Prof. Dr. Wolfgang Schroeder
Einleitung
Die Sozialpartnerschaft in Deutschland ist eine historisch gewachsene organisatorische Beziehung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, die sich durch eine konstruktive Konfliktpartnerschaft auszeichnet. Im Rahmen der sogenannten Tarifautonomie verhandeln die Sozialpartner zu zentralen Fragen der Arbeitspolitik – beispielsweise Lohn, Arbeitszeiten, Urlaubsanspruch – verbindliche vertragliche Regelungen. Dies kann auf betrieblicher Ebene zwischen Betriebsräten und Geschäftsführung oder im Rahmen der Tarifautonomie auf überbetrieblicher Ebene zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden – meist für ganze Branchen – erfolgen, wobei es in der Regel ein konstruktives Zusammenspiel zwischen den betrieblichen und überbetrieblichen Akteuren gibt.
Die Voraussetzung für eine erfolgreiche Bearbeitung der großen Herausforderungen im Rahmen der Arbeitsbeziehungen (durch Dekarbonisierung, Digitalisierung und demografischen Wandel) stellen organisationsstarke, durchsetzungs- und verpflichtungsfähige Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände dar. Diese Voraussetzungen bestehen in vielen Bereichen nicht mehr. Vielmehr können wir seit den 1990er-Jahren einen Rückzug der deutschen Sozialpartnerschaft (Mitgliederrückgänge und Akzeptanzverlust der Tarifautonomie) sowie einen Trend der „Verbetrieblichung“ der Arbeitsbeziehungen beobachten, der im Osten weiter vorangeschritten ist als im Westen. Deshalb sind die Sozialpartner nicht nur herausgefordert, Lösungen für die gegenwärtigen Megatrends zu suchen, sondern auch ihre organisationspolitischen Probleme zu bewältigen, um die Funktionsfähigkeit der Arbeitsbeziehungen zu revitalisieren.
Entwicklung der Sozialpartnerschaft
In Westdeutschland gründeten sich 1945 auf Branchenebene parteipolitisch unabhängige Einheitsgewerkschaften, die seit 1949 Mitglieder des Deutschen Gewerkschaftsbundes sind. Als Branchengewerkschaften haben sie den Anspruch, alle Beschäftigten einer Branche zu organisieren. Auch die Gründung einer Angestelltengewerkschaft, des Christlichen Gewerkschaftsbundes, des Beamtenbundes und weiterer änderten nichts an der Dominanz des einheitsgewerkschaftlichen Organisationsmodells. Obwohl die Gewerkschaften keinen direkten Zugang in die Betriebe besitzen, gelang ihnen eine relativ robuste Beziehung zu den betrieblichen Interessenvertretern (Betriebs- und Personalräten), die zu etwa 70–80 Prozent zugleich Gewerkschaftsmitglieder sind. Dennoch lag auch zu Hochzeiten der gewerkschaftliche Organisationsgrad (der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder an allen abhängig Beschäftigten) höchstens bei 35 Prozent.
Dagegen bestand in der DDR mit dem FDGB (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund) eine parteipolitisch geprägte Staatsgewerkschaft. Diese basierte auf dem Prinzip der Zwangsmitgliedschaft und war mehr für die Kontrolle der Beschäftigten zuständig als für deren Emanzipation. Sie streikte nie, war aber in vielfältiger Weise in die kulturellen und reproduktiven Belange der Kombinate und Betriebe eingebunden. 1990 löste sich der FDGB auf, und die DGB-Gewerkschaften transferierten ihre Strukturen in die fünf neuen Länder (Institutionentransfer).
Es lassen sich drei Phasen der ostdeutschen Sozialpartnerschaft identifizieren: Erstens die Startphase der Arbeitsbeziehungen im Osten, in der die westdeutschen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände mit einer stabilitätsorientierten Strategie versuchten, die materielle Angleichung voranzutreiben, um den Schock der Transformation abzupuffern sowie Massenabwanderung nach Westdeutschland und die Etablierung Ostdeutschlands als Niedriglohnland zu verhindern.
Die zweite Phase begann mit der Kündigung des Stufentarifvertrages in der Metallindustrie 1993, dem anschließenden Streik und dem Ende der Treuhand-Zeit 1994. Diese Phase ist durch eine sehr hohe Arbeitslosigkeit geprägt, einen stetigen Rückgang der Mitgliederzahlen in Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden und zeichnet sich durch eine blockierte Anpassung aus.
Die dritte Phase seit etwa 2010 ist dadurch gekennzeichnet, dass die Massenarbeitslosigkeit sukzessive durch das Großthema des Fachkräftemangels abgelöst wird. Da die Sozialpartner ihre organisatorische Basis nicht verbessern konnten, wurde die schwache Sozialpartnerschaft zunehmend durch zentralstaatliche und länderspezifische Flankierungen unterstützt, etwa die Einführung der Vergabe öffentlicher Aufträge an tariftreue Unternehmen, der Mindestlohn sowie die Möglichkeit, einen Tarifvertrag einfacher allgemeinverbindlich zu erklären. Hinzu kamen die Bemühungen ostdeutscher Landesregierungen, durch gemeinsame Erklärungen mit den Sozialpartnern für die Stärkung ihrer Organisationsgrade sowie für den Ausbau betrieblicher Interessenvertretungen zu werben.
Stand der Sozialpartnerschaft
Ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung bestehen Lohnunterschiede zwischen Ost und West fort. So betrug der Bruttodurchschnittslohn pro Beschäftigtem im Jahr 2020 in Westdeutschland 3.320 Euro, in Ostdeutschland hingegen 2.850 Euro. Diese Lohnunterschiede sind teilweise auch durch den Rückgang der Tarifbindung, der Zahl der Betriebsräte und des gewerkschaftlichen Organisationsgrades zu erklären. So fallen Tariflöhne in der Regel höher aus. Somit führt die rückläufige Tarifbindung auch zu einem Anstieg der sozialen Ungleichheit. Daher haben die Einführung und die jüngste außerordentliche Erhöhung des Mindestlohns insbesondere in Ostdeutschland positiv gewirkt, weil sie dort für anteilig deutlich mehr Menschen eine direkte Lohnerhöhung bedeutet hat.
Die Tarifbindung ist sowohl in West- als auch in Ostdeutschland in den letzten Jahren und Jahrzehnten stark zurückgegangen. So sank der Anteil der Beschäftigten in einem tarifgebundenen Unternehmen von 1996 bis 2022 in Westdeutschland um 26 Prozentpunkte auf 52 Prozent, in Ostdeutschland um 23 Prozentpunkte auf 45 Prozent (Deutschland: 25 Prozent der Betriebe und 51 Prozent der Beschäftigten). Allerdings scheint sich der Anteil in Ostdeutschland in den letzten Jahren zu stabilisieren, und es ist kein weiterer Rückgang zu verzeichnen. Unterschiede zeigen sich auch in der Art der Tarifverträge: So arbeiten in Westdeutschland 43 Prozent der Beschäftigten in einem Unternehmen mit Branchen- und 9 Prozent in einem Betrieb mit Haustarifvertrag. In Ostdeutschland hingegen arbeiten 33 Prozent der Beschäftigten in einem Unternehmen mit Branchen- und 12 Prozent in einem Betrieb mit Haustarifvertrag.
Auch der Anteil der Beschäftigten, die in einem Betrieb mit Betriebsrat arbeiten, ist über die letzten zwei Jahrzehnte insgesamt gesunken, wobei in Ostdeutschland zuletzt eine Stabilisierung und sogar eine leichte Steigerung zu verzeichnen war. 2022 waren demnach 43 Prozent der Beschäftigten in West- und 41 Prozent der Beschäftigten in Ostdeutschland in einem solchen Betrieb beschäftigt.
Die Entwicklung des Organisationsgrades der Gewerkschaften zeigt ebenfalls Unterschiede zwischen Ost und West. War dieser in Ostdeutschland 1990 mehr als doppelt so hoch wie in Westdeutschland (aufgrund der Zwangsmitgliedschaft in der DDR), sank der Organisationsgrad im Osten in den 1990er-Jahren rapide ab, glich sich dem westdeutschen an und fiel dann sogar unter diesen. So waren im Jahr 2021 12,4 Prozent der Westdeutschen und 10,5 Prozent der Ostdeutschen Mitglied einer Gewerkschaft.
Erklärung für die besondere ostdeutsche Entwicklungsdynamik
Für den unterschiedlichen Zustand der Sozialpartnerschaft und allgemeiner der Arbeitsbeziehungen zwischen Ost und West können im Wesentlichen drei Gründe identifiziert werden.
Erstens wurde der DDR-Wirtschaft im Zuge der Wiedervereinigung quasi über Nacht das westdeutsche Modell des Kapitalismus übergestülpt, obwohl die politisch-kulturellen Voraussetzungen dafür nicht gegeben waren. Diese „Schocktherapie“ führte zum Niedergang der ostdeutschen Industrie, die durch die Währungsreform von heute auf morgen unrentabel wurde. Die Konsequenz aus Schocktherapie und übereiltem Institutionentransfer war eine nachhaltig geschwächte Tarifautonomie. Massive Mitgliederverluste aufseiten der Gewerkschaften bei gleichzeitiger Einführung der OT-Mitgliedschaften aufseiten der Arbeitgeberverbände führte zu einer Asymmetrie der Verhandlungsmacht zugunsten Letzteren.
Zweitens unterscheidet sich die Struktur der Betriebe in Ostdeutschland von denen im Westen. So finden sich dort als Folge der Zerschlagung der Großbetriebe und Kombinate viele junge Unternehmen sowie Klein- und Kleinstbetriebe, die von Natur aus seltener Mitglied in einem Arbeitgeberverband sind und/oder einen Betriebsrat haben und sich zudem weniger leicht regulieren lassen. Überdies finden sich heute so gut wie keine Firmenzentralen größerer Unternehmen im Osten; er fungierte bisher als „verlängerte Werkbank“ mit niedrigerem Lohnniveau von westdeutsch dominierten Unternehmen und Wertschöpfungsketten.
Drittens wurde und wird Ostdeutschland als Konsequenz aus den zuvor beschriebenen Faktoren häufig als Laboratorium für neue Formen der Arbeitsbeziehungen gesehen. Durch ein zugunsten der Arbeitgeber verschobenes Kräfteverhältnis konnten sie hier viele Dinge ausprobieren, die sie später auch im Westen durchsetzten. Ein Beispiel hierfür sind die OT-Mitgliedschaften5, die in Ostdeutschland deutlich schneller verbreitet waren als im Westen.
Perspektive
Die Schwäche der Tarifparteien hat dazu geführt, dass sich der Staat durch Mindestlohn, Vergabegesetze und Reformen der Allgemeinverbindlichkeit verstärkt in die Normierung der Arbeitsbedingungen eingeschaltet hat. Die ostdeutschen Beschäftigten haben davon enorm profitiert. Zudem sorgt der Staat durch Bezugnahmeklauseln dafür, dass Tarifverträge der Orientierungspunkt bleiben und damit weiterhin die wichtigste Währung bilden.
Offen ist allerdings, ob die staatliche Flankierung ausreichen kann. Wenn das Ziel sein soll, die Tarifbindung zu stärken, dann müssen in der globalisierten Wirtschaft auch die Motive der Unter- nehmen stärker adressiert werden, um die Tarifbindung als Vorteil zu verankern. Klassische Gründe der Kalkulationsgrundlage, Transaktionskosten oder der Sicherung der Wertschöpfungskette können gerade in unsicheren Zeiten ein Vorteil sein. Zudem können Fachkräfte durch Tariflöhne angelockt werden. Außerdem müssen sowohl Gewerkschaften als auch Arbeitgeberverbände ihre Organisationsgrade erhöhen, um die Sozialpartnerschaft zu stärken. Gewerkschaften sind dabei gefragt, ihre Attraktivität für Beschäftigte zu erhöhen, etwa durch gute Tarifabschlüsse oder exklusive Rechte in Tarifverträgen nur für Gewerkschaftsmitglieder.
Wolfgang Schroeder
ist Professor an der Universität Kassel und Fellow am Wissenschaftszentrum Berlin. Er befasst sich in seinen Forschungsarbeiten mit dem Strukturwandel der politischen Akteurskonstellation in der Bundesrepublik Deutschland sowie mit sozialstaatlichen und arbeitsweltbezogenen Politikprozessen. Mit seinen Arbeiten sucht er eine Brücke zwischen empirisch basierter Grundlagen- und Anwendungsforschung zu bauen.