Prof. Dr. Jörg Ganzenmüller
Die Frage nach dem Umgang mit sowjetischen Kriegsdenkmälern, die überall in Ost- und Mitteleuropa und auch in Deutschland entweder von den sowjetischen Besatzungsmächten oder lokalen kommunistischen Regimen errichtet wurden, stellte sich bereits Anfang der 1990er Jahre in den Ländern, die sich aus dem sowjetischen Machtbereich befreit haben.
Im Jahr 1990 waren die Sorgen im In- und Ausland groß, die anstehende deutsche Einheit könnte ein Wiederaufleben des Nationalismus in Deutschland befördern. Damit verbunden war die Befürchtung, die Deutschen würden sich nun endgültig ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit entledigen. Tatsächlich ist das Gegenteil passiert: Die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit erlebte in den 1990er-Jahren einen Boom, der die deutsche Geschichtskultur nachhaltig verändert hat. Dabei hätten die Ausgangspunkte in Ost- und Westdeutschland kaum unterschiedlicher sein können. Nicht zuletzt deshalb stellt sich vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Wahlergebnisse in Ost und West heute die Frage, inwieweit die geschichtskulturellen Prägungen vor 1989 auch 35 Jahre nach der Friedlichen Revolution noch eine Rolle im vereinten Deutschland spielen.
In der Bundesrepublik war der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zunächst von Verdrängung und Exkulpation geprägt. Die überwiegende Mehrheit der Westdeutschen zog eine scharfe Trennlinie zwischen Regime und Bevölkerung und betrachtete sich selbst als von Hitler „verführt“ und als Opfer des Krieges. Es waren insbesondere die Überlebenden der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, welche die Aufarbeitung gegen alle Widerstände anmahnten und beförderten. In einer unabhängigen Justiz fanden sich ebenfalls Akteure, die eine strafrechtliche Verfolgung der Täter vorantrieben, wenn sie dabei auch auf erhebliche Widerstände stießen. Auch die Medien spielten eine wichtige Rolle bei der Konfrontation der Deutschen mit den weithin verdrängten Seiten der NS-Vergangenheit. So erreichte die amerikanische TV-Serie „Holocaust“ 1979 ein großes Publikum, das sich mitunter erstmals mit dem Thema auseinandersetzte. Zudem führte ein Generationenwechsel in Schulen, Hochschulen und Einrichtungen der politischen Bildung zu einer stärkeren Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der bundesdeutschen Bildungsarbeit. Schließlich engagierten sich unterschiedliche gesellschaftliche Akteure zunehmend, die historischen Orte der nationalsozialistischen Verbrechen zu sichern und als Lernorte zu nutzen.
Ganz anders war die Entwicklung in der DDR. Der staatlich verordnete Antifaschismus führte dazu, dass an den Orten der ehemaligen Konzentrationslager noch in den 1950er-Jahren staatliche Mahn- und Gedenkstätten entstanden. Diese sicherten die historischen Orte, überformten sie aber zugleich stark mit einer Infrastruktur für staatliche Gedenkrituale. Gleichzeitig zog der Gründungsmythos der DDR eine direkte Linie vom kommunistischen Widerstand in den Konzentrationslagern zum staatlichen Antifaschismus. Dies war eine andere Form der Exkulpation, da personelle und mentale Kontinuitäten zum Nationalsozialismus als rein bundesdeutsches Problem gesehen und damit externalisiert wurden. Zugleich betrachtete die SED den Faschismus als ein Problem der Vergangenheit, da allein die Verwirklichung einer sozialistischen Gesellschaft dessen Wiederkehr verhindere.
In beiden deutschen Staaten gab es somit das gleiche Kommunikationsbedürfnis: Beide Nachkriegsgesellschaften wollten möglichst wenig mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zu tun haben. Allerdings kam man diesem Bedürfnis in beiden deutschen Staaten auf ganz unterschiedliche Weise nach. Während die westdeutsche Gesellschaft mit der Rede von der „Stunde null“ einen „Schlussstrich“ zwischen der Zeit vor und nach 1945 zu ziehen versuchte, verlagerte die ostdeutsche Gesellschaft die Kontinuitätsfrage territorial in die Bundesrepublik, indem man diese als alleinigen Nachfolgestaat des Deutschen Reiches ansah. Die drängende Frage nach der gesellschaftlichen Beteiligung an den nationalsozialistischen Verbrechen wurde somit weder in West- noch in Ostdeutschland aufgearbeitet, wobei das westdeutsche Kommunikationsbedürfnis einem Wandel unterworfen war, der auf eine unabhängige Justiz, eine demokratische Öffentlichkeit und einen schrittweisen Elitenwandel zurückzuführen ist.
Dies stellte beide Seiten vor große Herausforderungen. Die Westdeutschen wurden mit einem ritualisierten Erinnern an den Nationalsozialismus konfrontiert, das man im vereinten Deutschland nicht fortsetzen wollte, aber auch nicht vollständig zurückweisen konnte. Insbesondere für die Nationalen Mahn- und Gedenkstätten musste ein neuer Weg gefunden werden, was letztlich dazu führte, dass die Bundesrepublik nun endlich auch die Verantwortung für die KZ-Gedenkstätten in Westdeutschland übernahm, die bis dahin stark von gesellschaftlichem Engagement getragen worden waren. Dies mündete 1999 in der ersten Gedenkstättenkonzeption des Bundes, die im Jahr 2008 fortgeschrieben wurde. Mit Blick auf die Gedenkstättenlandschaften wirkte die deutsche Einheit somit als ein Katalysator, der zur Anerkennung einer gesamtstaatlichen Verantwortung für die historischen Orte der nationalsozialistischen Diktatur führte.
Die Exkulpation der ostdeutschen Gesellschaft im Zeichen des Antifaschismus wurde durch die Frage nach der gesellschaftlichen Beteiligung an den Verbrechen des Nationalsozialismus zunehmend herausgefordert. Die Wehrmachtsausstellung von 1995 sowie die Thesen von Daniel Goldhagen aus dem Jahr 1996 lösten noch einmal hitzige Debatten über die Mittäterschaft der deutschen Gesellschaft aus und beförderten zugleich ein öffentliches Bewusstsein, hinter das künftige Diskussionen nicht mehr zurückfallen konnten. Zusätzlich kam eine breite historische Forschung in Gang, welche das Wissen über den Nationalsozialismus und seine Verbrechen auf eine ganz neue empirische Grundlage stellte. Einen symbolischen Abschluss fand diese Anerkennung der deutschen Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus im Jahr 2005 mit dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas im Herzen Berlins, der weitere Denkmalsetzungen folgten und vermutlich noch folgen werden.
Diese neuen Sichtweisen und Erkenntnisse trafen die ostdeutsche Gesellschaft in den 1990er- Jahren unvermittelter als die westdeutsche. Die alte Bundesrepublik hatte gewissermaßen einen Vorlauf, da sich hier seit den 1970er-Jahren zunehmend Menschen fanden, welche die Beteiligung an der Ausgrenzung, Beraubung und Ermordung der Juden in der Öffentlichkeit und in der Bildungsarbeit thematisierten und damit das Fundament für einen Wandel in der deutschen Geschichtskultur legten. In der DDR blieben hingegen diejenigen, die dem staatlich orchestrierten Geschichtsnarrativ widersprachen, Einzelkämpfer mit eng begrenzten Wirkungsmöglichkeiten. Erschwerend kam hinzu, dass eine Diskussion über das Verhalten der Menschen in der nationalsozialistischen Diktatur unausgesprochen die Rolle des Einzelnen in der SED-Diktatur mitverhandelte. Die Renaissance der Totalitarismustheorie in den 1990er-Jahren rührt nicht zuletzt aus dem Bedürfnis, die Verantwortung des Einzelnen in Diktaturen insgesamt zurückzuweisen.
Symptomatisch für die Konfrontation unterschiedlicher Sichtweisen auf den Nationalsozialismus war die Speziallagerdebatte. In der DDR war es ein offenes Geheimnis, dass die sowjetische Besatzungsmacht unter anderem ehemalige Konzentrationslager als Speziallager nutzte. Mit dem Ende der DDR brach dieses Tabu auf, und es begann eine zum Teil hitzig geführte Debatte darüber, inwieweit die ehemaligen Speziallagerhäftlinge Opfer des Stalinismus oder vielmehr nationalsozialistische Täter waren. Hier stießen nicht nur Überlebende der Konzentrationslager auf ehemalige Speziallagerinsassen, sondern wieder zwei Selbstbilder aufeinander: die Vorstellung von der ostdeutschen Gesellschaft als reinem Opfer zweier Diktaturen traf auf das Eingeständnis einer zutiefst mit dem Nationalsozialismus verstrickten deutschen Gesellschaft. Diese Debatte fiel in eine Zeit, in der viele Ostdeutsche im Zuge der Transformation bereits zahlreiche Entwertungserfahrungen gemacht hatten, sodass diese Konfrontation mit einer im Westen langsam gewachsenen Geschichtskultur auch als „Entwertung der eigenen Geschichte“ wahrgenommen wurde. Diese Konfrontation zweier Geschichtskulturen blieb nicht auf die Speziallager begrenzt, sondern fand im Lokalen häufig ganz spezifische Ausprägungen. Ein Beispiel von vielen ist die Debatte um den Jenaer Kinderarzt Jussuf Ibrahim. Er war ein hoch angesehener, vielfach ausgezeichneter Mediziner, an den sich noch viele Jenaerinnen und Jenaer erinnern konnten, da er ihnen einst selbst geholfen hatte. Als im Jahr 2000 öffentlich bekannt wurde, dass er während des Nationalsozialismus kranke Kinder zur Ermordung in die Thüringische Landesheilanstalt Stadtroda überstellt hatte, entspann sich eine hitzige Debatte, ob die nach ihm benannte Straße weiterhin seinen Namen tragen könne. Schnell stand der Vorwurf im Raum, „westdeutsche Historiker“ würden mit ihrer Sichtweise „die Ostdeutschen“ bevormunden, auch wenn die Konfliktlinie nicht so einfach zu ziehen war.
Vielmehr hat sich die deutsche Einheit als ein Katalysator erwiesen, der den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in Ost und West verändert hat. Dabei haben sich die Unterschiede zwischen den beiden Geschichtskulturen zunehmend eingeebnet. Und doch stellt sich die Frage, inwieweit es einen Zusammenhang zwischen der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und einer Bereitschaft, rechtsextreme Parteien zu wählen, gibt. Sicherlich haben die Ostdeutschen keine größere Affinität zum Nationalsozialismus als die Westdeutschen. Es sind allerdings ideologische Versatzstücke, wie die Sehnsucht nach einer Volksgemeinschaft, die in Ostdeutschland anschlussfähiger zu sein scheinen. Dies hat zum einen mit populären Formen der Vergemeinschaftung in der DDR zu tun, zum anderen aber auch mit fehlendem Wissen über die nationalsozialistische Volksgemeinschaft, für die eine gesellschaftliche Ausgrenzung von „Gemeinschaftsfremden“ stets konstitutiv war und sich bis zum Völkermord radikalisierte. Gerade deshalb ist es wichtig, sich weiterhin mit der gesellschaftlichen Basis von Diktaturen und autoritären Vorstellungen von Gesellschaft auseinanderzusetzen.
Prof. Dr. Jörg Ganzenmüller
ist Vorstandsvorsitzender der Stiftung Ettersberg in Weimar, die sich mit der Aufarbeitung von Diktaturen in Europa beschäftigt, und zugleich Inhaber der Professur für Europäischen Diktaturenvergleich an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.