Prof. Dr. Kerstin Brückweh
Seit Jahren erforsche ich als Historikerin die Zeit vor, während und nach 1989 und dabei besonders die Frage, wie Menschen diesen Bruch in ihrem Alltag verarbeite(te)n. Aus den Quellen der Vergangenheit und aus gegenwärtigen Gesprächen lässt sich viel darüber lernen, wie Menschen das Ende der DDR erlebt, zum Teil auch mitgestaltet, wie sie den Systemwechsel und die 1990er erfahren haben und wie sie sich heute daran erinnern. Dabei geht es für die Erzählenden – egal, ob sie den Umbruch selbst erlebt haben oder nur aus den Familienerzählungen oder anderen Quellen davon gehört haben – immer auch darum, die vielschichtigen Aspekte aus der Rückschau in eine stimmige Lebensgeschichte und darüber hinaus in eine plausible kollektive Erzählung zu bringen. Denn das Leben ging und geht weiter – in Ostdeutschland und anderswo.
Mit geschichtswissenschaftlichen Methoden analysiere ich historische Quellen und stelle Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten zwischen unterschiedlichen historischen Akteuren, geografischen Räumen, sozialen Gruppen etc. fest. Sie sind zum einen geprägt durch die Bedingungen in der DDR und die 1990 getroffenen Regelungen, zum anderen trotzen sie aber gerade den verschiedenen politischen Systemen. Zugleich beobachte ich hausgemachte Differenzen durch eine aufgesetzte Ost-West-Brille, wenn eigentlich eine Nord-Süd-Differenz oder regionale Unterschiede vorliegen. Und dann gibt es Zeiten, in denen sich staatstragende Erzählungen in die Arbeit einmischen – so im Mai 2024.
Nicht nur die Bundesregierung selbst gab sich dieses Motto, sondern auch zahlreiche Medien titelten im Mai 2024 ähnlich. Im Kern stand der Gedanke, mit der Erinnerung an die Verkündung des Grundgesetzes durch den Parlamentarischen Rat am 23. Mai 1949 zugleich die Geburtsstunde der Bundesrepublik zu feiern. Während die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts für unweigerlich mit Deutschland verbundene bzw. initiierte Kriege und menschenverachtende Katastrophen steht, führte die zweite Hälfte in der neu gegründeten westdeutschen Bundesrepublik „zu politischer Stabilität, zu Freiheit und Wohlstand, wie sie nach 1945 völlig unerreichbar schienen“ Das Grundgesetz selbst wird dabei von vielen auch als ein Beispiel des Lernens aus der Geschichte angesehen, indem Lehren aus der Weimarer Verfassung gezogen wurden. Es ist ein vielfach gelobter, funktionierender Rechtstext. Und es war im Jahr 1949 ein symbolischer Akt. Die beiden Funktionen einer Verfassung – die instrumentell-rationalistische, d. h. das praktische Funktionieren als Gesetzestext insbesondere in Verbindung mit dem Bundesverfassungsgericht, und die symbolische, d. h. die Vision vom Zusammen- leben einer Gesellschaft – fallen hier zusammen.
In der Geschichtswissenschaft geht es immer auch darum, Zäsuren zu benennen und Zeitabschnitte in sinnvolle inhaltliche Periodisierungen zu bringen. Diese Einteilungen können sich je nach Fragestellung und Themengebiet unterscheiden, aber manche Prozesse und Ereignisbündelungen wirken übergreifend. Selten orientieren sie sich an Dekaden oder an Jubiläen in Fünfer- oder Zehnerschritten. Für den Zweck dieses Textes sei festgehalten, dass sowohl die Bundesregierung als auch unterschiedlichste Medien differenziert über die vergangene und die gegenwärtige Bundesrepublik informieren und diskutieren. Darüber schwebt – vielleicht eher: klebt – jedoch die 75-Jahre-Erzählung, die einen Teil der heutigen Republik und seine Geschichte nicht umfasst: nämlich das auf dem ehemaligen Territorium der DDR gelegene Ostdeutschland und seine Bevölkerung.
Warum aber wird die Geschichte so erzählt? Das ist eine Frage für die Geschichtswissenschaft, wenn es um die genaue Analyse und Rekonstruktion der Geschehnisse um das Epochenjahr 1989/90 aus den historischen Quellen der Zeit und die Erörterung darüber geht, warum es in diesem besonderen „constitutional moment“ nicht zu einer neuen Verfassung kam – und zwar, obwohl das Grundgesetz selbst die Möglichkeit vorsah. Für die heutige Bevölkerung des vereinten Deutschlands stellt sich darüber hinaus eine andere Frage: Wie wollen wir uns an die Entstehung des Grundgesetzes und wie an das Jahr 1990 und damit die Art und Weise der Zusammenführung der beiden deutschen Staaten erinnern? Oder in den Worten von Stephan Detjen zum 60. Jahrestag: „Welche Geschichten der Verfassung erzählen wir uns?“
Das behelfsmäßige Orientieren an Jahrestagen irritiert Historiker und Historikerinnen, weil es keinen inhaltlichen Zusammenhang herstellt. Im Fall des Jubiläums des Grundgesetzes scheint der Blick auf den Jahrestag auch politisch schwierig. Denn was passiert, wenn die Jubiläumsstunde der Demokratie als 75-Jahre-Erzählung daherkommt und damit einen Teil der Bundesrepublik von der Erzählung ausschließt? Als Historikerin interessiert mich zunächst der Faktencheck und somit die Frage, wie genau die verschiedenen Akteure in der konkreten historischen Situation handelten, sodass es 1990 nicht zu einer neuen Verfassung kam.
Für den besonderen Moment der Zusammenführung der beiden Teile Deutschlands aus dem Kalten Krieg hatte das Grundgesetz schon 1949 einen Plan. Im Artikel 146 stand, dass das Grundgesetz seine Gültigkeit an dem Tag verliere, „an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“ Das war der letzte Artikel des als Provisorium gedachten Grundgesetzes. Wann aber, wenn nicht 1989/90 in diesem besonderen Moment der deutschen Geschichte, wäre der richtige Zeitpunkt gewesen? Die historischen Akteure gingen bekanntermaßen den Weg des Beitritts nach Artikel 23 des Grundgesetzes und wählten damit die zweite Möglichkeit, die im Provisorium von 1949 vorgesehen war.
Für gewöhnlich wird das Wahlergebnis vom 18. März 1990 zur ersten frei gewählten Volkskammer in der DDR als ostdeutscher Wunsch nach Beitritt interpretiert. Das verdeckt verschiedene Initiativen für eine neue Verfassung. Hier darf eine Besonderheit nicht übersehen werden, denn – anders als für viele andere Themen – gab es für die Verfassungsgebung nach dem vollzogenen Beitritt keine unmittelbare Zeitnot. Es hätte auch mit etwas Abstand entschieden werden können, das Grundgesetz auch symbolisch vom Provisorium zur neuen Verfassung werden zu lassen – das gilt im Prinzip bis heute, denn der Artikel 146 findet sich in angepasster Form noch immer im Grundgesetz. Allerdings – und das ist elementar – ist der besondere verfassungsgebende Moment verstrichen. Was also passierte damals?
Es gab vor allem drei große Initiativen, die in eine halbherzige Grundgesetzreform 1994 mündeten. Am 4. April 1990 legten die ostdeutschen Akteure des Zentralen Runden Tisches ihren Verfassungsentwurf für eine erneuerte DDR vor. Am 19. Juni 1991 folgte der Entwurf der deutsch-deutschen Bürgerinitiative Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder. Auf der Basis der Artikel 4 und 5 des Einigungsvertrages wurde schließlich am 16. Januar 1992 die Gemeinsame Verfassungskommission durch die Präsidentin des Deutschen Bundestages und den Präsidenten des Bundesrates konstituiert, die ihren Bericht am 5. November 1993 veröffentlichte.
Interessant ist mit Blick auf die erwähnte instrumentell-rationalistische und die symbolische Verfassungsfunktion ein Blick auf die die Texte rahmenden Ideen. Das Grundgesetz bezieht sich zu Beginn seiner aktuellen Fassung auf den Parlamentarischen Rat von 1949 und auf die „Verantwortung vor Gott und den Menschen“. In den anderen beiden Präambeln fehlt der Bezug auf Gott. Das Kuratorium sieht sich durch die vorgeschaltete Paulskirchenerklärung deutlich in einer längeren deutschen Demokratiegeschichte. Die von Christa Wolf formulierte Präambel des Zentralen Runden Tisches verweist allgemeiner auf eine humanistische Tradition. Beide Entwürfe nennen explizit die „revolutionäre Erneuerung“ bzw. „die durch eine demokratische Revolution vollendete deutsche Einheit“. Alle drei betonen die Bedeutung eines geeinten Europas.
Dann geht es in die Details der Diskussionen Anfang der 1990er: Während die einen in diesem historischen Moment die Chance sahen, schon lange diskutierte Themen wie den Umweltschutz, zeitgemäße Familienmodelle oder Kinderrechte in die Verfassung einzubringen, sahen andere keinen Anlass, das schon lange funktionierende Grundgesetz – zumal in Zusammen- spiel mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes – zu ändern. Zwischen hohem Engagement für neue Verfassungsentwürfe, utopischen Ideen und Bürgerwünschen gingen die Verfassungsdiskussionen letztlich im routinierten Alltag von Politik und Verwaltung unter (etwa dadurch, dass die Sitzungen der Gemeinsamen Verfassungskommission auf den Donnerstagabend (!) in den Sitzungswochen des Bundestages gelegt wurde). Oder wie es in der Paulskirchenerklärung vom 16. Juni 1991 heißt: „Die Langsamkeit und Vorsicht, mit der sich unser Denken, Fühlen und Wollen an diese neue Wirklichkeit herantastet, stehen in einem Mißverhältnis zur Geschwindigkeit der revolutionären Veränderungen seit dem Herbst 1989.“ Dass der besondere Moment nicht für eine symbolische Erneuerung genutzt wurde, ist nicht mehr zu ändern. Was aber heißt das für unser Gemeinwesen – was also erzählen wir uns heute über unsere Verfassung?
75 Jahre Grundgesetz und Bundesrepublik: Es bringt bei solchen staatstragenden Großerzählungen nichts, die Beteiligung und Handlungsmöglichkeiten Ostdeutscher oder die neuen Impulse und Leistungen herauszustellen. Hier bedarf es vielmehr einer grundlegenden Einsicht und dann eines geänderten Selbstverständnisses verschiedener verantwortlicher Akteure aus Politik und Medien, dass es für unser Gemeinwesen kontraproduktiv und unnötig ist, solche exkludierenden Großerzählungen zu verbreiten – sei es als Zeitungsausgaben oder als Logos auf den Seiten der Bundesregierung. Zwar ist der Wunsch nach großen Erzählungen vielfach zu beobachten, aber sie entsprechen nicht der Vielfalt der Wirklichkeit in der Gegenwart und sind deshalb für Kritik anfällig. Auf den Seiten der Bundesregierung heißt es: „Durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland zum 3. Oktober 1990 ist das Grundgesetz gesamtdeutsche Verfassung geworden. Die Beibehaltung der ursprünglichen Bezeichnung ‚Grundgesetz‘ lässt sich auch als Respekt vor der Arbeit des Parlamentarischen Rates deuten.“ Ja, das ist ein wichtiger Punkt. Zugleich würde ich mich freuen, wenn auch den Mitmenschen in meiner Wahlheimat Brandenburg, in Ostdeutschland und darüber hinaus – denn von unterschiedlichen migrantischen Erfahrungen habe ich hier noch gar nicht gesprochen – mit etwas mehr Respekt begegnet würde. Zuhören, Empathie und Fehlertoleranz scheinen mir besonders wichtig für den Umgang miteinander, darauf hoffe ich weiter, und zwar auf allen Seiten.
Kerstin Brückweh
geb. 1972 in Hannover, Professorin für Historische Stadt- und Raumforschung an der Europa-Universität Frankfurt (Oder) und Leiterin des Forschungsschwerpunktes „Zeitgeschichte und Archiv“ am Leibniz-Zentrum für Raumbezogene Sozialforschung.