Litauen und Deutschland: Richtung strategischer Partnerschaft

Carsten Schneider, Staatsminister

Foto: Paul Philipp Braun

Über die historischen Beziehungen zwischen Litauen und Deutschland lässt sich viel schreiben: über die erste Erwähnung des Namens Litauen in den Annalen der deutschen Stadt Quedlinburg im Jahr 1009. Über die Union zwischen dem wettinischen Kurfürstentum Sachsen und der Republik der beiden Nationen – der Krone Polens und des litauischen Großfürstentums – im 18. Jahrhundert, welche den Kurfürsten von Sachsen, August II. und August III., auch die Titel der Großfürsten von Litauen verliehen hat. Auch über die nicht zustande gekommenen Versuche Anfang des 20. Jahrhunderts, Wilhelm Karl von Urach, Herzog von Urach, Graf von Württemberg, zum König von Litauen als Mindaugas II. zu ernennen. Aber nicht nur das. Die facettenreiche und langjährige gemeinsame litauisch-deutsche Geschichte wird auch heute fortgesetzt und weitergeschrieben.

Im Jahr 1990 hat sich Deutschland wiedervereinigt, und Litauen hat sich von der ein halbes Jahr- hundert andauernden sowjetischen Okkupation befreit. Gemeinsam kehrten wir in die demokratische Familie der europäischen Länder zurück. In diesem Jahr hat Litauen den 20. Jahrestag seiner Mitgliedschaft in der EU und der NATO gefeiert. Beim Schreiben der Geschichte Europas sind und werden wir nun wieder zusammen sein.

Das wiedervereinigte Deutschland ist ein außerordentlich wichtiger Partner Litauens auf der bilateralen Ebene in der Politik, Wirtschaft und Kultur, aber auch in der Europäischen Union und der NATO. Es wird aber auch zum wichtigsten Sicherheitspartner Litauens in Europa. Die gemeinsame Ausrichtung der Außenpolitik Litauens und Deutschlands auf eine regelbasierte Weltordnung ist besonders wichtig, denn in der Zeit der russischen Aggression gegen die Ukraine und der damit verbundenen globalen Instabilität und Polykrisen ist es von entscheidender Bedeutung, die transatlantische Partnerschaft zu stärken und die Bemühungen von gleich gesinnten Demokratien um die Gewährleistung von Gerechtigkeit, Sicherung von Souveränität und territorialer Integrität der Staaten, Ausbau des Raumes der Sicherheit und Stabilität sowie Erweiterung eines globalen Netzwerks von zuverlässigen Partnerschaften zu bündeln.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat den Schub für den größten Wandel in der deutschen Außenpolitik seit dem Ende des Kalten Krieges mitgegeben. Die Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz vor dem Deutschen Bundestag am 27. Februar 2022, nach dem weit ausgreifenden Einmarsch Russlands in die Ukraine, markierte den Beginn der Zeitenwende in der deutschen Politik: In der Energiepolitik hat Deutschland seine Abhängigkeit von russischen Energielieferungen aufgehoben. Im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik hat es sich verpflichtet, die Verteidigungsausgaben deutlich zu erhöhen, und steht heute fest auf Platz zwei nach dem Umfang der für die Ukraine gelieferten militärischen Unterstützungsleistungen. Wir begrüßen diese Entwicklungen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik und sehen sie als ein Anzeichen der zunehmenden Führungsrolle Deutschlands in Europa und auf der ganzen Welt, die wir in Litauen sehr gerne unterstützen.

Eines der wichtigsten Ergebnisse dieses Wandels für Litauen ist die Entscheidung, eine Brigade der Deutschen Bundeswehr dauerhaft in Litauen zu stationieren. Dadurch wird Deutschland zum wichtigen europäischen Pfeiler der Sicherheit Litauens und der gesamten NATO-Ostflanke. Das ist eine historische Entscheidung, eines der wichtigsten Ereignisse für Litauen neben unserer EU- und NATO-Mitgliedschaft, und eine Entscheidung, die den Weg dafür ebnet, die Beziehungen zwischen Litauen und Deutschland auf eine qualitativ neue Ebene zu bringen – die einer strategischen Partnerschaft. Es ist die gemeinsame Aufgabe von Litauen und Deutschland, den Einsatz der deutschen Brigade in Litauen und ihren Beitrag zur Sicherheit der gesamten osteuropäischen Region zu einer Erfolgsgeschichte der Zeitenwende und zu dem Beispiel der Effektivität zu machen.

Die deutsche Brigade in Litauen wird nicht nur die Sicherheit unseres Landes und der Ostflanke der NATO stärken, sondern auch die Sicherheit Deutschlands, da sie eine starke militärische Abschreckung gegen mögliche russische Provokationen darstellt. Sie ist ein praktisches Instrument zur Umsetzung des NATO-Artikels 5, um im Falle einer möglichen Aggression jeden Zentimeter des Bündnisgebietes verteidigen zu können. Die Stationierung der deutschen Brigade in Litauen, genauso wie die aktive Beteiligung Deutschlands an der NATO-Luftraumüberwachung in den baltischen Ländern, ist ein Ausdruck praktischer Solidarität und ein Vorbild für andere. Litauen wird alles dafür tun, dass sich die deutschen Soldatinnen und Soldaten und ihre Familien in unserem Land wohlfühlen und die bestmöglichen Bedingungen vorfinden.

Gleichzeitig möchte ich versichern, dass Litauen nicht nur der Nutznießer von Sicherheit sein wird. Wir sind bereit, die Verteidigungsausgaben weiter zu steigern und in die Stärkung unserer Verteidigungsfähigkeiten zu investieren. Deutschland ist zusammen mit den Vereinigten Staaten vorrangiger Partner bei der Modernisierung der litauischen Streitkräfte. Wir sind interessiert, unsere Waffen- und Ausrüstungsbeschaffungsprojekte mit Deutschland fortzusetzen und deutsche Investitionen in die litauische Verteidigungsindustrie zu fördern. Unsere Zusammenarbeit im Rahmen internationaler Operationen und militärischer Missionen wollen wir fortsetzen. Ein großes Potenzial sehen wir auch im Ausbau der Zusammenarbeit in den Bereichen Resilienzbildung, Cybersicherheit, Bekämpfung von hybriden und Informationsbedrohungen.

Europa ist heute mit radikalen Herausforderungen konfrontiert. Russlands Krieg in der Ukraine, seine aggressiven Pläne der Militärreform, die russisch-weißrussische militärische Integration und die stark militarisierte Oblast Kaliningrad stellen eine unmittelbare und langfristige Bedrohung für die Ostgrenze der NATO und insbesondere für die Ostküste der Ostsee dar. Man muss begreifen, dass der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ein Krieg gegen den Westen, gegen unsere demokratischen Werte und gegen die auf dem Völkerrecht basierende Weltordnung ist. Dieser Krieg ist nicht mehr nur eine theoretische Möglichkeit, sondern etwas, was in unseren Ländern tatsächlich geschieht. Das, was wir früher als hybride Angriffe Russlands auf uns bezeichnet haben, ist heute zu offenen Sabotageakten geworden, und Russland scheut sich nicht, auch mit militärischer Gewalt vorzugehen. Die gefährliche Eskalation der Sicherheitslage durch Russland, sein Bestreben, die Staatsgrenzen neu zu ziehen sowie auf die Normen der internationalen Beziehungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg jahrzehntelang Frieden und Wohlstand in Europa garantierten, zu verzichten, erfordert heute eine starke und entschlossene Antwort der Verbündeten, eine wirksame Abschreckung und eine effektive Vorwärtsverteidigung.

Die Ukraine und ihre Bevölkerung kämpfen nicht nur für sich, sondern auch für uns, und es ist unsere Pflicht, der Ukraine alle Unterstützung zukommen zu lassen, die sie braucht, um Russland in der Ukraine zu stoppen. Andernfalls werden wir Russland an unseren Grenzen aufhalten müssen. Ich wünsche mir, dass Deutschland dabei die Führungsrolle übernimmt. Wir schätzen Deutschlands Unterstützung für die Ukraine sehr, aber ich bin überzeugt, dass alles noch mehr und noch schneller gehen kann. Dies liegt im Interesse der gesamten demokratischen Welt. Deutschland kann und muss in einer Vorreiterrolle der Demokratien sein.

Litauen ist auch bereit, seinen Teil der Verantwortung zu übernehmen – wir waren unter den Ersten, die der Ukraine schon lange vor 2022 militärische Hilfe geleistet haben. Zurzeit beträgt der Gesamtumfang dieser von Litauen an die Ukraine bereits geleisteten Hilfe 2 Prozent unseres jährlichen Bruttoinlandsprodukts (BIP), und für die nächsten 10 Jahre sind wir entschlossen, überdies jährlich 0,25 Prozent des litauischen BIP für die Verteidigung und Sicherheit der Ukraine bereitzustellen.

Um Russland, das zu einer Kriegswirtschaft geworden ist, zu stoppen, haben wir unseren gemeinsamen politischen Willen weiter zu mobilisieren und die notwendigen Hausaufgaben zu erledigen. Angesichts mangelnder Verteidigungsfähigkeiten muss die Rüstungsindustrie wieder hochgefahren werden, um unsere Verteidigung zu gewährleisten und die Ukraine mit lebenswichtiger Munition und Luftabwehrsystemen zu versorgen. Die Mittel für Verteidigungszwecke müssen weiter aufgestockt werden. Um das jahrzehntelange Defizit bei den Verteidigungsinvestitionen zu beseitigen, dürfen 2 Prozent des BIP nicht mehr nur als Ziel, sondern müssen als Mindestmaß betrachtet werden. Das ist nicht einfach, aber es ist die Pflicht der Politik, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass Investitionen in Sicherheit und Verteidigung lebenswichtig sind, denn ohne sie werden wir weder Wohlstand noch – was noch wichtiger ist – Freiheit haben.

Die Intensivierung der sicherheitspolitischen Kooperation zwischen Litauen und Deutschland durch die permanente Stationierung der deutschen Brigade in Litauen bietet eine einzigartige Gelegenheit, eine qualitativ neue Etappe der bilateralen Beziehungen in Richtung der strategischen Partnerschaft zwischen Litauen und Deutschland einzuleiten. In den letzten Jahren hat sich die bilaterale Zusammenarbeit in der Politik, Wirtschaft, Kultur und anderen Lebensbereichen zwischen Litauen und Deutschland intensiviert, und wir sind bestrebt, diese positive Dynamik aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln sowie sie in neue Möglichkeiten für die Menschen und Unternehmen umzuwandeln.

Ein praktisches Beispiel dafür ist die in diesem Jahr unterzeichnete Vereinbarung zwischen dem litauischen Ministerium für Wirtschaft und Innovation und dem deutschen Rüstungskonzern Rheinmetall AG über den Bau eines Munitionswerkes in Litauen. Mit einer Investition von mehr als 180 Mio. Euro wird das die größte Investition im litauischen Sicherheits- und Verteidigungssektor sein.

Litauen richtet sich auf den Kern der Europäischen Union aus und teilt dementsprechend viele gemeinsame Interessen mit Deutschland, dem Motor der europäischen Integration. Berlin und Vilnius schätzen die gemeinsamen Werte Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hoch und stehen dafür ein. Sowohl Berlin als auch Vilnius sind sich einig in der Betrachtung der EU-Erweiterung als geopolitischer Notwendigkeit und großer Chance, den Raum der Demokratie, des  Wohlstands und der Sicherheit auf dem europäischen Kontinent zu erweitern. Da Russland noch lange Zeit die essenzielle Bedrohung für die europäische Sicherheit bleiben wird, ist es äußerst wichtig, richtungsweisende Entscheidungen über die EU-Integration der Ukraine, der Republik Moldau und – falls dieses auf den Weg der demokratischen Werte und der europäischen Integration zurückkehrt – von Georgien rechtzeitig zu treffen. Wenn man in der Zukunft wiederholte Aggressionen vermeiden will, gibt es nur eine Möglichkeit: konkrete Schritte vorzusehen, die der Ukraine und anderen danach strebenden Ländern der Region möglichst schnell erlauben würden, der EU beizutreten und die kollektiven Garantien der NATO zu bekommen.

Im Jahr 2002, in dem er auf dem Rathausplatz von Vilnius eine Rede hielt, erklärte der damalige US-Präsident George W. Bush, dass „von nun an jeder Feind Litauens auch als Feind der Vereinigten Staaten betrachtet wird“. Worte, die jeder Litauer auswendig kennt. Heute bin ich zutiefst davon überzeugt, dass das Engagement Deutschlands für die Sicherheit Litauens und für unsere gemeinsame Sicherheit durch die Stationierung der deutschen Brigade in unserem Land dem der Vereinigten Staaten in seiner historischen Bedeutung in nichts nachsteht und sich tief und bedeutsam in den Herzen der Litauerinnen und Litauer verankern wird.

Foto von Gabrielius Landsbergis

Gabrielius Landsbergis

Foto: Außenministerium Litauen / Jurijus Azanovas

Gabrielius Landsbergis
ist litauischer Politiker und seit 2020 Minister für auswärtige Angelegenheiten der Republik Litauen im Kabinett von Ministerpräsidentin Ingrida Šimonytė. Seit 2015 ist er Vorsitzender der Vaterlandsunion – Litauischer Christdemokraten.