durfte. Zudem ist Ostdeutschland eine Aufstiegsgesellschaft. Waren unsere Eltern dem sozialistischen Ideal entsprechend vermehrt Arbeiterinnen und Arbeiter, so hat meine Generation den größten Klassen- und Bildungsaufstieg in der Geschichte der Bundesrepublik seit der 68er-Generation in Westdeutschland vollbracht. Den häufiger als Ursache für fehlende ostdeutsche Eliten vorgebrachten Selbstausschluss von Ostdeutschen können wir im Netzwerk unter Wende- und Nachwendekindern nicht ausmachen. Es mangelt nicht am eigenen Empowerment von Nachwuchskräften. Diese haben unserer Erfahrung nach sogar richtiggehend Hunger auf Verantwortungsübernahme. Wer Ostdeutsche unterschätzt, verschätzt sich.

Insofern kann genau jetzt viel verändert werden. In Vorbereitung von Unternehmens- und Führungsnachfolgen sollten ostdeutsche Bewerberpools auf- und ausgebaut werden. Es braucht auch mehr spezifisch ostdeutsche Weiterbildungs-, Leadership- sowie Vernetzungsmöglichkeiten, wie wir diese im Netzwerk bereits anbieten. Auch Gründungsinitiativen und Acceleratorprogramme müssen sich andere Zugänge verschaffen und ihre Programminhalte auf ostdeutsche Bedürfnisse anpassen.

Westdeutsche Entscheiderinnen und Entscheider mit Personalverantwortung müssen sich jedoch über ostdeutsche Biografien kundig machen und ihre eigenen Wahrnehmungsverzerrungen hinterfragen, gern auch gehalts- und bonirelevant. Strukturelle politische Instrumente sind für eine strukturelle Ungerechtigkeit wie diese unerlässlich. Hier sehen wir vor allem die Diversifizierung von Begabtenförderung oder die Dezentralisierungsstrategie der Bundesregierung mit Blick auf die Ansiedlung von Bundesinstitutionen in strukturschwachen Gebieten im Fokus. Zudem sollte die organisierte ostdeutschen Zivilgesellschaft mit ihrer Expertise viel enger und strategischer als bisher in Beratungsgremien und bei der Ausarbeitung von Gesetzentwürfen sowie für Konsultationen eingebunden und dafür finanziell kompensiert werden.

Sie haben sich viel mit der Zeit nach der Wende beschäftigt. Müssten wir den jungen Menschen nicht auch die Zeit vor 1990 in Ost und West besser näherbringen?

Damit Jüngere verstehen, wo sie hinwollen, hilft es ihnen, wenn sie wissen, wo sie herkommen. Zwei Aspekte erscheinen mir wichtig: Erstens ein integrierter Geschichtsunterricht, der die Entwicklungen von BRD und DDR kontinuierlich in zeitlicher Einordnung betrachtet und diskutiert, anstatt die DDR vor allem auf den Geschichtsblock “Fall der Mauer” zu reduzieren. Kritisiert wird oft, dass die DDR-Geschichte entweder viel zu kurz behandelt oder alles in ein “Schwarz-Weiß-Muster” gepresst wird. Gerade die Familienbiografien der jungen Menschen gilt es zu ergründen, weil die Grautöne in fast jeder Familie dominierten. Zweitens könnte unser Bildungssystem insgesamt demokratische Bildung und Teilhabe als Querschnittsthema stärken, gerade auch basierend auf den Lehren einer ehemals entlang ideologischer Linien geteilten Gesellschaft. 

Wenn Sie mit Blick auf Ostdeutschland einen Wunsch frei hätten – welcher wäre das?

Mein Wunsch ist, dass wir uns in unserem Land endlich beherzt und mit mutigem Handeln den komplexen Herausforderungen der Gegenwart stellen. Hierzu müssen Westdeutsche wie Ostdeutsche das Potenzial Ostdeutschlands und seiner Menschen erkennen und nutzen - mit strukturellen politischen Initiativen, mit Eigeninitiative, Optimismus und Weitsicht. 

Jeannette Gusko, 
geb. 1984 in Ost-Berlin, studierte u.a. Kommunikationsmanagement und BWL. Seit dem 1.9.2022 Co-Geschäftsführerin des Recherchezentrums Correctiv, zuvor Gründungsgeschäftsführerin der Online-Fundraising-Plattform GoFundMe (DACH-Region). Seit 2019 Sprecherin des Netzwerks 3te Generation Ost.