Balbina Jagielska
Die deutsch-deutsche Debatte um Identität ist längst nicht mehr nur deutsch. Unser Deutschland ist auch Heimat von Menschen geworden, die aus anderen Ländern zugezogen sind. Besonders die Verbindungen zu Mittelosteuropa sind eng, nicht erst seit der EU-Osterweiterung vor 20 Jahren. Welche Perspektive kann sich daraus auf Heimat ergeben?
Im Duden steht:
Heimat, die
Bedeutungen (2)
- Land, Landesteil oder Ort, in dem man [geboren und] aufgewachsen ist oder sich durch ständigen Aufenthalt zu Hause fühlt (oft als gefühlsbetonter Ausdruck enger Verbunden
- Ursprungs-, Herkunftsland eines Tiers, einer Pflanze, eines Erzeugnisses, einer Technik o. ä.
Fragt man mich im Alltag nach meiner geografischen Heimat, entgegne ich meist: „Berlin!“ Ich wurde 1983 in Warschau geboren und bin mit zweieinhalb Jahren in die Bundesrepublik übergesiedelt. Meine Muttersprache ist Polnisch, meine Denksprache Deutsch. Die Wende habe ich als kleines Mädchen bewusst miterlebt, denn ich habe frühe, intensive Erinnerungen an anstrengende Transits von West nach Ost und andersrum. Unsere Polenreisen waren damals geprägt von Grenz-Angst: der Beklemmung, wenn Zollbeamte Identität abfragten und Taschen durchsuchten, um etwas zu finden, das negative Konsequenzen auslöst. Schmuggelware, fehlende Ausweisdokumente oder Ähnliches. Raus oder rein – jeder Transit war verbunden mit Besorgnis, ich lernte früh, dass Identität auch fremde Interpretation war und nicht nur individuelle Verortung.
Ich wuchs in Gropiusstadt auf, West-Berlin, im sozialen Brennpunkt. Plattenbau, Arbeiterklasse, Migrationsfamilien. Viele Sprachen, Religionen, wenig Ressourcen. Die ersten Worte Deutsch lernte ich zeitgleich mit den ersten Worten in Türkisch, weil mein Kindergarten in Moabit zweisprachig war. Den Eltern meiner ersten Kindergarten- Freundin Manolya gehörte der gleichnamige Elektroeinzelhandel, sie schenkten uns Kindern pastellgelbe Jogginganzüge mit ihrer Firmenaufschrift. Solch einen Jogginganzug besaß keine meiner Freundinnen in Polen, sie beneideten mich um dieses Statussymbol mit den Buchstaben des Werbelogos. Wenn ich in Polen war, brachte ich Snickers, Panini-Sticker und meine Barbies mit. Insbesondere aber: die neue Sprache. „Wie sagt man ‚Ich heiße Weronika‘ auf Deutsch?“, fragte mich meine kleine Freundin auf Polnisch. Ich übersetzte am laufenden Band: Spielzeugnamen, Fragen, Lieblingsfarben, Hobbys und Fahrzeuge. Verbotene Schimpfwörter auch manchmal. Denn ich lernte gerade spielend zwei Sprachen, die mir Zugang zu völlig verschiedenen Realitäten gaben. Heutzutage empfinde ich dieses kindliche Interesse am fremden Wort als starken Wunsch, unbekannte Welten zu erkunden. Durch sprachliche Kommunikation das Tor zu einer anderen Gemeinschaft zu öffnen, um zu sehen, wie deren Wirklichkeit sich darstellt. Wie eine virtuelle Reise an einen Ort, den man analog nicht erreichen kann.
In Berlin lebend, war ich selbst die Fragende und Lernende. Mit sechs Jahren schulte man mich ein, merkte aber schnell, dass meine Deutschkenntnisse im Kontrast zu den deutschen Mitschülern ausbildungsbedürftiger waren. So wurde der Förderunterricht neben der Grundschule zur Pflicht. Ich erinnere mich bruchstückchenweise, wie bestimmte neue Wörter mich nachhaltig beeindruckten. Das Wort „rennen“ zum Beispiel. Meine Freundin Meike erklärte mir damals mit Handbewegungen, dass „rennen“ was völlig anderes ist als „gehen“ oder „laufen“. Rennen involvierte viel höheres Tempo und diese Auf- und Ab-Bewegungen mit den Armen, es sah anstrengend aus, und man schwitzte. Rennen war das, was wir taten, wenn wir uns auf dem Spielplatz jagten. Rennen war auch das, was ich später einmal tat, als mir Jugendliche am Sandkasten drohten, mein Gesicht mit Glasscherben zu verletzen. Und ich um mein Leben nach Hause rannte. Damals, als die Tür hinter mir zufiel und Mutter mich in die Arme nahm, war ich in Sicherheit. Sie beruhigte mich auf Polnisch.
Überzeugungskraft durch die Macht der Worte. Argumentationen, die Vorteile schufen. Geschichten, die Eindruck machten und Vorurteile bewältigten. Genaue Beobachtungen und deren treffende Beschreibung brachten bessere Noten als Lernen durch Reproduktion. Unzulänglichkeiten wurden eloquent vertuscht, Notlügen hatten keine kurzen Beine, sondern schufen Chancengleichheit. Ein gefälliger Wortschatz zu einem Thema machte Eindruck beim Lehrer. Ich bildete mich aus in Richtung Sprache, nicht im akademischen Sinne, sondern im pragmatischen. Bestimmte Sätze fielen immer in ähnlichen Zusammenhängen. Deren Aussprache schien der Beweis ihrer Wahrhaftigkeit. Traf ich auf Deutschpolen der älteren Generation, mischte ich bilinguale Sätze mit slawischen Akzenten. Drückte ich die Schulbank, war der Konjunktiv – ein Fremdwort hier und da – eine Chiffre dafür, dass ich eine von denen bin, die es vielleicht besser wissen. Mit Eltern von Freunden aus der Arbeiterklasse berlinerte ich mit Vorliebe. Lauter Vorteile durch den Einsatz passender Kommunikation, die Augenhöhe verschafft. Überall dort, wo ich mich fremd fühlte, suchte ich nach Zugängen zur Sprachart der Gruppe.
In Warnemünde zum Beispiel lernte ich meine Freundin Simone kennen, wir unterhielten uns gerne und viel. Wir hatten einen sprachlichen Draht zueinander. Nach Galerien, Theatern und Kino wurde aus stundenlangen Diskursen eine Freundschaft. Ihre Art, die Welt zu umschreiben, schien mir vertraut. Ein Wort stieß beim Gegenüber das nächste an, Geschichten am Fließband. Ihr Zuhause wurde zur Heimat, in welcher viele meiner Musikwerke entstanden. Am abgelegenen Hundestrand schrieb ich viele vertrauliche Lieder mit einer Leichtigkeit, die sich nur einstellt, wenn man daheim ist. Weil man die richtigen Worte besser findet, wenn man das Gefühl hat, dass die eigenen Worte im Umfeld auf Verständnis treffen.
Eine funktionierende Kommunikation als Werkzeug für gemeinsam erlebte Realität schafft Räume, die ortsunabhängig sind. Der dadurch mögliche Austausch von Perspektiven baut durch Empathie einen gemeinsamen Grund, auf welchem man wohnen kann. Sprache ist eine Art mobile Heimat, die ich bei mir trage. Wohin ich auch weiterreise, tue ich dies in der Hoffnung auf Begegnungen, die Verbindung schaffen. Für mich ist Heimat der Ort, an dem ich verstehe, was jemand mir mitteilen möchte, und ich das Gefühl habe, auch ich werde verstanden. Pässe ermöglichen den Transit, ankommen kann man jedoch nur, wenn man Kontakt zum Umfeld schafft.
Balbina Jagielska
1983 in Warschau geboren, lebt in Berlin. Sie erhielt als Liedermacherin den Deutschen Musikautorenpreis 2018. Als Songtexterin schreibt sie u.a. für Herbert Grönemeyer. Bislang hat sie vier Alben und zwei EPs veröffentlicht. Ihre Konzerte spielt sie meist mit dem Deutschen Filmorchester Babelsberg.