„Wir brauchen qualifizierte Zuwanderung“

Interview mit der Süddeutschen Zeitung „Wir brauchen qualifizierte Zuwanderung“

Wie ist die Lage in Ostdeutschland? Der Beauftragte der Bundesregierung für Ostdeutschland, Carsten Schneider, im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung über die schlechte Stimmung trotz guter Wirtschaftszahlen, Milliardensubventionen für Intel und die Frage, was er von einem AfD-Verbot hält.


Staatsminister Carsten Schneider bei einer Podiumsdiskussion zum Tag der Deutschen Einheit 2023 in Hamburg

Staatsminister Carsten Schneider bei einer Podiumsdiskussion.

Foto: Bundesregierung/Dominik Butzmann

Wer wissen will, was alles gut läuft im Osten der Republik, fragt am besten Carsten Schneider, denn der ist als Ostbeauftragter der Bundesregierung qua Amt Optimist. Wer wissen will, warum die Stimmung trotzdem so schlecht und der Zulauf für die AfD so groß ist, der fragt am besten auch Carsten Schneider. Denn der 47-jährige Erfurter weiß aus eigener Erfahrung, was Umbrüche den Menschen abverlangen.

SZ: Herr Schneider, im Osten siedeln sich Zukunftsindustrien an wie nie seit der Wende. Trotzdem ist die Stimmung mies. Wie erklären Sie sich das?
Carsten Schneider: Es gibt eine schwer erträgliche Ungleichzeitigkeit des Seins. Auf der einen Seite positive Aussichten für Beschäftigte. Die Löhne steigen, es werden attraktive Jobs geschaffen. Aber sie werden erst in drei, vier Jahren tatsächlich da sein. Und die Leute im Osten glauben nach mancher unerfüllten Ankündigung in den letzten drei Jahrzehnten erst an Verbesserungen, wenn sie spürbar sind. Auf der anderen Seite haben wir eine angespannte gesellschaftliche Stimmung. Sie resultiert noch aus den Spaltungen der Corona-Zeit. Dann kam der Krieg dazu.

Hilft diese Überforderung den extremen Kräften im Land?
Es gibt eine tiefe Verunsicherung und einen gefährlichen Rückzug der Mitte aus dem öffentlichen Diskurs. Die AfD und ihre Unterstützer versuchen, die öffentliche Meinung zu bestimmen, und glauben, Rückenwind zu haben. Viele Menschen in der Mitte unserer Gesellschaft widersprechen kaum noch. Ich wünsche mir sehr, dass sich dies wieder ändert. Wir müssen der Larmoyanz und der Hetze entgegentreten, alle gemeinsam, SPD, CDU, Grüne, FDP und Linke.

Die Ampel hat bisher wenig zur Besserung beigetragen …
Durch das Erscheinungsbild der Koalition wurde die Stimmung teilweise noch verstärkt. Dabei ist die Stimmung schlechter als die Lage. Denn angesichts eines Krieges in Europa, der nicht nur unsagbares Leid über viele Menschen bringt, wurde auch unsere Energieversorgung gefährdet. Das haben wir gemeistert und einen Versorgungskollaps verhindert. Das nehmen aber die wenigsten wahr, auch weil die AfD die demokratischen Parteien und ihre Vertreter verächtlich macht.

Woher kommt die schlechte Laune?
Es wirkt wie ein Kater nach den vielen Krisen. Auch die steigenden Energiekosten zählen dazu. Ich hatte sehr emotionale Begegnungen mit Unternehmern. Und auch so etwas prägt ja die Stimmung vor Ort. Aber wenn wir als Regierung öffentlich geschlossener auftreten, dann merken auch mehr Bürger, dass wir gut durch die Krise kommen.

Das wäre der Stil. Inhaltlich kamen das Heizungsgesetz und das verbreitete Gefühl eines Kontrollverlustes bei der Migration als Reizthemen hinzu.
Die meisten Menschen wünschen sich eine Regierung, die das Land gut steuert, aber sie wollen nicht von ihr gestört werden. Und das Heizungsthema war in der Wahrnehmung vieler Menschen ein harter Eingriff in das Privatleben. In Thüringen sind die Häuser vielerorts nicht so viel wert. In manch einem Dorf im Kyffhäuserkreis kosten alle Häuser zusammengerechnet so viel wie ein Mietshaus in Berlin. Und wenn Sie dann den Leuten sagen, sie müssen in ihr Haus jetzt für mehrere Zehntausend Euro eine Wärmepumpe einbauen, dann erzeugt das natürlich Unsicherheiten.
Aber hier haben wir ja umgesteuert. Bei der Migration glaube ich, dass die beschlossenen Maßnahmen und die Einigung in der EU die irreguläre Zuwanderung dämpfen werden.

Es könnte bald eine ganz andere Migration in den Osten geben: Fachkräfte für die Chipfabriken. Vor Ort gibt es Befürchtungen, dass Einheimische wenig davon haben, weil sie diese Jobs nicht bekommen.
Ich sehe da großes Potenzial gerade für Rückkehrer, für meine Generation, die in den 1990er-Jahren nach dem Abitur nach NRW oder Baden-Württemberg gegangen sind, wo es attraktive Arbeitsplätze gab, und die dort den Wohlstand gemehrt haben. Nun treffe ich oft Leute, die zurückwollen. Erstens, weil es ihre Heimat ist. Zweitens, weil die Eltern älter werden und Unterstützung brauchen. Zum Dritten kommt hinzu, dass inzwischen viele spannende Jobs warten. Und die neuen Ansiedlungen werden das Lohnniveau heben. Wir können den Trend der vergangenen 30 Jahre aus Abwanderung und Schrumpfen jetzt umdrehen. Dafür brauchen wir qualifizierte Zuwanderung.

In einer Region wie der Lausitz, wo so viel Neues entsteht, liegt die AfD teils bei 35 Prozent. Spitzenkräfte aus dem Ausland könnte das eher abschrecken.
Auch ein weltoffener Mensch mit deutschen Wurzeln will vielleicht nicht in so einem Klima leben. Ich hatte zu einer Runde der Bürgermeister eingeladen, da waren kleinere Städte wie Arnstadt in Thüringen oder Rathenow in Brandenburg dabei. Immer weniger von ihnen sind Mitglied in einer Partei. Sie haben dadurch keine Anbindung an die Bundespolitik, müssen aber gleichzeitig einen Großteil der Gesetze umsetzen. Die Haltung dieser Bürgermeister und Landräte entscheidet wesentlich darüber, ob die Menschen vor Ort das auch akzeptieren. Die Kommunalpolitiker müssen unsere Unterstützung spüren. Gerade auch beim Thema Zuwanderung, das Rückgrat erfordert.

Wie schwer ist es, die Bürger zu überzeugen, dass es trotzdem viel Zuwanderung benötigt?
Wenn ich auf Veranstaltungen für gesteuerte Zuwanderung werbe, findet das immer eine Mehrheit im Raum gut. Denn natürlich hat Migration einen positiven Einfluss auf die Gesellschaft. In meiner Heimatstadt Erfurt hatten wir vor zehn Jahren eine Ausländerquote von drei Prozent. Heute haben wir mehr als zehn Prozent, und das funktioniert ohne größere Probleme. Gerade die Migration aus Polen oder der Slowakei führt zu einer Entlastung der anderen Arbeitnehmer, zum Beispiel in der Pflege. Wir bekommen so insgesamt deutlich mehr sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Die DDR war ein homogenes Land. Nun öffnet sich die Gesellschaft – langsam, aber wahrnehmbar. Das macht mir Hoffnung. Aber man muss klar trennen zwischen regulärer und irregulärer Migration.

Bleiben wir bei den jüngsten Ampel-Entscheidungen. Benzin, Heizen, Strom werden teurer. Die Bauern gehen schon auf die Barrikaden. Ist das Haushaltssparpaket nicht neuer Treibstoff für die AfD im Jahr 2024 – einem Jahr mit einer Europawahl sowie fünf Kommunal- und drei Landtagswahlen im Osten?
Das ist eine Belastung, keine Frage. Wir haben aber auch Verbesserungen durchgesetzt, wie beim Wohngeld oder durch den Mindestlohn, der auch die darüber liegenden Einkommen hat steigen lassen. Zudem ist der Benzinpreis jetzt deutlich niedriger als noch im Sommer nach dem Kriegsbeginn. Die Frage ist ja, ob es alternative Einsparungen in der aktuellen Haushaltslage gibt, auf die man sich einigen kann. Und da bin ich gespannt, wie das Parlament am Ende entscheiden wird.

Im Osten gibt es viele Pendler, die verfügbaren Einkommen sind geringer, die Rücklagen auch – die Belastungen sind doch größer.
Ja, aber der steigende CO2-Preis macht das Benzin ja nicht um 50 Cent teurer, sondern um vier bis fünf Cent. Ich halte die Entscheidungen für vertretbar, auch weil die Inflationsrate sinkt und viele Beschäftigte aufgrund guter Lohnabschlüsse mehr Geld verdienen werden. Für mich war der entscheidende Punkt der Einigung, dass es keine Sozialkürzungen gibt. Und dass wir weiter die großen Infrastrukturprojekte finanzieren, wie das Wasserstoffnetz, das für den Osten sehr wichtig ist, plus die Investitionen bei Halbleitern und Stahl.

Das Stahlwerk in Eisenhüttenstadt hat im Gegensatz zu anderen noch keinerlei Zusagen für eine Förderung durch den Bund. Dort ist wegen der Haushaltsprobleme das Zittern groß.
Wir unterstützen die Umstellung auf grünen Stahl. Auch für Eko-Stahl gibt es das Vorhaben zur finanziellen Hilfe, wie bei den anderen auch. Die beihilferechtliche Prüfung der EU-Kommission läuft und wird hoffentlich bald abgeschlossen.

Die Fördersumme von zehn Milliarden für die Intel-Ansiedlung hält die FDP für überflüssig.
Also mal grundsätzlich: Es lohnt sich zu investieren. Das werden gewerkschaftlich organisierte Jobs, die verdienen gutes Geld. Der entscheidende Punkt ist aber ein technologischer: unabhängiger zu sein von internationalen Lieferketten, die unsere wirtschaftlichen Perspektiven beeinträchtigen können. Die Förderungen vom Bund für die geplanten Halbleiterfabriken in Dresden und Magdeburg hätte es natürlich auch in Bayern oder im Ruhrgebiet gegeben, und es gibt sie übrigens auch im Saarland. Intel hat sich für Magdeburg entschieden, weil es der beste Standort ist. Dort gibt es grünen Strom, gute Infrastruktur, viel Fläche und die Bevölkerung ist Industrie-affin. Die Ansiedlung war vor Ort gewollt. Das hat Intel deutlich gespürt.

Wie soll sich eine solche Subvention wie bei Intel jemals rechnen?
Ich habe mir das vergleichbare Werk in Dublin angeschaut, da stehen die Maschinen für die Fertigung von High-End-Chips. Die haben dort 30 Milliarden Euro investiert und zahlen 1,5 Milliarden Euro an Steuern im Jahr. Ich gehe davon aus, dass sich diese Investition nach zehn bis 15 Jahren amortisiert.

Sie haben sich sehr eingesetzt für das Flüssigerdgas-Terminal auf Rügen. Mit dem Start vor Weihnachten hat es allerdings nicht geklappt.
Ich bin sehr zuversichtlich, dass das Terminal noch in diesem Winter fertig sein wird. Die Arbeiten gehen zügig voran. Das Terminal wird uns helfen, die Versorgungssicherheit für Ostdeutschland und auch für Bayern und Tschechien zu schaffen.

Wie groß ist die Gefahr, dass die AfD in gleich mehreren Bundesländern 2024 stärkste Kraft wird?
Sie hat mittlerweile einen stabilen Wählersockel. Der ist aber nicht so hoch wie die aktuellen Umfragewerte. Die AfD ist ausmobilisiert. Klar ist aber auch: Ein Teil der AfD-Wähler in Ost wie West will eine nationalistische, minderheitenfeindliche, rassistische Politik in Deutschland. Das sieht man ja auch in anderen europäischen Ländern. Es kann länger dauern, bis sich diese Entwicklung wieder abschwächt. Die besondere Herausforderung im Osten besteht darin, dass die demokratischen Parteien wenige Mitglieder haben und deshalb nur schwach gesellschaftlich verankert sind.

Befürworten Sie ein Verbot der AfD?
Davon halte ich gar nichts.

Warum nicht?
Ein Parteiverbot ist sehr schwer durchzusetzen. Die juristischen Erfolgschancen betrachte ich als gering. Entscheidend ist aber die politische Dimension: Wenn wir eine Partei verbieten, die uns nicht passt, die in Umfragen aber stabil vorne liegt, dann führt das zu noch größerer Solidarisierung mit ihr. Und das selbst von Leuten, die keine AfD-Sympathisanten oder -Wähler sind. Die Kollateralschäden wären sehr hoch. Das Ziel muss sein, die AfD inhaltlich zu stellen.

Wie?
Man muss herausstellen, was die Konsequenzen ihrer inhaltlichen Positionen wären. Sie hat gegen den Mindestlohn gestimmt. Sie will die Erbschaftsteuer abschaffen, also weniger Umverteilung. Sie pflegt in der Sozialpolitik das rückständige Gesellschaftsbild der 1950er-Jahre, das muss für viele ostdeutsche Frauen furchtbar sein. So oder so: Man muss die AfD jetzt richtig beim Wort nehmen. Ich sage deshalb den Leuten vor den Kommunalwahlen: Es ist euer Ort, ihr müsst dafür kämpfen. Die stille Mitte muss sich erheben, um diese Demokratie zu erhalten. Da müssen alle mithelfen. Dieser Aufgabe können wir uns nicht einfach entledigen, indem wir die AfD verbieten. Da würden wir es uns zu einfach machen.


Das Interview erschien am 03. Januar 2024 in der Süddeutschen Zeitung.
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