Dr. Juliane Stückrad
Der folgende Text entstand auf der Grundlage einer fotografisch-ethnografischen Dokumentation des Grenzlands zwischen Thüringen, Niedersachsen, Hessen und Bayern. Sie begann nach der Corona-Pandemie und endete im Herbst 2023. Der Fotograf Ulrich Kneise schuf Bildreportagen, die von meinen ethnografischen Daten und ethnologischen Überlegungen begleitet wurden. Die Ergebnisse präsentierten wir von Dezember 2023 bis April 2024 in der Fotoausstellung „Randgebiete – Geschichten von drüben“ in der Erfurter Gedenkstätte Andreasstraße. Dazu erschien ein umfassender Begleitband.
Es gibt bereits zahlreiche Reisebeschreibungen, die von Begegnungen entlang des Grünen Bandes berichten. Wir entschieden uns daher, vom Verlauf des damaligen Grenzzauns abzuweichen und Orte aufzusuchen, die außerhalb des früheren Sperrgebiets liegen und dennoch als grenznah wahrgenommen werden. Die Ausdehnung des Randgebiets ist nicht eindeutig zu bestimmen. „Grenzen markieren die Linie, den Punkt, die Stelle, wo eines aufhört und ein anderes beginnt. Insofern bilden sie einen Rand, eine Schnittstelle oder einen Übergang, einen Anschluss, eine Umgrenzung, einen Abschluss oder eine Öffnung. Das Weichbild der Grenze scheint weit.“ Um uns in der Weite dieses Feldes nicht zu verlieren, strukturierten wir es thematisch in die lebensweltlichen Bereiche Arbeit, Festkultur, Vereine, Kulturlandschaften, Politik, öffentliche Grenzgänge und Kunst. Wir fragten nach dem heutigen Umgang mit Erfahrungen der Teilung Deutschlands.
Darüber hinausgehend geben die ethnografischen Daten Einblicke in Prozesse der Selbstverortungen und Identitätsfindung. Der langen Geschichte von Ein-, Ab- und Ausgrenzungen fügte das SED-Regime mit der Abriegelung der innerdeutschen Grenze ein besonders dramatisches Kapitel hinzu. Die Sperranlagen sollten „Alltagskontakte unterbinden, die gegnerische Ideologie abwehren, Mobilität regulieren und schließlich die Abwanderung vollständig verhindern“. Dennoch hatten sich die DDR-Machthaber mit der grundlegenden Widersprüchlichkeit von Grenzen, die gleichermaßen trennen und verbinden, auseinanderzusetzen. „Grenzregionen haben prinzipiell diese Ambivalenz: wie die Funktion des Riegels, so die der Pforte, wie die des Gegeneinanders, so die des Mit- und Füreinanders.“ Das Randgebiet blieb trotz hochgerüsteter Mauern und Zäune ein Übergangsraum voller Botschaften, die von beiden Seiten ausgingen. Blicke, Rufe, Gerüche und Lichtsignale trugen dazu bei, dass das Grenzgebiet nicht nur ein Raum der strikten Trennung war, sondern auch der Grenzüberwindung und der gesteigerten Aufmerksamkeit füreinander.
Der Soziologe Georg Simmel beschreibt Grenzen als Resultat menschlichen Sozialverhaltens: „Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt.“5 Die innerdeutsche Grenze wirkt als Erfahrungshorizont nach. Wir lernten Menschen kennen, die sich noch immer als Bewohner eines Randgebiets wahrnehmen, auch wenn sie sich geografisch in der Mitte verorten. Carl-August Heinz, Unternehmer aus Kleintettau, stellte fest: „Allerdings haben wir uns mehr erhofft, weil, wir waren ja wieder Mitte Deutschlands … aber da sind wir doch in gewisser Weise enttäuscht worden … Bei uns ist dann die Grenzlandförderung weggefallen, wir sind dann sogar auf bayerischer Seite ein Stück zurückgefallen.“ Den Mangel an Eigenständigkeit im Randgebiet kritisierte Karl Graf von Stauffenberg, der im bayerischen Grabfeld lebt, wenn er bemerkte: „Wir gefallen uns gegenseitig in der Opferrolle.“ Aussagen wie diese verdeutlichen, dass es an der Zeit ist, die Folgen der Wiedervereinigung auch für die westliche Bundesrepublik intensiver zu betrachten. Von den Randgebieten gehen dafür wesentliche Impulse aus, weil sich hier die „‚Ko-Transformation‘ von Ost- und Westdeutschland“ und „die Rückwirkung der Transformationsprozesse in den neuen Bundesländern auf die alten“ verstärkt zeigen.
Andere Gesprächspartner nahmen die Verortung am Rand nicht widerspruchslos hin. „Wir sind hier doch nicht am Rand!“, erklärte empört ein Mitglied der Hirschberger Schalmeienkapelle, als ich ihm unser Forschungsanliegen beschrieb. Er erläuterte, wie schnell man in Berlin, München und Frankfurt ist: „Ich sage immer, besser kann man kaum gelegen sein.“ Als Randgebietsbewohner wahrgenommen zu werden, scheint wenig reizvoll, weil damit oft Randständigkeit assoziiert wird. Während die Mitte für Sicherheit, Ordnung und einen soliden sozialen Status steht, treibt die Bewohner des Randes die Angst um, abzustürzen, abgewertet und in ihrem Elend übersehen zu werden. Hier offenbart sich eine weitere Erfahrung mit Grenzen, sie „beschränken und schützen nicht nur, sondern machen auch Unterschiede sichtbar; schließlich dienen sie als Ort der Vermittlung wie der Zerstörung“. Es sind die unterschiedlichen Lebenswelterfahrungen, die bereits mit der Ziehung der Demarkationslinie 1945 entstanden waren, an der Grenze besonders erlebbar wurden und bis heute das Miteinander beeinflussen. Der Eiserne Vorhang folgte dabei älteren Grenzziehungen, überlagerte „historische Wohlstands- und Kulturgrenzen“ und bildete nun eine „Systemgrenze“.
Unterschiede in den Zugehörigkeitsgefühlen, wie sie durch die Teilungsgeschichte Deutschlands entstanden sind, werden auch noch 35 Jahre nach dem Mauerfall leidenschaftlich diskutiert. In vielen unserer Begegnungen wurde Grenzenlosigkeit zwischen Ost und West als Ziel formuliert, das aber noch nicht vollständig erreicht sei. Selbst jüngere Gesprächspartnerinnen und -partner erklärten uns, was sie als typisch für „den Westen“ und typisch für „den Osten“ erachten. Diese Form der Grenzziehung ist nicht zwingend problematisch, solange sie die Gleichwertigkeit beider Seiten anerkennt, Vielfalt der Erfahrungen schätzt und vor einer „falschen Einheitlichkeit“ schützen will. Das betonte auch der ehemalige Eichsfelder Landrat Dr. Werner Henning: „Es geht auch gar nicht darum, alle Trennungen zu überwinden. Es sollen auch Unterschiede bleiben, als markante Dinge, die uns doch ausmachen, als Eigenart.“
Die Grenze schuf nicht nur räumliche, sondern auch zeitliche Erfahrungen, denn Raum und Zeit sind soziale, miteinander verknüpfte Kategorien. Das zeigt sich in Formulierungen wie „vor der Wende“ oder „nach der Grenzöffnung“, die vor allem die Zeitwahrnehmung in Ostdeutschland, aber auch vieler Bewohner des einstigen „Zonenrandgebiets“ markieren. Ausgehend von meinen Felddaten, teile ich dieses anhaltende Zwischenstadium des deutschen Vereinigungsprozesses in drei Stufen ein: Die erste Stufe umfasst den Fall des Eisernen Vorhangs bis Ende 1989, gefolgt von der zweiten Stufe bis zur Wiedervereinigung und der dritten – die anschließenden Jahre. Wie lange diese dritte Stufe insgesamt andauert, wird individuell unterschiedlich bewertet. Für einige ist sie längst abgeschlossen, für andere befinden wir uns noch immer darin. Die sogenannte Transformation verlief nicht so simpel, wie es vielleicht erhofft wurde. Die ehemalige DDR legte ihre alte Form nicht einfach ab und nahm die der Bundesrepublik an, denn die Bundesrepublik wandelte sich selbst, und eine klare Zielform konnte es nicht geben. Die dritte Stufe endet vielleicht erst dann, wenn beide historisch verschieden geprägten Teile ihre unfertigen Erscheinungen als Ergebnis der gemeinsamen Transformation anerkennen.
Die innerdeutsche Grenze schuf mitten in Deutschland Regionen, die sich bis heute mit den Folgen ihrer einstigen Randlagen auseinandersetzen. Wie bedeutsam das ist, vermitteln zahlreiche Grenzgedenkstätten mit ihren Inszenierungen der Teilungs- und Wiedervereinigungsgeschichte. Auf der „Ostseite“ finden sich vorwiegend die Bauten und Gerätschaften des Grenzterrors, während auf der „Westseite“ mehr oder weniger überzeugende Kunstwerke die Betroffenheit der Orte und Landschaften vor Augen führen sollen. Die Inszenierungen zeugen vom deutsch-deutschen Ringen um Deutungshoheit, wie beispielhaft anhand eines Denkmals für Helmut Kohl in Mödlareuth nachvollzogen werden kann. Es gab Anlass zur Errichtung des „Gedenksteins der Wegbereiter“, der, wie in einem Flyer erklärt wird, „auf privatem Boden“ an die Verdienste „Zehntausende[r] namenlose[r] Helden der Friedlichen Revolution“ erinnert. Neutraler und vorbildlich in die Zukunft weisend ist die Botschaft des Grünen Bandes. Angesichts der globalen Umweltzerstörung bräuchten wir zahllose Grüne Bänder, die Menschen in der gemeinsamen Sorge um die Schöpfung verbinden, anstatt neue Mauern entlang der Wohlstandsgrenzen15 zu errichten.
Während der Erkundung der Randgebiete trafen wir beeindruckende Menschen, die sich für den Naturschutz und ihre Gemeinschaften engagieren und in der Mitte der Gesellschaft stehen. Sie leben in einem hybriden Raum, der durch die Teilung Deutschlands entstanden ist und trennende wie verbindende Identitätsressourcen bereithält. Diese ermöglichen es, dass je nach Situation Verschiedenheiten hervorgehoben oder Gemeinsamkeiten beschworen werden können. Häufig wird gefragt, warum die Ost-West-Debatte so langlebig ist. Auf unserer Reise stellten wir aber fest, dass es lohnenswert ist zu fragen, wozu diese Debatte dient und in welchem Kontext auf die Grenzerfahrung als Identitätsressource zurückgegriffen wird.
Juliane Stückrad
wurde 1975 in Eisenach geboren, wo sie mit Familie lebt. Sie studierte Ethnologie in Leipzig, wurde in Volkskunde/Empirische Kulturwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena promoviert und arbeitet bei der Volkskundlichen Beratungs- und Dokumentationsstelle für Thüringen.