Ansiedlungen fördern wirtschaftliche Stabilisierung der Gesellschaft

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Interview mit DER SPIEGEL Ansiedlungen fördern wirtschaftliche Stabilisierung der Gesellschaft

Staatsminister Carsten Schneider spricht im Interview mit DER SPIEGEL über ostdeutsche Identität, Stimmungen in Ostdeutschland und warum Ansiedlungen im Osten so wichtig für die Stabilisierung der Regionen sind: „Es gibt mehr Arbeitsplätze, mehr Vertrauen in die Zukunft, mehr Zuzug.“

Staatsminister Schneider wird fotografiert

Ostbeauftragter Carsten Schneider

Foto: Bundeskanzleramt / bundesfoto / Christina Czybik

SPIEGEL: Herr Schneider, was an Ihnen ist ostdeutsch? 
Schneider: Der Geburtsort Erfurt. Die Jugend. Die Prägungen aus der DDR und der Nachwendezeit. 

SPIEGEL: Sie sind in einer Plattenbausiedlung aufgewachsen, in der die Rechten das Sagen hatten, Ihre Mutter und ihr Stiefvater haben nach der Wende Ihre Arbeit verloren. Was hat das mit Ihnen gemacht? 
Schneider: Diese Erfahrungen haben bei mir und in meiner Generation ein großes Bedürfnis nach Sicherheit ausgelöst. Wir hatten damals viel Freiheit, waren aber auch tief verunsichert. Wenn ich heute sehe, was auch Freunde von mir ihren Kindern an Erfahrung und Sicherheit bieten können – das war für meine Eltern nicht möglich, weil sie selbst total durch den Wolf gedreht wurden. 

SPIEGEL: Worin bestand damals Ihre Freiheit? 
Schneider: Für mich war das Ende der DDR eine Befreiung, ich habe das FDJ-Hemd weggeworfen, konnte reisen, sagen, was ich wollte, habe mit dem Leistungssport aufgehört. Ich war ja Radsportler als Jugendlicher, ich steckte voll im Drill. Damit war es vom einen Tag auf den anderen vorbei. Für mich war das alles ein großes Abenteuer. 

SPIEGEL: Gibt es so etwas wie eine ostdeutsche Identität? 
Schneider: Die hat sich erst in den letzten 10 Jahren so richtig entwickelt. Die tiefgreifenden Umbrüche mussten erst mal verarbeitet werden. Inzwischen lassen sich die Menschen nicht mehr alles gefallen. Es gibt ein größeres Selbstbewusstsein. Was mir am Osten gefällt: Die Leute sind direkt und ehrlich. Da geht es auch mal rauer zu. Das merke ich auch im persönlichen Gespräch und ich kann damit gut umgehen. Das Problem ist, dass sich im letzten Jahrzehnt noch etwas anderes herausgebildet hat. Ein Teil der Bevölkerung bezieht seine Informationen zunehmend aus sogenannten alternativen Medien, aus Telegram-Gruppen, von Verschwörungstheoretikern und Hetzern. Da ist eine Zwischenwelt entstanden. Ich führe Gespräche mit manchen Bürgern, mit denen ich mich nicht einmal mehr darauf einigen kann, dass die Erde rund ist. 

SPIEGEL: Es gibt keine Gesprächsgrundlage mehr. 
Schneider: Die muss ich oft erst herstellen. Ich hatte erst diese Woche an einem Infostand in Nordhausen eine Begegnung, die typisch war. Da kam eine ältere Dame mit AfD-Luftballon. Ich würde sagen, das war keine Rechtsextreme, aber die hatte schon sehr krude Ansichten über Zuwanderung und Migranten. Am Ende hatte sie Tränen in den Augen und hat vor mir geweint. 

SPIEGEL: Warum? 
Schneider: Die Frau ist einfach in eine Informationsspirale aus Falschinformationen geraten. Die hält sie für real. Sie erzählte mir, was die Ukrainer vermeintlich alles kriegen, die nach Deutschland geflüchtet sind – und sei es der Termin auf dem Amt, den die Deutschen angeblich nicht bekommen. Das glaubte diese Frau alles. Mir begegnet das immer wieder: Da sitzen Menschen nur noch in ihrer Wohnung und werden zugespamt von diesen Chatgruppen, jeden Tag. Bei denen entsteht natürlich ein sehr negatives, destruktives Bild von der Welt. 

SPIEGEL: Woher kommt die Wut im Osten? 
Schneider: Kürzlich war der südkoreanische Wiedervereinigungsminister bei mir, und er war auch in Weißwasser, eine wunderschöne Stadt in der Oberlausitz, saubere Innenstadt, schön sanierte Häuser, alles ganz großartig. Der Minister aus Seoul hat sich gewundert: Warum sind denn die Leute dort so schlecht gelaunt? Das konnte er gar nicht verstehen. 

SPIEGEL: Was haben Sie ihm gesagt? 
Schneider: Es gibt natürlich objektive strukturelle Unterschiede zwischen Ost und West und auch Benachteiligungen. Aber gerade auch die Linkspartei hat jahrzehntelang politisch davon gelebt, das Gefühl über das reale Maß hinaus zusätzlich zu verstärken. 

SPIEGEL: Der Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann nennt den Osten sogar nur eine Erfindung des Westens. 
Schneider: Ich kann mit dieser These nicht so viel anfangen. Aber natürlich gibt es reale Gründe für die Wut. Die Kluft bei den Löhnen, die immer noch deutliche Unterschiede aufweisen, und die Angleichung stagniert. Aber auch bei Eigentum und Erbschaften, das wirkt sich auf die Lebenschancen aus. 

SPIEGEL: Die Wut schlägt sich unter anderem in Wahlergebnissen und Umfragewerten für die AfD nieder, die viele im Westen verstört. Können Sie die Verstörung verstehen? 
Schneider: Ja, mich verstört das genauso. 

SPIEGEL: Woher kommen die Ergebnisse? 
Schneider: Wenn Sie sich die Demos angucken, sind da richtige Neonazis dabei, aber auch erstaunlich viele Selbständige und andere Leute aus der Mittelschicht. Unter den AfD-Hochburgen sind wenige sozial schwache Regionen, es gibt im Plattenbau nicht überproportional viele AfD-Anhänger. Die sitzen eher in den Einfamilienhäusern und haben Abstiegsangst. 

SPIEGEL: Zurecht? 
Schneider: Ängste sind ja nicht rational. Ich habe aber überhaupt kein Verständnis dafür, aus Angst AfD zu wählen, wenn ich genau weiß, wie rechtsextrem die Höcke-AfD in Thüringen ist. Aber natürlich kommt da auch eine Unzufriedenheit mit der Bundesregierung zum Ausdruck, deren Leistung gerade nicht unbedingt optimal ist. 

SPIEGEL: Was muss die Regierung anders machen? 
Schneider: Weniger öffentlich streiten, zum Beispiel. 

SPIEGEL: Nehmen wir an, Sie hätten am Kneipentresen eine halbe Stunde mit einem AfD-Wähler, der vielleicht mal Gerhard Schröder gut fand, mit der SPD aber nichts mehr anfangen kann. Was würden Sie ihm sagen, um ihn zu überzeugen? 
Schneider: Ich versuche erst mal herauszufinden, was ihn dazu treibt, AfD zu wählen. 

SPIEGEL: Und was sagen Sie ihm, warum er SPD wählen sollte? 
Schneider: Weil wir die Partei sind, die den sozialen Ausgleich sichert und zugleich fortschrittlich ist. Ich beteilige mich auch nicht daran, Deutschland schlecht zu reden. Die Lebenssituation vieler Leute ist heute viel besser als vor fünf Jahren. Das versuche ich zu erklären. 

SPIEGEL: Sie glauben, das reicht? 
Schneider: Es gibt auch Grenzen. Manche Leute werde ich nicht überzeugen. Ich werde mich nicht bei Rechtsextremen anbiedern. Die SPD ist eine internationalistische und keine nationalistische Partei. Und sie wird diese DNA niemals ändern. 

SPIEGEL: Es hat aber auch in der SPD-Anhängerschaft immer Ressentiments gegeben, nicht alle Ihrer Wähler waren weltoffene Linksliberale. Diese eher autoritär orientierten Menschen hat die SPD früher angesprochen und gebunden. Warum gelingt Ihnen das heute nicht mehr? 
Schneider: Das ist für die SPD überall schwieriger geworden, nicht allein in Ostdeutschland. Die AfD legt in den Umfragen überproportional im Osten zu, aber es ist kein Ostproblem. Wer das behauptet, macht sich einen schlanken Fuß. 

SPIEGEL: Es ist aber ein Unterschied, ob die AfD wie in Hessen bei 15 Prozent liegt oder in Thüringen bei 32 bis 34 Prozent. Und da wird im nächsten Jahr gewählt. 
Schneider: Absolut. Das Problem in Thüringen ist, dass es nur eine Minderheitsregierung gibt und die Union nicht so richtig weiß, was sie will. Das führt zur Destabilisierung des Landes. Dazu trägt auch die Bundes-CDU bei, die AfD und Linke gleichsetzt. Das macht die AfD in Thüringen nur noch stärker, weil die Leute sich denken: Ach, wenn die nicht schlimmer als die Linke sind, was soll dann schon passieren? 

SPIEGEL: Grünen-Chefin Ricarda Lang hat gerade in der Lausitz wieder einmal für einen noch früheren Kohleausstieg geworben, schon 2030. Ist auch so etwas ein Grund für die Wut? 
Schneider: Sie ist ein Beispiel dafür, wie die politische Rechte es schafft, ein Zerrbild eines Menschen zu zeichnen. Sie ist in rechten Chats immer wieder Ziel von übelster Hetze. In der Sache bin ich anderer Meinung als sie. Aber sie ist für viele zu einer Art Hassobjekt geworden. Das ist inakzeptabel.  

SPIEGEL: Was meinen Sie? 
Schneider: Ich habe vor einiger Zeit mit einem Tankwart geredet, den ich schon lange kenne. Der sagte, die Grünen müssten weg, und die Frau Lang gehe gar nicht. Er hat auch über ihr Äußeres hergezogen. Meine Antwort war: Ich akzeptiere das nicht, und du kennst sie ja auch gar nicht. Sie ist eine aufgeschlossene und emphatische Frau und eine sehr gute Politikerin. 

SPIEGEL: Gucken Sie sich diese Chats eigentlich an? 
Schneider: Nicht alles, da fehlt mir der Zugang. Aber ich kenne Leute, die mir einiges weiterschicken. Die Narrative sind meistens ein bisschen simpel, nach dem Motto: Die Russen sind ja so viel schlauer als der Westen. Handwerklich ist es teilweise clever gemacht, aber es ist nur destruktiv, nur schlecht gelaunt. Da sage ich den Leuten: Hört doch mal auf mit dem Dreck und schaltet das mal ab, lasst euch nicht runterziehen. Die Sonne scheint, wir gehen angeln und machen ein Bier auf. 

SPIEGEL: Noch mal zu den Grünen. Sie haben deren Forderung nach einem Kohleausstieg bis 2030 auch kritisiert. 
Schneider: Klar, von einem vorgezogenen Kohleausstieg halte ich wenig. Eine solche Idee hat mit der Fokussierung der Politik auf die Städte zu tun, die Menschen anderswo finden sich dabei in ihrer Lebenswelt nicht wieder. Ostdeutschland besteht bis auf Leipzig und Berlin zu großen Teilen aus ländlichem Raum. Und beim Kohleausstieg sollten wir weniger über eine Jahreszahl reden, sondern mehr über die Frage: Wie funktioniert das eigentlich? Die Rahmenbedingungen müssen stimmen. Das kann man nicht theoretisch entscheiden. Ohne die Kohlekraftwerke hätte es im vergangenen Winter finster ausgesehen. Wir brauchen den Ausbau, auch bei den Leitungen. Gerade Söder in Bayern hat das verhindert, weil er sich lieber mit den Protestlern gemein gemacht hat.

SPIEGEL: Sie sind 1998 mit 22 Jahren in den Bundestag eingezogen. Sie sind mehr als die Hälfte Ihres Lebens Teil des politischen Establishments, gehören also zu einer Gruppe, der viele Menschen nicht mehr vertrauen. Bekommen Sie das bei Ihren Besuchen im Land zu spüren? 
Schneider: Klar, das ist für mich aber nichts Neues. Es gab im Osten schon immer eine Grundskepsis. 

SPIEGEL: Wie äußert sich die? 
Schneider: Wenn Kollegen aus dem Westen zu Gast sind, sagen die schon mal am Infostand: Puh, ich brauch eine Pause. Es ist schon rau, derbe. Aber die Politikverdrossenheit ist für mich kein neues Phänomen. Es gab auch schon immer rechtsextreme Vollidioten. Die haben jetzt vielleicht mehr Luft unter den Flügeln und glauben, sie seien die dominante Kraft. 

SPIEGEL: Sind Teile des Ostens verloren? 
Schneider: Nee, glaube ich nicht. Im Osten ist die Wählerbindung viel schwächer. Und natürlich merkt man es, wenn die AfD im Thüringer Landtag 19 Abgeordnete hat und die SPD nur acht. Die machen viermal im Jahr eine Zeitung, die an alle Haushalte geht. Dafür hat die SPD vielleicht einmal in der Legislaturperiode das Geld. Sowas wirkt sich dann langfristig aus. 

SPIEGEL: Das Vertrauen in Politik erodiert auch im Westen, die AfD liegt bundesweit um die 20 Prozent. 
Schneider: Wir hatten und haben drei riesige Krisen hintereinander, das hat Folgen. Die Flüchtlingskrise, dann die Corona-Pandemie und jetzt die Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Im Umgang mit Corona waren die Leute im Osten übrigens deutlich geschmeidiger. Ich würde sogar sagen: lebensklüger. 

SPIEGEL: Was meinen Sie damit? 
Schneider: Viele Frauen im Osten sind voll berufstätig. Was haben einige von ihnen gemacht, als die Kitas und Schulen dicht waren?  Sie haben die Kinder gebündelt, immer zu zehnt, und haben sich abwechselnd um die Betreuung gekümmert – teilweise versteckt in einer Kleingartenanlage, denn offiziell war das ja verboten. 

SPIEGEL: Karl Lauterbach, Ihr heutiger Gesundheitsminister, hat in der Pandemie Kontrollen in Wohnungen gefordert. 
Schneider: Dem habe ich damals als Erster Parlamentarischer Geschäftsführer scharf widersprochen. 

SPIEGEL: Waren die Corona-Maßnahmen überzogen? 
Schneider: Am Anfang der Pandemie war natürlich Vorsicht das oberste Gebot. Später gab es insbesondere für die Schulen überzogene Regelungen. Ich habe bei den Gesetzesberatungen gekämpft und gefeilscht, damit die Sportplätze wieder für Kinder genutzt werden konnten. Am Ende haben wir uns auf fünf Kinder geeinigt, weil Frau Merkel auf keinen Fall mehr wollte. Da wurden natürlich auch Fehler gemacht. Die Menschen haben manches nicht verstanden, und nicht jede Regel war erklärbar. Das hat zu einem massiven Vertrauensverlust geführt. Die Suppe löffeln wir bis heute aus. 

SPIEGEL: Die Bundesregierung fördert jetzt die Ansiedlung von Chip-Fabriken im Osten mit vielen Milliarden Euro. Ist das auch Demokratieförderung? 
Schneider: Der Osten ist demokratisch. Wenn die AfD wie in Sonneberg eine Landratswahl gewinnt, dann ist das leider das Ergebnis einer demokratischen Wahl, auch wenn sie nicht meine Wahl war. Ich würde eher sagen, wir fördern da eine wirtschaftliche Stabilisierung der Gesellschaft. Das war eine bewusste politische Entscheidung, sie wird zu einer Stabilisierung der Regionen führen. Es gibt mehr Arbeitsplätze, mehr Vertrauen in die Zukunft, mehr Zuzug. 

SPIEGEL: Aber helfen solche Leuchtturmprojekte in der Breite? Die Wirtschaft im Osten hinkt hinterher, die Löhne sind geringer, die Menschen haben kaum Vermögen. 
Schneider: Solche Ansiedlungen führen dazu, dass das Lohnniveau insgesamt steigt. Nehmen Sie das Beispiel Zalando. Die zahlen keine enorm hohen Gehälter, haben das Niveau in Erfurt aber nach oben gezogen. Zalando hat da sein größtes Logistikzentrum gebaut mit 3500 Beschäftigten. Die haben viele Leute aus der Arbeitslosigkeit geholt und pro Stunde einfach mal im Schnitt zwei Euro mehr gezahlt als die anderen Firmen. Da sieht man übrigens, wie niedrig das Lohnniveau ist. 

SPIEGEL: Sie haben im vergangenen Jahr ein Grunderbe von 20.000 Euro vorgeschlagen, um gerade jungen Menschen im Osten eine Chance auf Wohlstand zu bieten. Offenbar hat die Idee kaum jemanden interessiert. Warum ist das so verpufft? 
Schneider: Die SPD führt diese Diskussion. Viele Menschen haben gerade im Osten nie die Chance, vom Zinseszins zu profitieren und ein Vermögen aufzubauen. Einfach weil da nichts ist, was vererbt werden könnte. Anderen wird qua Geburt alles in den Schoß gelegt, sie sind privilegiert, dank großer Erbschaften, die kaum besteuert werden. 

SPIEGEL: Sie haben jetzt hier mit zwei aus Westdeutschland stammenden Journalisten über den Osten gesprochen. Ist das ein Teil des Problems? 
Schneider: Ich finde es gut, dass Sie das machen und nicht nur Ostdeutsche über Ostdeutschland schreiben. Wir sollten uns generell wieder mehr gegenseitig zuhören. 
SPIEGEL: Herr Schneider, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.