Anke Rehlinger
Paris ist dem Saarland näher als Berlin. Eine Stunde und 50 Minuten. So lange braucht der Zug vom Saarbrücker Hauptbahnhof bis zum Pariser Gare de l’Est. Der Osten Deutschlands liegt vom Südwesten aus im Vergleich dazu auf den ersten Blick weit weg. Doch einiges verbindet uns an der Saar mit den östlichen Bundesländern mehr als zunächst vermutet. In historischen Fragen, bei aktuellen Herausforderungen und für die Zukunft.
Das erste „neue“ Bundesland im Deutschland der Nachkriegszeit war das Saarland. Am 14. Dezember 1955 beschloss der saarländische Landtag im Einvernehmen mit der französischen Nationalversammlung und dem Deutschen Bundestag den Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23. Knapp 35 Jahre später nutzte die Volkskammer der DDR bei ihrer Entscheidung zum Beitritt dieselbe Rechtsgrundlage wie 1955 das Saarland, um die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten auf dem schnellsten Wege zu ermöglichen. Durch die „große“ Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 wurde das bedeutsamste Ereignis der neueren saarländischen Geschichte umgetauft: Seitdem nennt man die Rückkehr des Saarlandes zum deutschen Staatsgebiet „die kleine Wiedervereinigung im Westen“.
Für das Saarland endeten damals 200 Jahre, in denen die Menschen an der Saar achtmal ihre Nationalzugehörigkeit und ihren Pass wechselten, ohne einmal ihr Dorf zu verlassen. Die Menschen in der DDR beendeten mit ihrem Ruf nach Freiheit und Demokratie die 45 Jahre währende Trennung einer Nation.
Und doch sind die Beitritte des Saarlandes 1955 und der ehemaligen DDR 1990 nicht zu vergleichen. Das Saarland wechselte weder das politische noch das ökonomische System. Der Beitritt des Saarlandes erfolgte als gemeinsamer, einvernehmlicher Beitrag zur Aussöhnung Frankreichs und Deutschlands. War das Ende des französischen Protektorats im Saarland eng verbunden mit der Gründung der „Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ als Vorläufer und Grundstein unserer heutigen EU, war das Ende der DDR verbunden mit dem Fall des Eisernen Vorhangs, dem Zerfall des sozialistischen Staatensystems in Osteuropa und dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung.
Und doch: Auch für die Saarländerinnen und Saarländer war der Beitritt in der Folge mit erheblichen politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungen verbunden. Und für die Menschen zwischen Ostsee und Erzgebirge brachte der politische und ökonomische Umbruch der Friedlichen Revolution eine erhebliche Veränderung der Lebensbedingungen mit vielen guten Folgen, aber auch manch heftiger Eruption.
Die Erfahrungen des Wandels einen das Saarland und den Osten Deutschlands auch wirtschaftlich. Wir kennen Strukturwandel.
Die 200-jährige Industriegeschichte des Saarlandes ist von Mut zum Wandel geprägt: vom Aufstieg und Ende der eigenen Kohleförderung, von stetig wechselnden Marktzugängen durch politische Veränderungen oder von disruptiven technologischen Entwicklungen – ob beim Einsatz des ersten Thomas-Konverters 1880 in einem saarländischen Stahlwerk bis hin zum „grünen Stahl“ der Zukunft auf Wasserstoffbasis.
Während sich im Saarland die Transformationen durch den notwendigen Weg zur Klimaneutralität in Stahl- und Automobilindustrie mit der Digitalisierung und der Globalisierung sowie der Energiekrise verschränken, bildet in Ostdeutschland die massive wirtschaftliche Transformation seit dem Ende der Planwirtschaft die Grundlage für die derzeitigen Veränderungen.
Der Osten Deutschlands ist dabei außerordentlich erfolgreich, auch dank massiver Unterstützung der Bundesregierung und der Solidarität der anderen Bundesländer. Ansiedlungen großer Unternehmen wie Tesla in Brandenburg oder Intel in Magdeburg sind wichtige Wegmarken. Die wirtschaftliche Landkarte Ostdeutschlands verändert sich derzeit auch durch Zukunftsinvestitionen, mit denen Ostdeutschland Schlüsseltechnologien ansiedelt, zum Beispiel in der Chip-Herstellung – auch hier eine Parallele zum Saarland.
Und doch ist der Blick auf die Transformation im Osten ein anderer als im Saarland. Wohl auch aufgrund der als negativ empfundenen Transformationserfahrung wird der Wandel im Osten mehrheitlich als Bedrohung begriffen. Mit der Wende 1989/1990 kamen für die ehemaligen DDR-Bürgerinnen und -Bürger eben nicht nur Freiheit und Demokratie, sondern durch den Zusammenbruch der Planwirtschaft für viele auch biografische Brüche, weil es den Betrieb nicht mehr gab oder gar ganze Berufsbilder vom Arbeitsmarkt verschwanden. Auch wenn die wirtschaftliche Lage in weiten Teilen Ostdeutschlands heute sehr viel besser ist, prägt diese Erfahrung viele Menschen bis heute – und ist möglicherweise auch einer von vielen Faktoren für den Aufstieg antidemokratischer Kräfte.
Nehmen wir hingegen für das Saarland das Beispiel des Kohleausstiegs: Nach schweren Bergschäden wurde 2008 ein Abbaustopp verfügt, und 2012 war das Aus für die Steinkohleförderung im Saarland endgültig. Arbeiteten Jahrzehnte zuvor fast 60.000 Menschen in den Bergwerken, waren es 2008 keine 4.000 mehr. Dennoch war es ein Erfolg, dass dieser Strukturwandel sozialverträglich gelang. Niemand solle „ins Bergfreie fallen“ lautete der Grundsatz, und das gelang. Das prägt offenbar bis heute die Einstellung der Saarländerinnen und Saarländer zu Chancen und Bedrohungen des Wandels.
Es braucht ein Bewusstsein über die Größe der Aufgabe, aber auch das Selbstbewusstsein, dass das gelingen kann.
Die langfristigen Veränderungen – für die Industriestandorte, für Absatzmärkte, für Beschäftigung – bewegen uns im Westen wie im Osten bis heute. Denn auch ganz ohne die Krisen unserer Zeit hätten wir genug zu tun, die Chancen wahrzunehmen, die sich bieten: hier der Abschied von der Steinkohle, dort von der Braunkohle. Hier wie dort der Abschied von der Massenstahlproduktion hin zu weltweit nachgefragtem Spezialstahl. Hier wie dort der Aufbau neuer Forschungslandschaften und innovativer mittelständischer Unternehmen. Hier wie dort die Gestaltung der Digitalisierung in Gesellschaft und Wirtschaft. Und inzwischen hier wie dort die Neuerfindung von Mobilität, Antriebstechnik und Fahrzeugbau.
Deshalb sind wir gemeinsam gefordert, im Osten wie im Westen. Es geht längst nicht nur um den Vergleich innerhalb Deutschlands. Denn noch mehr als früher kämpfen wir mit einer Weltwirtschaft jenseits von Deutschland und Europa. Dies erhöht nicht nur unsere Absatzchancen für Produkte, sondern vervielfacht auch die Konkurrenz. Die Länder und Weltregionen, die den Anspruch haben, sowohl technologische Spitze als auch Industriestandort der Zukunft zu sein, sind mehr geworden. Umso wichtiger ist es daher für uns, gemeinsam Chancen zu nutzen, sich innerhalb Deutschlands und Europas bestmöglich zu vernetzen und Herausforderungen gemeinsam zu meistern.
Und derer gibt es viele, die das Saarland genauso wie die Bundesländer im Osten betreffen: Fachkräftemangel, Infrastruktur-Defizite, die Frage nach der Gleichheit von Lebensverhältnissen zwischen urbanen Regionen und dem ländlichen Raum, um nur wenige zu nennen.
Die Breite und Tiefe dieser Transformation bleibt nicht ohne gesellschaftspolitische Folgen. Hier mag es Unterschiede im Härtegrad zwischen dem Saarland und ostdeutschen Regionen geben, aber doch einen allgemeinen Trend, dem wir uns entgegenstellen. Wir im Saarland rühmen uns – auch aufgrund unserer besonderen Geschichte und unserer bescheidenen Größe – ein Land des Zusammenhalts zu sein: mit der bundesweit größten Vereinsdichte, mit vielen, die sich ehrenamtlich engagieren – egal, ob politisch, kulturell oder karitativ. Ohne dieses Engagement würde sich unser Land verändern – zum Negativen. Das können wir nicht wollen. Trends, die spalten, die separieren, die entsolidarisieren, können wir alle uns gerade in einer Zeit verstärkter Transformationsentwicklungen nicht leisten. Im Gegenteil: Solidarität ist das Gebot der Stunde. Mit allen, die hier leben. Egal, woher sie kommen. Zwischen Starken und Schwachen. Gesunden und Kranken. Alten und Jungen. Wer spaltet, löst kein Problem dieser Zeit, sondern vertieft Ängste, Unversöhnlichkeit und partikulare Interessen.
Diese Sorge muss uns ungeachtet der Himmelsrichtungen gemeinsam umtreiben. Das Entstehen der neuen Länder im Jahre 1990 war wie die „kleine Wiedervereinigung im Westen“ mit Hoffnungen auf eine bessere Zukunft verbunden. Das müssen wir dieser Tage wieder ins Zentrum unseres gestalterischen Anspruchs rücken. Wir wollen nicht den Mangel verwalten, sondern die Zukunft gestalten. Wir wollen Dinge neu machen, damit vieles so bleiben kann, wie wir es lieben. Denn wer sich nicht verändert, der wird verändert. Die Kraft des Neuen, die die Menschen vor dem Beitritt des Saarlandes und insbesondere zur Wendezeit entfaltet haben, soll uns dabei Vorbild sein, um mutig den Wandel zu gestalten.
In diesem Sinne freue ich mich, viele Besucherinnen und Besucher aus Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Thüringen und Mecklenburg- Vorpommern am 3. Oktober 2025 zum Tag der Deutschen Einheit in Saarbrücken begrüßen zu dürfen. Eine Stunde und 50 Minuten von Paris entfernt. Aber eben in vielen Belangen auch ganz nah an Ostdeutschland.
Anke Rehlinger
geb. 1976 in Wadern, Ministerpräsidentin des Saarlandes und stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD. Sie übernimmt im November 2024 die Bundesratspräsidentschaft. Das Saarland wird 2025 den Tag der Deutschen Einheit ausrichten.