Ist ein Gas-Terminal auf Rügen wirklich noch nötig?

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Ostbeauftragter Carsten Schneider gestikuliert mit einem Mikro in der Hand

Staatsminister Carsten Schneider bei einer Podiumsdiskussion.

Foto: Henning Schacht

In der SPD duzt man sich und so tun das hier auch Carsten Schneider und Marvin Müller. Sie kennen einander und treffen sich für das Interview im Büro von Staatsminister Schneider im Bundeskanzleramt.

DIE ZEIT: Herr Müller, damit Deutschland mit genügend Gas versorgt wird, hat die Bundesregierung den Bau von vier LNG-Terminals beschlossen; eines davon soll auf Rügen entstehen. Sie kämpfen als kommunaler SPD-Politiker dagegen. Warum?

Marvin Müller: Eines will ich unbedingt sagen: Für die Energiesicherheit unseres Landes muss alles getan werden. Der Wegfall des russischen Gases war 2022 eine riesige Herausforderung, in dieser Not musste schnell gehandelt werden. Mit dem Wissen von heute aber muss man zu dem Schluss kommen, dass der Standort im Hafen Mukran nicht mehr gebraucht wird. Es ist nämlich auch ohne ihn mehr als genug Gas vorhanden. Außerdem gefährdet das Terminal den Naturschutz und den Tourismus auf Rügen. Deshalb verlangen wir von der Bundesregierung, auf das Terminal zu verzichten.

ZEIT: Herr Schneider, wenn Sie auf Rügen eine Wanderung zu den Kreidefelsen machen, wollen Sie doch sicher auch keine Gastanker sehen, oder?

Carsten Schneider: Man sieht vom Königsstuhl aus alle möglichen Schiffe, aber ausgerechnet die LNG-Tanker nicht. Ich habe dort vor allem Windräder gesehen. Das Landschaftsbild hat sich seit den Zeiten von Caspar David Friedrich ohnehin verändert. Für mich ist klar: Das LNG-Terminal in Mukran ist die Variante, die am wenigsten ins Landschaftsbild eingreift. Wir nutzen einen Industriehafen, der ohnehin schon da ist. Außerdem kommt nur ungefähr einmal in der Woche ein Tanker!

Müller: Ursprünglich war das Terminal ja vor der Küste des Ostseebads Sellin geplant. Weil es Proteste gab, ist man in den Industriehafen Mukran ausgewichen. Aber kein Mensch versteht, warum das eine Verbesserung sein soll. Die Umweltbelastung steigt dadurch sogar. Jetzt muss eine acht Kilometer längere Pipeline von Lubmin aus über Sellin bis Mukran verlegt werden. Und zwar viel näher an der Küste als ursprünglich geplant. Das ist ein erheblicher Eingriff, Carsten.

Schneider: Du hast richtig geschildert, dass die Bundesregierung mit der Abkehr vom Standort Sellin dem Wunsch der Bevölkerung nachgekommen ist. Und ich gebe zu, dass anfänglich Fehler gemacht worden sind. Lange Zeit herrschte auf Rügen große Unsicherheit. Sowohl die Firma RWE, die das Terminal ursprünglich bauen sollte, als auch das Wirtschaftsministerium haben die Bevölkerung zu wenig in Planung und Entscheidungsfindung einbezogen. Da ist Vertrauen verloren gegangen.

Müller: Du kannst doch nicht alle Probleme nur auf schlechte Kommunikation reduzieren. Es geht hier um ein viel tiefer liegendes Vertrauensproblem. Ich bin erst im Jahr 2000 geboren, ich habe die katastrophalen Enttäuschungen und Probleme der Neunzigerjahre nicht erlebt, aber jeder, der hier aufgewachsen ist, weiß, dass es im Osten eine andere Sensibilität braucht, wenn man so große Projekte initiieren will. Da wünsche ich mir gerade vom Ostbeauftragten wirklich mehr! Jetzt zu sagen, die Tanker kommen nur einmal in der Woche, glaubt nach all den Diskussionen niemand mehr. Und natürlich werden, sobald das Terminal steht, die Schiffe direkt am Königstuhl vorbeifahren.

Schneider: Gut, dann reden wir nicht über Kommunikation, diskutieren wir in der Sache. Es gibt viele Gründe für das Terminal: Es geht um die Energieversorgung in Ostdeutschland, aber auch im Süden und in Teilen Ost- und Mitteleuropas. Von den LNG-Terminals im Westen gibt es nur begrenzte Leitungskapazitäten in den Osten. Wenn die – etwa an einem kalten Wintertag – am Limit sind oder nicht bereitstehen, könnte ein ganzer Landstrich abgeschnitten sein. Auf solche Szenarien müssen wir uns einstellen, wenn wir nicht mehr so angreifbar und verletzbar sein wollen.

ZEIT: Aber die deutschen Gasterminals sind schon jetzt bei Weitem nicht ausgelastet.

Schneider: Wir richten uns nach den Berechnungen der Bundesnetzagentur. Und zwar nach dem Worst-Case-Szenario. Die Auslastung der laufenden Anlagen sagt nichts über die Notwendigkeit des Terminals in Mukran aus. Zum einen gibt es noch Leitungsengpässe, sodass an der Nordsee noch gar nicht mit voller Leistung eingespeist werden kann, zum anderen war es bis vor Kurzem noch warm. An kalten Tagen kann der Verbrauch schnell steigen, und das muss der Maßstab sein, denn die Versorgungssicherheit der Bevölkerung hat Priorität. Dafür tragen wir die Verantwortung.

ZEIT: Der ehemalige Umweltminister Jürgen Trittin von den Grünen sieht das anders, er spricht von Angstszenarien und wirft der Bundesregierung vor, das Land weiter an fossile Energieträger zu fesseln.

Schneider: Wenn man grüner Politiker ist und generell nicht möchte, dass es fossile Energie gibt, kann man so argumentieren. Ich bin Bankkaufmann und kein Ingenieur. Ich muss damit rechnen, dass wir strenge Winter haben werden. Zudem: Was ist, wenn es wieder einen Anschlag auf eine Pipeline gibt? Wir wollen uns nicht erpressbar machen, dafür müssen wir mit Redundanzen planen. Wenn ich das nicht tue, gefährde ich nicht nur Unternehmen und Wohlstand speziell in Ostdeutschland, sondern im Zweifel auch die politische Souveränität Deutschlands. All das will ich nicht.

Müller: Robert Habeck hat im Mai einen Brief an die Bundestagsabgeordneten der Ampelparteien verschickt. Darin hieß es, dass er am bestehenden Gasnetz festhalten möchte, damit es keine Neubauten von Leitungen im Westen gibt. Viele Rüganer glauben, Habeck will nur den Westen schonen.

Schneider: Das stimmt nicht. Habeck wollte damit sagen, dass wir mit der jetzigen Lösung an Land keine neuen Leitungen bauen müssen, sondern die bestehenden nutzen können. Mukran wird ja an jene Infrastruktur angeschlossen, die wir einst wegen der Nord-Stream-Röhren gebaut haben.

Müller: Du argumentierst, dass es nur eine kleine Pipeline gebe, die Gas von West nach Ost bringen könne. Auch daran haben die Rüganer Zweifel. Kürzlich hat Tschechien einen Vertrag über Lieferungen aus dem Terminal in Stade geschlossen. Die sind also auch nicht, wie immer behauptet wurde, auf Mukran angewiesen, sondern dorthin wird Gas aus Westdeutschland fließen. Und es gibt ja große Röhren von Ost nach West. Ist es wirklich nicht möglich, die umzurüsten und die Fließrichtung umzudrehen? Wurde darüber nachgedacht? Ich glaube nicht. So verfestigt sich der Eindruck, dass man Belastungen im Westen nicht in Kauf nehmen möchte. Niemand würde auf die Idee kommen, vor Sylt ein solches Terminal zu bauen. Das ist undenkbar! Mit Rügen kann man es ja machen.

Schneider: Rügen ist doch viel größer als Sylt. Du inszenierst hier einen Ost-West-Konflikt. Das ist wohlfeil. Deine Argumente klingen für ostdeutsche Ohren gut, entsprechen aber nicht den Fakten. Die Terminals in Wilhelmshaven, Brunsbüttel und Stade sind übrigens ohne diese Diskussionen gebaut worden – und auch ohne finanzielle Forderungen. Nur auf Rügen sagen einige: Bitte nicht bei uns!

Müller: Weil der Osten über Nord Stream schon jahrzehntelang die Energieversorgung sichergestellt hat. Auch beim Thema Windkraft hat Mecklenburg-Vorpommern immer mehr getan als der Süden. Dennoch zahlen wir höhere Netzentgelte bei niedrigeren Löhnen. Bei den Leuten entsteht der Eindruck, wir bauen die Infrastruktur, nehmen Belastungen in Kauf und haben nichts davon.

ZEIT: Herr Schneider, was hat Rügen eigentlich von der Errichtung des Terminals?

Schneider: Erst einmal bezahlt die Firma Regas, die das Terminal betreibt, Steuern. Außerdem entstehen ungefähr 150 Jobs, die besser bezahlt sind als die im Tourismus. Aber das ist für mich nicht das Hauptargument. Sondern – neben der Versorgungssicherheit – auch der Fakt, dass in Mukran eine mögliche Wertschöpfungskette für Wasserstoff errichtet wird. Das ist eine langfristige Investition in die Region. Weißt du, Marvin, die eigentlichen Fragen scheinen mir viel eher zu sein: Wie lange funktioniert der Massentourismus eigentlich noch? Wem gehört eigentlich die Insel? Es entstehen überall Eigentumswohnungen, die ganz sicher nicht für die Rüganer sind. Da kostet der Quadratmeter in Binz schon mal 10.000 Euro. Man muss sehr gut geerbt haben, um sich das leisten zu können.

ZEIT: Wollen Sie darauf anspielen, dass sich an dem Terminal nur reiche Tourismusunternehmer stören, dass es sich um einen westdeutschen Wohlstandsprotest handele, wie Sie schon einmal sagten?

Schneider: Damit wollte ich provozieren und den Blick weiten. Man muss sich ja fragen, ob das alles gebürtige Rüganer und Ostdeutsche mit einem Bruttogehalt von 2.500 Euro sind, die dort protestieren. Bei einer der ersten Versammlungen saß mir der Bürgermeister von Binz gegenüber und sagte: Das ist mein Rechtsanwalt, das unser Kommunikationsberater, und wir werden auf jeden Fall klagen. Da war mir klar, dass hinter dem Protest viel Geld und handfeste wirtschaftliche Interessen stecken.

Müller: Es geht ja auch um die Zukunft des Tourismus! Ich aber kämpfe nicht für westdeutsche Hoteliers. Die sind mir egal. Die nehmen nämlich einfach ihr Geld und ziehen weiter nach Sylt oder Mallorca, falls keiner mehr auf einem industrialisierten Rügen Urlaub machen will. Ich kämpfe für die Menschen vor Ort. Also jene, die in den Neunzigern einen Kredit aufgenommen haben und heute einen Laden oder eine Bäckerei betreiben. Die sind auf jeden einzelnen Gast angewiesen, können nicht einfach verkaufen und woandershin gehen. Sie sind nämlich auf Rügen geboren und aufgewachsen. Und bei denen spüre ich große Zukunftsängste.

ZEIT: Glauben Sie wirklich, dass Touristen wegbleiben, weil LNG-Tanker in Mukran einlaufen?

Müller: Man muss die Ängste der Menschen ernst nehmen, ja. Die konkrete Belastung haben wir schon gespürt. Bislang laufen die Schiffe ja in Lubmin ein. Dort ist es schon passiert, dass Ladevorgänge abgebrochen werden mussten und Gas in die Luft geströmt ist. Das hat ein lautes, mehrere Nächte anhaltendes Wummern ausgelöst. Ich war selbst da und kann sagen: Niemand will dort Urlaub machen, wo tagelang die Kaffeetasse wackelt.

Schneider: Diese Sorgen nehme ich ernst. Aber ich habe mich schon ziemlich veralbert gefühlt, als ich kürzlich die Pläne für gigantische Hotels in der Binzer Bucht in Prora gesehen habe. Davon war vorher nie die Rede. Das sind doch viel gravierendere Eingriffe in die Natur als die jetzt in Mukran. Dagegen aber kämpft niemand – sondern nur gegen neue Industriearbeitsplätze.

Müller: Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Und natürlich gibt es auch gegen andere Vorhaben Proteste. In Prora sollte einmal eine Art Wohnturm entstehen. Das konnte mit einem Bürgerentscheid verhindert werden. Menschen, die sich gegen den Massentourismus stemmen, kämpfen auch gegen LNG. Ich würde dir wirklich empfehlen, Carsten, mit denen zu reden. Und anders als du glaubst, sitze ich keiner romantisierenden Vorstellung von Tourismus auf. Es gibt auf Rügen eine enorme soziale Schieflage, die Ost-West-Konflikte sind sehr groß. Wir leben in einer Niedriglohnregion, die gleichzeitig eine der teuersten Deutschlands ist. Und viel Geld geht in den Westen.

ZEIT: Und was entgegnen Sie auf den Vorwurf, diese gesellschaftliche Missstimmung mit Ihrem Protest noch anzuheizen?

Müller: Ich habe bei der Petition gegen das Terminal, die wir in den Bundestag eingereicht haben, etwas anderes erlebt. Diese Menschen haben sich nicht in den Demokratieverdruss geflüchtet, sondern das Petitionsrecht, ein urdemokratisches Prinzip, für sich genutzt. Am Ende kamen 60.000 Unterschriften zusammen. Bei 70.000 Einwohnern ist das schon eine Hausnummer! Wir haben das Thema eben nicht den Rechtsradikalen überlassen. Also jenen, die die Wut für nichts anderes als den Kampf gegen die Demokratie instrumentalisieren wollen.

ZEIT: Herr Schneider, spielen Sie mit dem Vertrauen der Menschen?

Schneider: Nein, im Gegenteil. Ich versuche, durch viele Gespräche vor Ort zu informieren und für Vertrauen zu werben. Ich spüre die Angst vor Veränderung – aber gleichzeitig wächst auch das Verständnis für die Entscheidung der Bundesregierung. Um auf Sassnitz zurückzukommen, also jene Stadt, zu der der Hafen Mukran gehört: Das ist eine alte Hafenstadt mit knapp 10.000 Einwohnern, in der stets Handel mit Russland und Fischerei betrieben wurde. Das ist alles weg. Fische gibt es in der Ostsee kaum noch zu fangen. Was macht man mit denen, die nicht nur im Tourismus arbeiten können? Da ist der Bund in der Verantwortung, Entwicklungsperspektiven zu bieten. Und ich habe großen Respekt vor dem Sassnitzer Bürgermeister. Der ist neu im Amt, parteilos und hat Ahnung, weil er selbst im Hafen gearbeitet hat. Dieser Mann kämpft entschlossen gegen all die Widerstände, weil er glaubt, dass das Terminal für die Stadt eine Chance ist.

Müller: Wir werden sehen, ob das wirklich der Fall ist. Am schlimmsten wäre es jedenfalls, wenn das Terminal gebaut würde und man später feststellt, dass es doch nicht gebraucht wird. Dann haben wir eine Investitionsruine und ein wirklich großes Problem. Allerdings laufen auch noch Klagen, womöglich können die den Bau noch verhindern.
Schneider: Ich denke, am Ende wird es zwei Gewinner geben. Das Terminal wird gebaut – das nutzt Deutschland und der Insel eben auch. Außerdem haben die Menschen einen demokratischen Prozess erlebt, der etwas bewirkt hat. Die LNG-Schiffe werden ja nun nicht in Sellin anlegen, sondern in Mukran. Rügen wird davon profitieren.

Das Gespräch erschien in der ZEIT am 14. Dezember 2023.