Malochende Aliens aus dem Grenzgebiet zu Polen

Gebäude mit Bäumen

Foto: Bundesfoto / Christina Czybik

Als der FC Energie Cottbus am 19. Mai 2024 gegen 15 Uhr den Aufstieg in die 3. Bundesliga geschafft hatte, lagen sich Spieler und Fans im Berliner Jahnsportpark beseelt in den Armen. 9.000 Menschen waren Energie in die Hauptstadt gefolgt, um im Prenzlauer Berg die letzte Etappe auf dem Weg ins Glück zu bewältigen. Für die Menschen aus der Lausitz ist der Cottbusser Wiederaufstieg eine große Sache. Sie sind Stehaufmännchen und Stehaufweibchen von beeindruckender Resilienz. Energie ist ein Aushängeschild in der Region, die nicht unbedingt für schöner wohnen, Marke Bullerbü, steht.

Nicht erst seit der Stilllegung des Braunkohletagebau Cottbus-Nord haben die Menschen der Niederlausitz zu kämpfen. Die Wende brachte, wie überall in Ostdeutschland, neben der Freiheit vielen den Verlust des Arbeitsplatzes und forderte zu einer beruflichen Neuorientierung heraus. Alles, was im Sommer 1989 gesellschaftlich, beruflich und privat als richtig galt, musste blitzartig neu bewertet werden. In der Lausitz zu leben, bedeutet nicht nur, geografisch am Rand Deutschlands verortet zu sein. Hier weht der Wind ein wenig rauer als in München. Hier schmeckt der Caffé Latte nach Milchkaffee. Wenn der Wind günstig steht und die Lutken (in der Erde wohnende Zwerge aus der Lausitzer Sagenwelt) es gut mit uns meinen, spürt man sogar ein leichtes Braunkohlearoma im Milchkaffee.

In Cottbus steht nicht die Kunst des schönen Spiels im Vordergrund. In Cottbus heißt es gegenhalten, standhaft bleiben, auf die eigene Kraft vertrauen, dem besser aufgestellten Gegner mit List begegnen, immer alles geben und noch viel mehr.

Gerade deshalb sind populäre Fußballvereine wie der FC Energie Cottbus wichtig, weil sie Identität stiften und ein Zuhause bieten. Lausitzerinnen und Lausitzer strömen in Scharen zu den Spielen. In der Regionalliga Nordost zog Cottbus die meisten Zuschauer an. Der Verein steht auch im Bundesdurchschnitt auf Platz zwei aller Regionalligisten. Leben heißt kämpfen, dieser Spruch trifft auf Region wie Fußballverein gleichermaßen zu.

Namen und Charakter des Clubs passen zusammen. Kein Wunder, Energie bekam bei einem Leserwettbewerb der „Lausitzer Rundschau“ 1966 diesen Namen verpasst. Die damalige DDR-Bezirkshauptstadt galt mit mehreren Kraftwerken und Braunkohletagebauen als Energieproduzent. 450 Leserinnen und Leser stimmten für den Namen Energie, ein erstaunlich demokratischer Prozess.

Um ganz nach oben zu gelangen, brauchte der FC Energie Cottbus den richtigen Trainer, der die nötigen 11 Prozent über dem Durchschnitt aus den Spielern holte. Claus-Dieter Wollitz, genannt Pele, ein aus Brakel, Ostwestfalen, gebürtiger ehemaliger Fußballer, ist u. a. laut, fordernd, polterig, heraufordernd, ein für seine Herde positiv besetzter Prolet, etwa wie der junge Manfred Krug in „Spur der Steine“, ein Erlöser, ein unkaputtbarer Optimist. Er versteht es, an den unsichtbaren Schräubchen zu drehen, hier ein wenig Öl ins Feuer, dort das Zuckerbrot geteilt. In seinem Wesen erinnert der borstige Ostwestfale so gar nicht an den legendären brasilianischen Fußballer Pelé, dessen Spitznamen er trägt und den als Spieler eine gewisse Eleganz ausgezeichnet haben soll. Als Kicker mittelmäßig begabt, zog es Pele Wollitz im Westen Deutschlands von Verein zu Verein. Seine frühen Trainerstationen waren Krefeld und Osnabrück, erst 2009 landete er im tiefen Osten, in Cottbus, als Energies Gastspiele in der Ersten Bundesliga bereits Vergangenheit waren. Es wuchs zusammen, was zusammenpasste. Neue Energie entstand.

Die Energie-Fußballer aus der strukturschwachen Lausitz spielten tatsächlich von 2000 bis 2003 und von 2006 bis 2009 in der Ersten Bundesliga. Ein starkes Stück Fußball, das seinerzeit nicht in allen Leitmedien der BRD positiv wahrgenommen wurde. Energie Cottbus hatte mit Vorurteilen zu kämpfen, einige Punkte wurden zu Recht erwähnt (rechte und gewaltaffine Klientel im Publikum, DDR-Fahnen im Block, Stasi-Verwicklungen des Trainers Ede Geyer, sture Gurkenbauernwagenburgmentalität). Cottbus erfuhr wenig Zuspruch außerhalb von Brandenburg. Daraus zog der Verein lange Kraft, frei nach dem Motto: „Wenn du meinst, wir sind Aliens aus dem Grenzgebiet zu Polen, dann sind wir das jetzt!“, bis er 2014 aus der Zweiten Bundesliga verschwand.

Beim Trainer Wollitz ahnt man: Er braucht den Humus der Lausitz, wo er jeden Regenwurm auf allen Misthaufen kannte und trittfest mit einem Tuch vor den Augen die ewigen Gurkenfelder und Sumpfwiesen des Spreewalds durchmaß. Wollitz wurde ein Gefühlslausitzer, der sich mit seinen feinen Antennen einen Weg in die misstrauischen Herzen der Menschen baute.

Im Mai 2021 trat Wollitz zum dritten Mal das Cottbusser Traineramt an. Sofort danach schaltete er in den Kampfmodus. Schlief er nachts nur mit Maulkorb, um keine Anwesenden im Schlaf zu verletzten? Es hatte den Anschein, als betrachtete er das Gebiet außerhalb der Stadtgrenzen von Cottbus als Feindesland, dem es wehrhaft zu begegnen galt. Wollitz brauchte, wie seine Mannschaft und ihre Fans, direkte Kontrahenten, an denen er sich abreagieren konnte. Der SV Babelsberg durfte lange die Position des lokalen Konkurrenten übernehmen. In den letzten Jahren wuchs der BFC Dynamo in diese Rolle. Wollitz zog Kraft aus der Konfrontation mit gegnerischen Mannschaften, Fans und geografischen Gegebenheiten. Seine Fans erkannten im leidenschaftlichen Diskurs ihres Trainers mit mutmaßlichen und wirklichen Ungerechtigkeiten dessen wahre Leidenschaft und schmiedeten ein noch engeres Band. Die Lausitzer lieben ihren Pele, weil sie wissen, in seinen Adern fließen Fußbälle, und sein Herz hat längst die Form des Clubemblems angenommen. Er entwickelte sich zum lokalen Markenzeichen, dem vielleicht in späteren Jahren ein Denkmal errichtet werden muss. Und nicht mal besonders böse Zungen würden behaupten, dass hier mal wieder ein Westdeutscher eine Führungsposition im Osten usurpierte.

Dabei sah es zum Ende der Halbserie noch zappenduster für Cottbus aus. Fiese zwölf Punkte trennten sie vom damaligen Tabellenführer. Wollitz mobilisierte die Sparstrümpfe der alten Cottbusser Mütterchen und stellte mit seinem Präsidenten alles auf den Kopf. Und die Euros flossen ihm zu, und er erstand nebst den Galoschen des Glücks ein knappes Dutzend spielstarker Recken, die Energie letztlich aus der Hölle Vierte Liga in die Vorhölle des Profi-Fußballs, die Dritte Liga, chippte.

Was für ein wundervolles Bild! Alle Sagengestalten der Lausitz sind ihm hold, und auch die zweite Mannschaft von Hertha BSC erwies sich als perfekter Gastgeber. Nach dem Sieg gab es kein Halten mehr, und der Champagner floss verdientermaßen in die Wollitzkehle. In einem ostdeutschen Fußballmärchen wirken ganz besondere Mächte.

Stark genug gegen eingefahrene Strukturen sind sie jedoch nicht. Schon längst spendet im Osten der deutschen Fußballwelt der Satz, dass Geld keine Tore schießt, keinen Trost mehr. Tut es doch! Auf die Dauer hilft selbst das Zusammenwirken von fußballerischen Malochern aus einer siechen Braunkohlegegend am Rande Polens und dem östlichen Westfalen nicht gegen materielle Schwäche. Im nächsten Jahr hat Ostdeutschland keinen Direktaufstiegsplatz in die Dritte Liga. Fans in ganz Deutschland fordern: Meister müssen aufsteigen. Wenn es zu Abstimmungen im DFB kommt, gerät der zahnlose NOFV (Nordostdeutsche Fußballverband) regelmäßig auf die Verliererstraße. Vielleicht wäre die Einführung einer Vierte Liga mit vier Direktaufsteigern die Lösung? In England ist das seit Jahrzehnten ein erfolgreiches Rezept, um abgehängten Traditionsvereinen eine Chance zur Rückkehr in den Profi-Fußball zu bieten. Um eine Idee durchzusetzen, bedarf es solidarischen Vorgehens aller Fußballclubs.

35 Jahre nach der politischen Wende gibt der ostdeutsche Fußball kein strahlendes Bild ab. Der heutige Fußballosten knüpft längst nicht mehr an die Vergangenheit der verflossenen DDR-Oberliga an. Daran erinnern sich nur noch wenige Fußballfans wehmütig. Heute, im Zeitalter des Systemfußballs mit Gegenpressing und Fußballakademien, leiden sie am Mangel. Die Zuschauerzahlen einiger Traditionsclubs zeigen aber deutlich, wie sehr sich die Menschen im Osten Fußball-Deutschlands nach Bundesliga-Fußball sehnen.

Zurück in die Lausitz. Neuling Energie Cottbus wird es in der Dritten Bundesliga schwer haben trotz der vereinten Willensleistung der Fußballmalocher aus dem tiefen Osten. Trotzdem: Auch wenn der Glaube im Fußball keine Geldberge versetzt, gelingt ihnen vielleicht ein ähnliches Husarenstück wie Preußen Münster und dem SSV Ulm, die als Aufsteiger in dieser Drittliga-Saison den direkten Durchmarsch in die Zweite Liga hinlegten. Wer weiß?


Frank Willmann
geboren am 20.09.1963 in Weimar, reiste am 15.02.1984 aus der DDR nach West-Berlin aus. Er lebt als freier Schriftsteller in Berlin, zuletzt erschienen 2023 „Der Pate von Neuruppin“ (Tropen/Klett-Cotta) und 2024 „Streifzüge durch den wilden Ostfußball“ (Ventil). Er veröffentlicht in diversen Zeitschriften und Zeitungen Texte zum Fußball und zur Literatur.