Bericht des Ostbeauftragten 2024
Vorwort von Carsten Schneider, Staatsminister beim Bundeskanzler und Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland
Liebe Bürgerinnen und Bürger,
2024 ist das Jahr der großen Jubiläen der Demokratie in Deutschland: Am 9. November jährt sich die Friedliche Revolution zum 35. Mal. Im Jahr 1989 erkämpften mutige Bürgerinnen und Bürger der DDR Freiheit und Demokratie. Sie kamen aus ganz unterschiedlichen Teilen der Gesellschaft und protestierten gewaltlos. Ein Jahr später konnte Deutschland wiedervereinigt werden. Dieses Jubiläum begehen wir im kommenden Jahr.
Die Menschen wollten eine freiheitliche Gesellschaft, wie sie das Grundgesetz garantiert. Es ist ein schöner Zufall, dass auch unsere Verfassung in diesem Jahr Jubiläum feiert: Seit 75 Jahren schon dient sie als bewährter Rahmen für das gesellschaftliche Zusammenleben – seit 1990 im wiedervereinigten Deutschland. Das Grundgesetz hat sich als zuverlässige Verfassung bewährt, die bundesweit, in Ost und West, eine hohe Zustimmung erfährt.
Auch in den anderen Staaten Ostmitteleuropas stand das Jahr 1989 im Zeichen des demokratischen Aufbruchs. In Polen errang die unabhängige Gewerkschaft Solidarność bei den ersten halb freien Wahlen einen Erdrutschsieg. In Ungarn wurden Stacheldraht und Signalanlagen an der Grenze zu Österreich abgebaut. In der Tschechoslowakei und den heutigen baltischen Staaten gingen von Woche zu Woche mehr Menschen auf die Straße. Diese Erfahrung verbindet die Menschen in allen diesen Ländern bis heute.
Mit der Wiedervereinigung und dem Ende des Kalten Krieges hat sich unser Land verändert. Der Osten, der Westen, ganz Deutschland. Im Innern wie auch in den Beziehungen nach außen musste sich Deutschland gewissermaßen neu erfinden.
Genau darum geht es in diesem Bericht des Beauftragten der Bundesregierung für Ostdeutschland, der nunmehr zum zweiten Mal erscheint. 20 Gastautorinnen und -autoren werfen einen individuellen Blick auf Ost- und Westdeutschland und beschäftigen sich mit der Frage, wie die vergangenen 35 Jahre unser Land geprägt haben. Welche Kontinuitäten gibt es? Welche Brüche? Wo haben wir gemeinsam Neuland betreten? Dabei wird deutlich: Beide Landesteile sind längst viel enger miteinander verwoben, als es manchmal scheint.
Zum Beispiel in der Wirtschaft. Ostdeutschland wächst seit zehn Jahren schneller als der Westen. In den vergangenen Jahren haben sich viele internationale Großkonzerne angesiedelt. Sie investieren in die grünen Zukunftstechnologien und schaffen moderne Arbeitsplätze. Das stärkt die Wirtschaft in ganz Deutschland.
Oder nehmen wir die Literatur. Dort machen sich immer mehr Autorinnen und Autoren aus Ostdeutschland einen Namen, die sich in ihren Werken mit ihrer Herkunft auseinandersetzen. Sie verkörpern ein neues ostdeutsches Selbstbewusstsein: zukunftsorientiert, weltoffen und avantgardistisch. Sie bestimmen den öffentlichen Diskurs über Deutschland wesentlich mit.
Auch gesellschaftlich hat seit 1989/90 ein enormer Austausch zwischen Ost und West stattgefunden. Mehr als fünf Millionen Menschen zogen bis heute aus Ostdeutschland nach Westdeutschland. Im selben Zeitraum gingen etwa drei Millionen Westdeutsche nach Ostdeutschland. Ehen, Partnerschaften und Freundschaften entstanden über die ehemalige innerdeutsche Grenze hinweg. Viele junge Deutsche aus diesen Familien können und wollen gar nicht mehr sagen, ob sie nun west- oder ostdeutsch sind.
Das wiedervereinte Deutschland war von Beginn an Teil der EU und auch der NATO. Damit genoss Deutschland im Vergleich zu den übrigen Ländern Ostmitteleuropas ein ungeheures Privileg. Deren Bevölkerungen hatten für sich Ende der 1980er-Jahre zwar ebenfalls Freiheit und Demokratie erstritten, mussten anschließend aber wesentlich länger auf die Aufnahme in die westlichen Bündnisstrukturen warten. Vor dem Hintergrund seiner doppelten Erfahrung mit der politischen Teilung sowie der Ost- und Westgeschichte hat Deutschland sich für die EU-Osterweiterung starkgemacht. Bis heute ist unser Land eine wichtige Brücke zwischen den „alten“ EU-Staaten und den längst nicht mehr neuen Mitgliedsländern im Osten. Davon zeugen unzählige Städtepartnerschaften, ein lebendiger Jugendaustausch und die Präsenz deutscher Stiftungen und Kulturmittler in der ganzen Region.
Ebenso fällt Deutschland in internationalen Krisensituationen heute ein ganz anderes Gewicht zu. Anfang der 1990er-Jahre wurde Deutschlands neu erlangte Souveränität noch misstrauisch beäugt, heute ist unser Land ein unumstritten wichtiger und zuverlässiger sicherheitspolitischer Akteur. Die internationalen Gastautoren in diesem Bericht, der ehemalige polnische Staatspräsident Lech Wałęsa und der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis, ermuntern Deutschland dazu, sich außen- und europapolitisch noch stärker zu engagieren. Dass sie uns dieses Vertrauen entgegenbringen, verstehe ich vor dem Hintergrund unserer Geschichte als eine besondere Auszeichnung.
Diese Beispiele zeigen: Deutschland hat sich als ganzes Land gewandelt. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir nun in vollständiger Homogenität leben. Der kürzlich veröffentlichte Gleichwertigkeitsbericht der Bundesregierung vergleicht unter anderem anhand von 42 Indikatoren die Lebensverhältnisse in allen Kreisen und kreisfreien Städten in Deutschland. Es gibt weiterhin Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland. Etwa bei den Durchschnittseinkommen, der Wirtschaftskraft oder auch der Lebenserwartung. Der Osten hat bei dynamischer Entwicklung im Westen in den vergangenen Jahrzehnten zwar erheblich aufgeholt, doch es bleibt noch einiges zu tun, damit gleichwertige Lebensverhältnisse erreicht werden. Ich setze mich deshalb dafür ein, dass mehr Bundesbehörden in Ostdeutschland angesiedelt werden und neue Arbeitsplätze entstehen.
Ein Beispiel: Allein in der Lausitz werden durch das Investitionsgesetz Kohleregionen mehr als 2.000 neue Stellen geschaffen, von denen insbesondere die Bevölkerung vor Ort profitiert. Weitere zentrale Gebiete meiner Arbeit für gleichwertige Lebensverhältnisse werden in diesem Bericht vorgestellt.
Zum ganzen Bild gehört allerdings auch: Bei manchen Indikatoren bleibt der Westen hinter dem Osten zurück. Zum Beispiel bei der Verfügbarkeit von Kinderbetreuung oder wenn es um gleiche Löhne von Männern und Frauen geht. In wieder anderen Bereichen bestehen kaum noch regionale Ungleichheiten, oder sie verlaufen jenseits der Trennlinie von Ost und West, etwa zwischen Stadt und Land.
Das Gesamtbild ist also differenziert. Im Jahr 2024 ist nicht ein Landesteil (Westdeutschland) die Blaupause für den anderen (Ostdeutschland). Stattdessen existiert eine regionale Vielfalt, von deren Kraft das ganze Land profitiert. Weil wir uns ergänzen und voneinander lernen können. Die genannten Jubiläen sind ein guter Anlass, um als Gesellschaft über regionale Unterschiede, Ähnlichkeiten und gemeinsame Herausforderungen ins Gespräch zu kommen.
Zugleich ist 2024 ein wichtiges Wahljahr: Im Juni fanden die Europawahlen sowie Kommunalwahlen in acht Bundesländern statt, im September Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg. Die Wahlbeteiligung war überdurchschnittlich hoch. Das zeigt: Unsere Demokratie ist lebendig. In den Ergebnissen kommen der Unmut vieler Menschen über die Lebensumstände vor Ort zum Ausdruck, ebenso wie große Sorgen um die Zukunft. Hinzu kommt: Auch 35 Jahre nach der Friedlichen Revolution fühlen sich viele Ostdeutsche als Bürger zweiter Klasse. Für die Politik sind die Wahlen ein Auftrag, die Herausforderungen konsequenter anzupacken und Lösungen zu erarbeiten.
Leider waren die Wahlkämpfe teilweise überschattet von populistischen Kampagnen und sogar von politischer Gewalt. Kandidatinnen und Kandidaten wurden beleidigt und körperlich angegangen. Diesen Terror einiger Weniger dürfen wir nicht hinnehmen. Es ist Zeit für den lauten Widerspruch der großen Mehrheit, die eine offene und freiheitliche Gesellschaft will. Diese gesellschaftliche Mitte muss all denjenigen, die Verantwortung übernehmen und sich für das Gemeinwohl einsetzen, weiter den Rücken stärken. Die Demonstrationen gegen Rechtsextremismus Anfang des Jahres, auch in vielen kleineren Orten, sind deshalb ein wichtiges Signal. Doch sie reichen längst nicht aus. Demokratie funktioniert nicht nur über Protest, sondern auch durch das aktive Mitmachen und Gestalten. Bis heute sind viele Ostdeutsche zurückhaltend, in politische Organisationen einzutreten. Doch wer die Zukunft unseres Landes nicht den Extremisten überlassen will, kann und sollte sich zum Beispiel in Parteien, Gewerkschaften oder Vereinen engagieren. Denn genau hier werden die politischen Weichen gestellt und genau hier haben alle die Chance mitzubestimmen.
Wenn die Demokratie unter Druck gerät, ist das auch aus wirtschaftlicher Perspektive ein großes Problem. Denn Deutschland ist auf mutige Investitionen und qualifizierte Arbeitskräfte dringend angewiesen. Doch wo Populisten den Ton der öffentlichen Debatte prägen, werden Menschen von anderswo abgeschreckt. Auch wird kaum ein Investor sein Geld in einer Region lassen, in der unberechenbare Extremisten die Politik mitgestalten. Zudem gelingen bahnbrechende Erfindungen nur selten in einem Klima der Angst und Engstirnigkeit.
Ein Schlüssel zur Stärkung der Demokratie ist gesellschaftlicher Zusammenhalt. Wo der Zusammenhalt als stark wahrgenommen wird, sind die Menschen tendenziell zufriedener mit der Lebensqualität vor Ort, aber auch mit der Demokratie und staatlichen Institutionen. Zugleich finden extremistische und menschenfeindliche Parolen weniger Widerhall.
Doch wie ist es um den Zusammenhalt und das Wir-Gefühl in Deutschland tatsächlich bestellt? Wie nehmen die Menschen in verschiedenen Regionen den Zusammenhalt wahr? Und welche Vorstellung von einer guten Gesellschaft haben sie? Antworten auf diese und weitere Fragen liefert die von mir geförderte repräsentative Befragung „Deutschland-Monitor“ mit dem diesjährigen Schwerpunkt „In welcher Gesellschaft wollen wir leben?“. Zentrale Ergebnisse stellen die Autorinnen und Autoren der Studie ab Seite 153 dar.
Noch immer fließen ostdeutsche Perspektiven zu selten in die öffentliche Debatte ein. Das liegt auch daran, dass zu wenige Ostdeutsche Führungspositionen innehaben. Ob in Medien, Wirtschaft oder Rechtsprechung – überall sind die Chefetagen weit überdurchschnittlich mit Westdeutschen besetzt. Ostdeutsche machen fast 20 Prozent der deutschen Bevölkerung aus. Der von mir initiierte Elitenmonitor zeigt aber: Nur 8 Prozent der führenden Medienmacher und nur 4 Prozent der Wirtschaftsbosse sind in Ostdeutschland geboren. So verschenkt unser Land viel wertvolles Potenzial. Eine ostdeutsche Herkunft ist kein Makel, sondern ein Qualitätsmerkmal.
Erstmals hat dies eine Bundesregierung nun zum Thema gemacht und ein Konzept beschlossen, mit dem wir den Anteil von Ostdeutschen in Führungspositionen des Bundes maßgeblich erhöhen wollen. Die Ergebnisse der diesjährigen Erhebung sowie neue Erkenntnisse aus dem Elitenmonitor finden sich ab Seite 136.
Eine weitere Grundlage für Zusammenhalt und Demokratie ist das bürgerschaftliche Engagement. Zum Glück sind sehr viele Menschen in Ost wie West bereit, Verantwortung zu übernehmen und sich für das Gemeinwohl und ihre Mitmenschen einzusetzen. Gerade strukturschwächere und ländlichere Regionen leben maßgeblich davon, dass sich Bürgerinnen und Bürger mit Freude und Hingabe in den Freiwilligen Feuerwehren, in Sportclubs, in Kultur- und Heimatinitiativen, in Kleingarten- und Anglervereinen engagieren. Die Entwicklung der Zivilgesellschaft gerade in Ostdeutschland ist in Teilen beachtlich.
Allerdings – und das ist keine Kleinigkeit: Vielerorts im Osten hapert es noch an den strukturellen und monetären Voraussetzungen für reibungsloses ehrenamtliches Engagement. Nicht nur existieren in Ostdeutschland deutlich weniger Stiftungen als im Westen (von 23.000 Stiftungen sitzen lediglich 7 Prozent im Osten). Auch fehlen professionelle Anlaufstellen, Beratungsmöglichkeiten und Unterstützungsstrukturen und -leistungen. Kein Wunder, dass sich viele Ehrenamtliche als Einzelkämpfer fühlen. Dazu passt, dass Vereine im Osten im Durchschnitt kleiner und finanzschwächer sind als im Westen.
Das müssen wir unbedingt ändern und die Bedingungen für ehrenamtliches Engagement gerade im Osten verbessern. Ich bin deshalb sehr stolz auf die neu gegründete Initiative „Zukunftswege Ost“, deren Schirmherr ich bin. Bundesweit tätige private Stiftungen haben sich hier zusammengeschlossen, um Initiativen und Vereine speziell im ländlichen Raum in Ostdeutschland zu stärken.
Auch war es ein wichtiges Signal, dass die 2020 von der Bundesregierung gegründete Stiftung für Engagement und Ehrenamt ihren Sitz in Neustrelitz genommen hat und von dort aus ehrenamtliche Projekte in ganz Deutschland berät und fördert. Gemeinsam mit der Stiftung veranstalte ich den Wettbewerb „machen!“. Jährlich zeichne ich dabei 200 ostdeutsche Vereine für ihr Engagement aus. Sie erhalten Preisgelder in Höhe von über 800.000 Euro, um gute Projektideen umzusetzen, die den Zusammenhalt vor Ort stärken. Genau dieses Engagement brauchen wir, um wieder mehr Raum für Begegnungen und Dialog zu schaffen!
Mehr Raum für das Gespräch planen wir gerade auch in Halle. Im Herzen Deutschlands wird das „Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“ entstehen. Dort können Bürgerinnen und Bürger in den Austausch und in konstruktiven Streit gehen. Über die Vergangenheit, vor allem aber auch über Zukunftsthemen. Unsere ostmitteleuropäischen Nachbarn werden daran intensiv beteiligt. Es soll darum gehen, Gehör zu finden und zu schenken – und neue Perspektiven zuzulassen.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat in seiner Rede zum 75. Jahrestag des Grundgesetzes gesagt: „Zusammenhalt heißt nicht, dass alle einer Meinung sind. Zusammenhalt heißt zu wissen, dass wir einander brauchen, auch wenn wir unterschiedlich sind. Dieses Wissen entsteht aus Erfahrung, aus Begegnung – und die müssen wir stärken.“
Um genau dieses vielfältige Deutschland geht es auch im Bericht. Ich danke den Gastautorinnen und -autoren für zahlreiche neue Perspektiven und wünsche Ihnen eine spannende Lektüre!