Unsere Demokratie hat keine Ewigkeitsgarantie

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Rede zum Wartburg-Fest der Demokratie Unsere Demokratie hat keine Ewigkeitsgarantie

Staatsminister Carsten Schneider hat anlässlich des ersten Wartburg-Fests der Demokratie auf der Wartburg an die bewegte Demokratie-Geschichte erinnert und  was Ort und auch das Wartburgfest von 1817 uns lehren: Die Demokratie hat keine Ewigkeitsgarantie, unser aller Einsatz für sie ist gerade jetzt wichtig.

Carsten Schneider in einer Personengruppe auf der Wartburg

Staatsminister Carsten Schneider, Thüringens Finanzministerin Heike Taubert, Stephan Zänker, Vorstand Gesellschaft zur Erforschung der Demokratie-Geschichte e.V.,  Dr. Franziska Nentwig, Burghauptmann und Vorstand der Wartburg-Stiftung

Foto: Bundeskanzleramt

Sehr geehrte Frau Burghauptmann,

liebe Heike Taubert,

sehr geehrte Katja Wolf,

sehr geehrte Abgeordnete des Landtages und des Stadtrates Eisenachs,

lieber Stephan Zänker,

sehr geehrte Damen und Herren!

Es ist eine Ehre, heute hier auf der Wartburg – diesem historischen deutschen Ort – sprechen zu dürfen.

Mich macht es auch als Thüringer stolz, hier zu sprechen und die neue Reihe politischer Reden zur Freiheit und Demokratie eröffnen zu dürfen

Hier in Thüringen sind wir im Herzen Deutschlands. Und hier auf der Wartburg schlägt es. Die ganze Schönheit unseres Landes, seine ganze Zerrissenheit, seine Vergangenheit, die traurigen und die gelungenen Seiten, aber eben auch die ganze Hoffnung auf ein neues und anderes Deutschland spiegeln sich hier.

Ich erspare Ihnen jetzt die historische Aufzählung. Aber ich rufe Ihnen zu: Hier hat Elisabeth von Thüringen Klassengegensätze überwunden, bevor es das Wort gab. Hier hat Luther die deutsche Sprache demokratisiert, Jahrhunderte bevor es die Demokratie gab. Hier ist schwarz-rot-gold zur Fahne einer demokratischen Republik geworden lange bevor hier in Thüringen, in Weimar die erste Demokratie und die erste deutsche Republik begründet wurden.

Und ja, wir können nicht an diesem Ort stehen, gerade heute nicht, ohne an den Antisemitismus Luthers zu denken, ohne an die Schere zwischen Arm und Reich in unserem Land heute zu denken, ohne an den Nationalismus und Nazi-Gedanken zu denken, der von den Burschenschaften ausging und zum Teil heute noch ausgeht.

In diesem Bewusstsein feiern wir heute. Keine ungebrochene Geschichte. Sondern eine Geschichte mit Brüchen.

Dazu ist es gut, wenn wir uns die Szene vom 18. Oktober 1817 vergegenwärtigen: 500 evangelische Studenten und Professoren treffen sich zum ersten Wartburgfest. Frauen waren nicht dabei. Und lassen Sie es mich kurz vorwegnehmen: Klar, dass das nichts werden konnte.

In den Jahrzehnten davor war die Welt in Bewegung geraten: 1776 die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, 1789 die Französische Revolution. Im Land der Dichter und Denker wollte man jedoch eher vorsichtig reformieren statt revolutionieren.

1815 hatten die Großmächte Preußen, Österreich und Russland beim Wiener Kongress Europa neugeordnet. Es sollte Ruhe auf dem Kontinent einkehren. Und das gelang für eine Zeit auch. Mehltau legte sich über das Land.

Die Hoffnungen eines aufstrebenden Bürgertums auf einen deutschen Nationalstaat und bürgerliche Freiheiten hatten sich nicht erfüllt. Diese Hoffnung teilten auch die in Eisenach versammelten Studenten. Viele von ihnen hatten in den Napoleonischen Befreiungskriegen gekämpft. Dabei hatten sie sich in erster Linie als Deutsche gefühlt. Sie waren im Streben nach einem geeinten Deutschland und Freiheitsrechten verbunden.

Kulturell befinden wir uns 1817 mitten in der Romantik. Das Epizentrum der Bewegung war Jena.  Die Romantik und der Jenaer Kreis um Caroline Schelling und August Wilhelm Schlegel stellten das Ich und den freien Willen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit und ihres Denkens.

Die Romantiker waren beeinflusst von aufkommenden nationalistischen Strömungen. Sie suchten nach einer nationalen Identität. Sie lasen Novalis, Brentano und E.T.A Hoffmann. Sie brannten für die Freiheit.

„Ich bin gewiß um so glücklicher, je freyer ich mich weiß,“ so brachte die Schriftstellerin Carolin Schelling das damalige Lebensgefühl der Romantiker auf den Punkt. Ein Lebensgefühl, dass auch die Studenten auf der Wartburg teilten.

Das Wartburgfest selbst hatte zwei Anlässe:  den 4. Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig und den bevorstehenden 300. Jahrestag des Beginns der Reformation. Als Zufluchtsort Martin Luthers galt die Wartburg als ein Sinnbild für eine deutsche Nation. Die Studenten sahen in Luther ein Vorbild. Für die jungen Männern war er ein Vorkämpfer für Freiheit und die Nation. Er hat den Deutschen eine gemeinsame - unsere - Sprache gegeben.

Um 8.00 Uhr morgens ging es los. Die Studenten trafen sich auf dem Eisenacher Marktplatz. Unter Glockengeläut wanderten sie auf die Wartburg. Einige der jungen Männer wanderten nicht nur, sie machten unterwegs auch Freiluftgymnastik –in der Tradition von Turnvater Jahn. Das sah sicher unterhaltsam aus.  

Die Burschenschaftler wollten einen deutschen Nationalstaat mit eigener Verfassung. Sie wollten aus der Monarchie eine konstitutionelle Monarchie machen. Sie wollten die deutsche Einheit und das Ende der Kleinstaaterei. Sie riefen „Nation“ und meinten damit die Selbstermächtigung des Volkes und demokratische Rechte.

Ihr Forderungskatalog bestand aus vielen weiteren Punkten, die uns heute selbstverständlich erscheinen. Eine Auswahl:

  • Die Fürsten sollen sich nach den durch das Volk legitimierten Gesetzen richten.
  • Alle Deutschen sollen vor dem Gesetz gleich sein und Anspruch auf ein öffentliches Gerichtsverfahren haben.
  • Die Leibeigenschaft sollte abgeschafft werden – denn die persönliche Freiheit sei das erste und heiligste Menschenrecht, unverlierbar und unveräußerlich.
  • Die Rede- und Pressefreiheit sollte verfassungsmäßig garantiert werden.

Diese Forderungen waren erkennbar von Ideen der französischen Revolutionärinnen und Revolutionäre von 1789 inspiriert. Sie bilden die ersten Wurzeln der Grund- und Freiheitsrechte unserer heutigen Demokratie.

Obwohl sie nicht verwirklicht wurden, prägte das Fest die demokratische Entwicklung in Deutschland mit.

Als erste gemeinsame Veranstaltung der deutschen Nationalbewegung war das Wartburgfest ein Meilenstein auf dem Weg zur Märzrevolution 1848. Auch das Hambacher Fest 1832 griff die Ideen des Wartburgfestes auf. Dass die Forderungen des Wartburgfestes zunächst nicht verwirklicht wurden, dass die alten Kräfte der Monarchie ihre Macht zunächst absicherten, ändert nichts an der symbolischen Kraft, die dieses Fest für die Demokratiebewegung hatte.

Die Wartburg ist einer von mehreren Orten in Deutschland, deren Bedeutung für die deutsche Demokratiegeschichte im öffentlichen Bewusstsein zu wenig verankert sind.

Mein Dank gilt an dieser Stelle der Gesellschaft zur Erforschung der Demokratiegeschichte, der AG „Orte der Demokratiegeschichte“ und dem Verein Weimarer Republik. Sie und andere setzen sich für diese Orte der deutschen Demokratiegeschichte in Ostdeutschland ein. Bisher waren vor allem Orte in Westdeutschland wie die Paulskirche im Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung. Ihre Arbeit rückt die lange und für Gesamtdeutschland wichtige Demokratietradition Ostdeutschlands stärker in den Fokus. Es geht Ihnen um eine „identitätsstiftende Demokratieerinnerung“ und um die Stärkung unserer heutigen Demokratie. Dafür danke ich Ihnen herzlich und unterstütze ihre Arbeit auch in Zukunft gern.

Aber auch für das Wartburgfest gilt: Die Erinnerung daran ist ambivalent und in Teilen schwierig. Es gibt Licht und Schatten. Das ist einer der Gründe, weshalb das Fest in der offiziellen Erinnerungskultur Deutschlands lange Zeit kaum vorkam.

In diese Lücke sind rechts-nationale Burschenschaften gestoßen. Sie missbrauchen das Wartburgfest für eine völkische Erzählung der deutschen Geschichte. Bis 2014 fand hier auf der Wartburg der „Burschentag“ der Deutschen Burschenschaft statt.

Wir müssen das Wartburgfest in die Mitte der Auseinandersetzung mit der deutschen Demokratiegeschichte holen! Wir müssen uns kritisch mit dem Ereignis und seinen Widersprüchen auseinandersetzen! Wir müssen uns aber auch kritisch mit der gesamten Geschichte der deutschen Demokratiebewegung auseinandersetzen – mit all ihren Widersprüchen und Gegensätzen.

Das ist gelebte Erinnerungskultur!

Fest steht: Die euphorische Aufbruchsstimmung der Teilnehmer vermischte sich mit einem aggressiven Hass auf Frankreich. Auch antisemitische Äußerungen waren zu hören.

Zur Geschichte des Wartburgfests gehört auch, dass es abends nach dem Fest eine Bücherverbrennung auf dem Wartenberg gab. Verbrannt wurden keine echten Bücher, sondern Altpapier, beschriftet mit den Titeln von - vermeintlich - freiheitsfeindlichen Werken: Werke, die die Kleinstaaterei verteidigten, die junge Nationalbewegung kritisierten oder als frankreichfreundlich galten – u.a. der Code Napoléon oder Bücher jüdischer Autoren, zum Beispiel „Germanomanie“ von Saul Ascher.  

Die Symbolik der Bücherverbrennung wiegt aus heutiger Sicht schwer. Sie ruft unweigerlich Bilder der Bücherverbrennungen 1933 wach.

Gerade heute. Wo der widerwärtige Terror der Hamas sich gerade wieder gegen die Kultur richtet. Kultur, das ist der Ort, an dem wir uns zusammen erleben. Jenseits von allen politischen Konflikten. Deswegen ist es besonders abscheulich, wenn die Kultur angegriffen wird. Wenn Bücher verbrannt, wenn Menschen auf einem Musikfestival entführt, vergewaltigt, ermordet werden. Terror ist ein Zivilisationsbruch. Ein Bruch mit der Kultur. Und wir Deutschen wissen, dass mit dem Bruch der Kultur der Totalitarismus anfängt.

Deswegen sage ich auch hier und heute: Wenn wir heute das Wartburgfest der Demokratie begehen, müssen wir uns auch an diese dunkle Seite des Ereignisses erinnern.

Es ist manchmal schwer auszuhalten: einerseits das leuchtende Streben nach Demokratie, andererseits das hässliche Gesicht der Abwertung und des Ausschlusses anderer Menschen.

Die Erinnerung an das Wartburgfest ist kompliziert und auch umstritten.

Dass die Wartburg-Stiftung 2014 ein Verbot burschenschaftlicher Veranstaltungen ausgesprochen hat, war genau der richtige Weg. Und ich freue mich sehr, dass wir nun – fast neun Jahre später – das Wartburgfest gemeinsam in einen neuen, einen demokratischen Kontext setzen.

Dass rechte Akteure versuchen, die Geschichte umzuschreiben, ist kein Einzelfall. Immer wieder instrumentalisieren radikale Rechte geschichtliche Zusammenhänge, um ihre Weltsicht in den Köpfen der Menschen zu verankern. Dieses Vorgehen hat System.

Sie verunglimpfen unsere Erinnerungskultur als „Umerziehung“. Sie versuchen auch, die Erinnerung an die Friedliche Revolution für sich zu vereinnahmen. Sie plakatieren in Wahlkämpfen „Vollende die Wende“ – und meinen damit die Abschaffung unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung.

Dagegen anzugehen, ist eine dauerhafte Aufgabe auf vielen Ebenen.

Die Feinde der Freiheit wollen nicht nur die Geschichte umdeuten, sondern auch unsere Idee von Europa aushöhlen.

1817 wollten die Studenten Schluss machen mit der deutschen Kleinstaaterei. Dies ist auf die Gegenwart übertragen auch der richtige Ansatz für Europa. Wir können in Europa die Probleme nur gemeinsam und nicht gegeneinander lösen. Wir brauchen einen starken europäischen Raum. Wir brauchen ein starkes europäisches Miteinander.

Daher freue ich mich sehr, dass wir heute mit dem „Wartburg-Fest der Demokratie“ eine neue Tradition mit einer starken europäischen Perspektive begründen. Heute sind internationale Studierende dabei. Junge Menschen aus verschiedenen Ländern, die sich über den Zustand unserer Demokratien austauschen. Wie kann man besser an die Aufbruchsstimmung von 1817 erinnern?

Ich bin gespannt, was sie in diesen Tagen aber auch in den kommenden Jahren erarbeiten. Lernen Sie voneinander! Tauschen Sie sich aus und knüpfen Sie Netzwerke!

Wir dürfen das Wartburgfest, wir dürfen schwarz-rot-gold nicht den Feinden der Demokratie überlassen. WIR, die Demokratinnen und Demokraten sind stolz auf unser Land. WIR haben Einheit und Demokratie hier in Thüringen und Deutschland erkämpft. WIR – und das sage ich als Sozialdemokrat – haben uns gegen beide totalitäre Regime in Deutschland gewehrt!

Das Wartburgfest steht für die Wurzeln der Demokratie in ganz Deutschland. Es steht zugleich für die demokratische Tradition auf dem Gebiet des heutigen Ostdeutschlands. Eine Tradition, über die wir häufiger nachdenken und sprechen sollten – als positive Anknüpfungspunkte, aus denen sich Kraft schöpfen lässt. 

Die Historikerin Claudia Gatzka hat darauf hingewiesen, dass hier im 19. Jahrhundert nicht nur ein Zentrum der Industrialisierung und Urbanisierung war, sondern auch ein „Zentrum der Partizipation von unten“ und der Arbeiterbewegung. Es war kein Zufall, dass die Wiege der Sozialdemokratie in Sachsen und Thüringen lag. Hier in Eisenach wurde 1869 das Eisenacher Programm der Sozialdemokratie verabschiedet. In Sachsen und Thüringen formierten sich linke Kräfte mit ihren demokratischen Ansprüchen stärker als anderswo, aber als Gegenbewegung auch die antirevolutionären Kräfte.

Natürlich gehört auch die Weimarer Republik zur ostdeutschen Demokratietradition – diese erste Republik auf deutschem Boden, die von Beginn an unter Druck stand und von der wir für heute so viel lernen können.

Weitere bedeutende Ereignisse der deutschen Demokratiegeschichte sind zu nennen: der Volksaufstand am 17. Juni 1953 und die Demonstrationen im Herbst 1989 in Plauen, Leipzig, Berlin und in vielen anderen Städten.  

Die Ostdeutschen haben sich die Demokratie erfolgreich erkämpft. Darauf können und sollten wir stolz sein.

Das Streben nach Einheit und Freiheit findet sich sowohl 1817 als auch 1989 wieder. Es ist ein universeller Wunsch. 

Die Studenten der Wartburg und die DDR-Bürgerinnen und Bürger – sie hatten wirklich etwas zu verlieren. Sie kämpften für ihre Überzeugungen unter der Gefahr, ihre Freiheit und teilweise auch ihr Leben zu verlieren.

All diese Ereignisse zeigen: Demokratie muss erstritten werden. Und ebenso wichtig: Sie hat keine Ewigkeitsgarantie.

Genau darüber haben die amerikanischen Politikwissenschaftler Daniel Ziblatt und Steven Levitsky ein Buch geschrieben. Titel: „Wie Demokratien sterben“. Sie zeigen, dass diese meistens nicht mit einem großen Knall oder einer Revolution untergehen, sondern langsam dahinsiechen.

Weil sich niemand mehr demokratisch engagiert. Weil niemand aufsteht, wenn an den Grundfesten unseres Zusammenlebens gesägt wird. Weil sich die Bürgerinnen und Bürger nicht zuständig fühlen. So öffnet sich ein Raum für Antidemokraten. Sie füllen das Vakuum und schaffen die Demokratie – tragischerweise – mit den Mitteln der Demokratie ab.

So weit ist es in Deutschland noch nicht. Unsere Demokratie ist stabil. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben aus Weimar gelernt und unsere Demokratie wehrhaft gemacht.

Trotzdem braucht es Menschen, die sich für unsere Demokratie einsetzen. In Deutschland sind jedoch immer weniger Menschen bereit, sich demokratisch zu engagieren. Immer mehr halten die Demokratie für eine Selbstverständlichkeit – wie den Strom aus der Steckdose. Die FAZ-Journalistin Friederike Haupt formulierte das kürzlich so: „Die Politik soll die Bürger bedienen wie Kellner die Gäste im Restaurant. Gewünscht ist, dass alles zügig und in Topqualität kommt. Gezahlt wird alle vier Jahre in der Wahlkabine.“

Das Umfrageinstitut Allensbach stellt regelmäßig die Frage „Hat man als Bürger Einfluss auf das, was hier am Ort geschieht, oder ist man da machtlos?“. Das aktuelle Ergebnis ist erschreckend: 52 Prozent geben an, als Bürger machtlos zu sein. In Ostdeutschland sagen das sogar fast zwei Drittel.

Doch es gibt viele Beispiele für Menschen, die sich einbringen. An dieser Stelle meinen Dank an Katja Wolf und die engagierte Eisenacher Zivilgesellschaft, die sich seit Jahren gegen militante Neonazis engagieren.

Das kommende Jahr ist entscheidend für Ostdeutschland. 

2024 jährt sich die Friedliche Revolution zum 35. Mal.  Das Grundgesetz wird 75 Jahre alt. Zwei Anlässe zum Feiern. Zwei Anlässe, um als Gesellschaft über den Zustand unserer Demokratie nachzudenken.

Wir sollten uns alle die Frage stellen, wie wir zusammenleben wollen. Wie wir einander begegnen und wie wir unsere demokratischen Grundwerte heute und in Zukunft leben wollen. 

Aber nicht nur in Diskussionen, sondern auch praktisch gilt es, für unsere Demokratie einzutreten. Im kommenden Jahr stehen die Europawahlen an. In Sachsen, Brandenburg und hier in Thüringen werden die Landtage gewählt. In allen ostdeutschen Ländern außer Berlin finden zudem Kommunalwahlen statt.

Im kommenden Jahr werden im Osten die Weichen für das nächste Jahrzehnt neu gestellt. Für Ostdeutschland 2030. Und die Frage, die wir uns alle stellen müssen ist, in welchem Ostdeutschland wir in Zukunft gerne leben wollen.

Den Ostdeutschen muss die Demokratie nicht erklärt werden. Sie haben sie sich erkämpft.

Trotzdem brauchen wir wieder viel mehr Menschen, die sich vor Ort für die Demokratie engagieren. Die sich für Kommunalpolitik begeistern. Die Lust haben, über Schwimmbäder, Stadtbibliotheken, Jugendarbeit und lokale Wirtschaftsförderung zu entscheiden. Die ihre unmittelbare Umgebung gestalten wollen. Die sich füreinander einsetzen wollen.

Gestalten kostet Kraft. Etwas aufzubauen erfordert Kreativität. Sich für etwas einzusetzen verlangt Empathie.

Gestalten verlangt einen langen Atem. Vor allem erfordert es Mut.

Das können wir aus 1817 lernen. Das können wir aber aus 1989 lernen.

Die gute Nachricht: 30 Millionen Menschen engagieren sich in Deutschland ehrenamtlich. Viele davon auch in Ostdeutschland. Junge Menschen gehen mit Fridays for Future für das Klima auf die Straße, andere engagieren sich im Kleingartenverein oder in der Hilfe für Geflüchtete. Doch die wenigsten gehen in die Parteien.

Gerade hier im Osten sind viele Parteien vor Ort kaum noch sichtbar, weil sich zu wenig Menschen engagieren. Weil junge Menschen wegziehen oder weil die Wege zu weit sind. Die im Bundestag vertretenen Parteien haben in den ostdeutschen Flächenländern insgesamt gerade so viele Mitglieder wie in Hessen.

Das wirkt sich wiederrum auf die Repräsentation Ostdeutscher und ihre Themen in den Parteien und in der Politik aus.

Andere machen sich dies zu nutze. Sie schüren Ängste, befeuern Ressentiments und verraten dabei unsere Demokratie.

Sie zerstören. Sie bauen nichts auf.

Wenn wir uns dem nicht entgegenstellen, haben wir nichts aus der Geschichte gelernt.

Das betrifft auch die Entscheidung, wen wir wählen.

Wahlentscheidungen haben enorme Bedeutung.

Ein Beispiel aus Thüringen zur Bedeutung von Wahlen: Nach der Landtagswahl 1924 änderten sich die Machtverhältnisse im Thüringer Parlament. Die SPD und KPD hatten die Wahl verloren. Die neue Regierung unter Richard Leutheußer von der DVP kürzte den Etat des Weimarer Bauhauses um 50 Prozent. Daraufhin boten sich andere Städte den Lehrern und Schülern des Bauhauses als neue Standorte an. Das Bauhaus wurde immer stärker finanziell und politisch von der Thüringer Regierung unter Druck gesetzt. 1925 beschlossen die Verantwortlichen den Umzug nach Dessau, auch weil das politische Umfeld dort weltoffen und liberal war. Das zeigt: Jede Stimme zählt. Niemand ist machtlos. Der Ausgang von Wahlen verändert den Gang der Dinge.

Zurück zum Wartburgfest. Das Wartburgfest erinnert uns auch an die Kraft der Gemeinschaft, des Miteinanders und des Füreinanders. Es war ein Akt des zivilen Ungehorsams, bei dem junge Menschen zusammenkamen, um für eine gemeinsame Vision einzustehen.

Die Studenten haben sich damals sicher nicht gedacht, dass wir über 206 Jahre später immer noch über den 18. Oktober 1817 sprechen. Vieles ist möglich, wenn man sich gemeinsam für eine gute Sache einsetzt.

Ich habe es eingangs gesagt: Die Wartburg hatte in ihrer großen Geschichte ganz unterschiedliche Facetten und Gesichter – von Martin Luther bis Walther von der Vogelweide.

Es gibt auch eine Frau, an die ich erinnern möchte – Elisabeth von Thüringen, eine Landgräfin ungarischer Abstammung aus dem 13. Jahrhundert. Elisabeth von Thüringen setzte sich bereits in jungen Jahren für diejenigen ein, die weniger privilegiert waren.

Sie kümmerte sich um Kranke und Bedürftige. Sie spann Wolle und webte Tücher für die Armen. Sie wusch und bekleidete Verstorbene und sorgte für deren Beerdigung. Am Fuße der Wartburg ließ sie ein Spital errichten, in dem sie selbst arbeitete.

Kurzum, Elisabeth von Thüringen setzte sich für eine andere Welt und ein anderes Miteinander ein. Sie widmete ihr Leben ihren Mitmenschen und dem Gemeinwohl.

An ihrer Empathie und Zugewandtheit sollten wir uns ein Beispiel nehmen.

Davon braucht auch unsere Demokratie mehr: mehr Miteinander und mehr Füreinander. Mehr Geben als Nehmen.

Die österreichische Schriftstellerin Ingeborg Bachmann hat einmal geschrieben: „Die Geschichte lehrt unentwegt, sie findet bloß keine Schüler.“ Lassen Sie uns heute und in Zukunft wieder aufmerksamer auf das hören, was uns die Geschichte zu sagen hat.

Ich danke Ihnen noch einmal sehr für die Einladung und wünsche Ihnen für die Fortsetzung des Wartburgfests der Demokratie in den kommenden Jahren viel Erfolg.

Vielen Dank!