Einheit und Freiheit

Teelichter mit Schriftzug Lichtfest

Foto: Bundeskanzleramt

Dieses Grundgesetz gilt nach Vollendung der Einheit und Freiheit für das gesamte deutsche Volk – damit zieht der Artikel 146 GG (n. F.) die verfassungsrechtliche Konsequenz aus den disparaten historischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte, insbesondere von 1989/90. Im historischen Blickwinkel besitzt es mit 75 Jahren Geltungskraft, davon 41 Jahre im geteilten und 34 Jahre im wiedervereinigten Deutschland, die längste Dauer einer deutschen Verfassung. In unserem Land bildet das Grundgesetz das Fundament für das Zusammenleben aller, gleich, ob in Nord oder Süd, West oder Ost. Das ist eine große Errungenschaft, stellt aber auch eine beständige Anforderung dar. Denn die gesamte Bürgerschaft in Deutschland bildet immer auch – und gerade heute – eine Verantwortungsgemeinschaft für diese Verfassung. Sie ist letztlich für Einhaltung und Pflege zuständig. Bei aller Verschiedenheit der Menschen, der Städte und ländlichen Kommunen, der Regionen und Länder im Bundesgebiet stellt das Grundgesetz ein verbindendes, verbindliches Einheitsband dar. Es legt vor dem Hintergrund der Werteordnung – Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Frieden als normativ-regulative Ideen – die Grundrechte, Staatsprinzipien und -ziele, Staatsorganisation, den Rahmen und die Regeln fest. Diesbezüglich braucht das Grundgesetz nicht nur Einsicht als Leistung der moralisch-praktischen Vernunft, sondern auch einen Sitz im konkreten Leben, braucht Annahme und Aufnahme in die Lebenswirklichkeiten unseres Gemeinwesens. Bei allen pluralen Unterschieden – Sichtweisen, Konflikten, Widersprüchen, Interessen auf den unterschiedlichen Ebenen – zeigen sich hier Möglichkeit und Wirksamkeit von Integration durch unsere Verfassung. Dabei hat diese sich den jeweiligen Anforderungen der Zeit gestellt. 67-mal wurde der Verfassungstext bis heute geändert. Als in dieser Weise ‚atmende Verfassung‘ hat sich das Grundgesetz der Europäischen Union (Art. 23 GG) und internationalen Rechtsregeln (Art. 24 und 25 GG) geöffnet und ermöglicht Identität im Mehrebenenbezug. Als Herzstück der freiheitlichen, rechts- und sozialstaatlichen Demokratie verbürgt es die Ordnung des Zusammenlebens. Dadurch gibt das Grundgesetz Orientierung und Halt über den vielfältigen Meinungsstreit, die öffentlichen Kontroversen und die jeweiligen politischen Entscheidungen hinaus. Es bietet zugleich auf der eigenständigen Grundlage von Freiheit und Einheit den Rahmen für eine andere anerkennende, offene, weltläufige Nation. Das gilt es, auch in den aktuellen schwierigen Gemengelagen zu verteidigen.

Als der Parlamentarische Rat am 23. Mai 1949 das Grundgesetz verkündete, war das ein Glücksfall für die Deutschen. Damals als Provisorium empfunden angesichts der politischen Gegebenheiten der Nachkriegszeit, wurde doch das Grundgesetz gewissermaßen als Vollverfassung ausgearbeitet. Dabei bestimmten nicht nur der Einbezug des historischen Konstitutionalismus – insbesondere der Paulskirchenverfassung 1848/49 und der Weimarer Verfassung –, sondern vor allem die unheilvollen, katastrophalen Erfahrungen der vorangegangenen NS-Diktatur und des Weltkrieges die Ausarbeitungen. Grundlage wurde so einerseits der antitotalitäre, antidiktatorische Grundkonsens des Grundgesetzes. Er fand seinen Niederschlag in der Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG, den Grundrechten und den Verfassungsprinzipien Rechtsstaat, Sozialstaat, Demokratie und Bundesstaat. Für die Ostdeutschen stand dadurch die stete Präsenz der grundgesetzlichen Freiheitsordnung der SED-Diktatur mit der zunehmend „durchherrschten“ Gesellschaft gegenüber. Andererseits wurde über die Jahrzehnte hinweg – ungeachtet aller Vereinbarungen und Veränderungen im Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander – grundgesetzlich an der Überwindung der Teilung von Staat und Nation festgehalten, was sich im einheitlichen Staatsbürgerrecht (Art. 116 GG) manifestierte. Im „Westen“ nicht immer zureichend beachtet und gewürdigt, hatte dies für viele Ostdeutsche aber eine herausragende Bedeutung: Als Deutsche fanden sie in Westdeutschland Aufnahme und Hilfe bei all den Fluchtbewegungen. Allein bis zum Mauerbau am 13. August 1961 flohen rund drei Millionen Menschen aus der DDR nach Westdeutschland. Dann kamen die Mauer- und Grenzflüchtlinge, die Freigekauften und anschwellend die Antragsteller und „Ausreiser“ hinzu, fortgesetzt durch den Strom der „Botschaftsbesetzer“. Und nach der – erzwungenen – Maueröffnung waren es die Vielen, die dann täglich zu Tausenden in den Westen gingen. All diese „Rübermacher“ vertrauten auf das Grundgesetz. Auch wenn im neuen Leben manches ungewohnt war: Sie kamen nicht in die Fremde, sondern als Gleiche in das ihnen offen stehende28 freien Wahlen, Demokratie, Rechtsstaat und auch der föderalen (Wieder-)Einrichtung der Länder. Diese dreifache Präformation verborgener wie dann öffentlicher Erfahrung grundierte mit den Weg für den schnellen Einheitsprozess. Mit dem Beitritt der fünf neuen Bundesländer nach Art. 23 GG konnte das Grundgesetz nicht nur staatsrechtlich, sondern auch in Zuspruch und Akzeptanz Fundament für ein nun gemeinsames Deutschland sein. Das trägt Jahrzehnte später auch heute – entgegen mancher aktuellen Kritik. Nach Hannah Arendt tritt in einer Freiheitsrevolution ein historischer Neubeginn in Erscheinung, eine neue Ordnung „novus ordo saeclorum“, die beruhend auf der menschlichen Fähigkeit zum Neubeginn, in einem Gründungsakt die Constitutio Libertatis schafft. Die vielen Demonstranten überall in der DDR haben diese Fähigkeit der Befreiung von der Diktatur und den Neubeginn hin zu einer freiheitlichen Demokratie machtvoll unter Beweis gestellt. Allerdings kam es nicht, anders als Entwicklungen in den Ländern Mittel- und Osteuropas, zu einem eigenen Gründungsakt und damit zu einer neuen Verfassung. Dies lag an der einzigartigen Konstellation der geteilten deutschen Staatsnation, die von „Freiheit und Einheit“ zugleich gekennzeichnet war. Mit dem Grundgesetz lag bereits eine Constitutio Libertatis vor. So ging damals der revolutionäre Impetus über in die Forderung nach einer schnellen Anbindung an dieses, wobei der Weg nach Art. 23 GG (a.F.) oder Art.146 G (a.F.) strittig war. Gleichwohl zeigte sich ein zweites revolutionäres Streben Ende 1989 in der Forderung, (West-)Deutschland, wie es das deutsche Staatsbürgerrecht des Grundgesetzes gebot. Die Nation vermittelte dabei nicht nur das Gefühl der Zu- und Zusammengehörigkeit, sondern war auch ein verbindender Deutungsrahmen für Solidarität – und ist es bis heute. Der Zuspruch zum Grundgesetz heute lebt mit – wenn auch unterschwellig – von diesen öffentlich wenig erinnerten Erfahrungen Ostdeutscher. Gleichwohl gehört dies in das gemeinsame kollektive Gedächtnis.

Westdeutschland hatte sich „viele Jahrzehnte lang als imaginärer Sehnsuchtsort in das Gedächtnis vieler Ostdeutscher eingeschrieben“ (Christian Rau) und war für Ostdeutschland eine Art Referenzgesellschaft – in Teilen bis heute bei aller eigenständigen Entwicklung, auch mit entsprechendem großen Erwartungshorizont. Für viele Ostdeutsche in der DDR war sowohl die rechtsstaatliche freiheitliche Demokratie des Grundgesetzes als Gegenpart zur Diktatur als auch dessen Festhalten an der einheitlichen deutschen Nation/Nationalstaat in der Präambel und über das Staatsangehörigkeitsrecht stets im inneren Bewusstsein. So besaß das Grundgesetz in den Zeiten der staatlichen Teilung eine doppelt präformierende Kraft für dessen spätere Annahme und Geltung. Diese Präformation setzte sich in der friedlichen Revolution 1989/90 fort, wobei sich schnell die Freiheits- und Demokratieforderungen mit denen nach Wiedervereinigung gemäß „Deutschland einig Vaterland“ druckvoll wie unentwirrbar mischten. Den tausend kleinen Widerständen im DDR-Alltag standen nun die tausend kleinen Aufbrüche gegenüber, die zugleich schon von „Freiheit und Einheit“ affiziert waren. Die Forderungen auf den großen Demonstrationen und den vielen Versammlungen entsprachen in etwa dem Grundgesetz in den Staatsprinzipien und den Grundrechten – von der Meinungsfreiheit über Versammlungs-, Vereinigungs-, Presse-, Reisefreiheit bis hin zu freien Wahlen, Demokratie, Rechtsstaat und auch der föderalen (Wieder-)Einrichtung der Länder. Diese dreifache Präformation verborgener wie dann öffentlicher Erfahrung grundierte mit den Weg für den schnellen Einheitsprozess. Mit dem Beitritt der fünf neuen Bundesländer nach Art. 23 GG konnte das Grundgesetz nicht nur staatsrechtlich, sondern auch in Zuspruch und Akzeptanz Fundament für ein nun gemeinsames Deutschland sein. Das trägt Jahrzehnte später auch heute – entgegen mancher aktuellen Kritik.

Nach Hannah Arendt tritt in einer Freiheitsrevolution ein historischer Neubeginn in Erscheinung, eine neue Ordnung „novus ordo saeclorum“, die beruhend auf der menschlichen Fähigkeit zum Neubeginn, in einem Gründungsakt die Constitutio Libertatis schafft. Die vielen Demonstranten überall in der DDR haben diese Fähigkeit der Befreiung von der Diktatur und den Neubeginn hin zu einer freiheitlichen Demokratie machtvoll unter Beweis gestellt. Allerdings kam es nicht, anders als Entwicklungen in den Ländern Mittel- und Osteuropas, zu einem eigenen Gründungsakt und damit zu einer neuen Verfassung. Dies lag an der einzigartigen Konstellation der geteilten deutschen Staatsnation, die von „Freiheit und Einheit“ zugleich gekennzeichnet war. Mit dem Grundgesetz lag bereits eine Constitutio Libertatis vor. So ging damals der revolutionäre Impetus über in die Forderung nach einer schnellen Anbindung an dieses, wobei der Weg nach Art. 23 GG (a.F.) oder Art.146 G (a.F.) strittig war. Gleichwohl zeigte sich ein zweites revolutionäres Streben Ende 1989 in der Forderung, dass angesichts der durchgesetzten Depotenzierung der SED-Herrschaft die Grundlage für DDRweite (Regierungs-)Entscheidungen auf der Basis einer neuen Verfassung beruhen müsste. Nach Zurückweisung diesbezüglicher Forderung der alten Volkskammer gab folgerichtig der Zentrale Runde Tisch, der SED/PDS, gewandelte Gruppierungen der ehemaligen Nationalen Front und neu-revolutionäre Oppositionsgruppen als neues Steuerungszentrum versammelte, den Auftrag zur Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs an eine Arbeitsgruppe. Dieser Entwurf wurde bis zu den ersten freien Wahlen zur Volkskammer in der DDR nicht fertig. Das überaus deutliche Mehrheitsergebnis dieser freien Wahl wirkte wie eine Art Volksentscheid, ein Plebiszit für schnelle „Freiheit und Einheit“ gleichermaßen. Auf de anerkannten Legitimitätsgrund mit frei gewählter Volkskammer und Regierung wurde insgesamt der schnelle Beitritt nach Art. 23 GG auf den Weg gebracht, unterstützt von Umfrageergebnissen mit überwältigender Mehrheit dafür. In der Folge gab es eine eigentümliche Gemengelage hinsichtlich des Zieles – reformierte DDR, langsamer Vereinigungsprozess oder schneller Beitritt – und der Verfahren. Der Entwurf der AG des Zentralen Runden Tisches wurde von diesem nicht mehr verabschiedet, zwar später den neuen Abgeordneten zugestellt, aber dann nicht mehr in der Volkskammer beraten. Bündnis 90, PDS und einige Abgeordnete wollten diesen aber durchsetzen; Ministerpräsident Lothar de Maiziere wollte die DDR-Verfassung von 1949 wiederbeleben; die SPD wollte mittels „Bausteinverfahren“ verschiedene Gesetze für eine DDR-eigene Verfassung verabschieden mit dem Ziel der staatlichen Einheit; viele der Allianz für Deutschland (CDU, DSU, DA) wollten einen schnellen Beitritt ohne eigene Verfassung. Diese Gemengelage folgte aus den Widersprüchen von „Einheit und Freiheit“ im revolutionären Verlauf. Weder war Zeit für eine Diskussion noch für eine Einigung der divergierenden Vorstellungen, erst recht nicht angesichts der gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse. Deshalb galt nun (kurioserweise) für die Übergangszeit bis zum Beitritt gemäß Art. 23 GG die von Diktaturbezügen bereinigte DDR-Staatsverfassung von 1974. Das Verfassungsgrundsätze-Gesetz der neuen Volkskammer, der Staatsvertrag zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, der Wahl- und der Einigungsvertrag sowie davor der Volkskammerbeschluss zum Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes bildeten dann das gesetzliche und vertragliche Grundgerüst zum Zusammengehen beider deutscher Staaten/uno actu der neuen Bundesländer am 3. Oktober 1990. Deutsche Einheit, das hieß Geltung des Grundgesetzes für alle. Anfang der 90er-Jahre wird gemäß Art. 5 Einigungsvertrag der republikanische Verfassungsimpetus noch einmal aufgenommen. Die Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat erarbeitete unter großer öffentlicher Beteiligung und inhaltlich wie formal kontrovers eine Vorschlagsliste für Verfassungsänderungen, von denen in bewährter Tradition der „living constitution“ eine Reihe grundgesetzlicher Änderungen aufgenommen wurde.

Denn auf diese Weise ist das gemeinsame Grundgesetz in spezifischer Weise auch ihr Grundgesetz. Das gilt gerade dann, wenn man den Prozess von 1989/90 auch als gewissermaßen zweiten Gründungsakt des Grundgesetzes, als zweite Constitutio Libertatis, begreift. Denn anders als damals in Westdeutschland entstand dieser Zugang aus einem eigenständigen, revolutionären freiheits- und einheitsorientierten Geschehen heraus. Dieser erinnerte Bezug daran – wenn er gelingt – ermöglicht heute für die nachwachsenden Generationen weiter zuwachsende Legitimität und Akzeptanz des Grundgesetzes. Eine so begriffene doppelte Verfassungsgründung stellt deshalb einen wichtigen Anker dar für die gegenwärtigen inneren Stabilitätsnotwendigkeiten Deutschlands, aber auch für differenzierte Prozesse zur Einheit von Staatsbürgernation und Kulturnation (also gewissermaßen „Kant“ und „Herder“ zusammen) in offenen Kontexten, für die Lebensverhältnisse in den Regionen und personalen Lebensweisen.

Allerdings haben in den letzten Jahrzehnten westliche wie östliche Skepsis zu politischen Ergebnissen und eine Vertrauenserosion in die Wirksamkeit staatlichen Handelns zugenommen. Deshalb gilt es im Lichte dieser und anderer aktueller Krisen zu prüfen, ob sich annehmende Verfassungsverhältnisse in der politischen Kultur des alltäglichen Lebensvollzugs als subkutane oder öffentliche Routinen, als verinnerlichte „Gewohnheiten des Herzens“ (Robert N. Bellah), weiter ausgebildet haben – oder ob es bei Stagnation hierfür eines erheblichen Mehreinsatzes bedarf. Zumindest muss angesichts manch aktueller problematischer Einlassungen in der Öffentlichkeit daran erinnert werden, dass es eine Differenz von Verfassung und den jeweiligen Politikfeldern gibt. Das Grundgesetz ist die Freiheitsordnung, auf dessen Fundament dann die aktuellen politischen Entscheidungen mitsamt ihren streitigen Auseinandersetzungen erfolgen. Die kritische Diskussion, die Ablehnung von Regierungsentscheidungen oder parteipolitischem Handeln darf nicht verwechselt werden mit der Absage an das Grundgesetz selbst, denn das führt in die rechtliche und politische Selbstzerstörung. Das Grundgesetz erfordert bei aller Kritik im Einzelnen Anerkennung durch Staat und Bürgergesellschaft gleichermaßen und deren Einsatz gegen aktive Kräfte, die es zerstören wollen. Es besitzt selbst Schutzmechanismen, unter anderem mit Art. 18 GG (Verwirkung von Grundrechten), Art. 19 Abs. 2 GG (kein Antasten des Wesensgehalts eines Grundrechtes) und Art. 79 Abs. 3 GG (Unzulässigkeit von Änderungen der Grundsätze von Art. 1 und 20 GG, sogenannte Ewigkeitsgarantie). Auch das Bundesverfassungsgericht kommt seiner Aufgabe als „Hüter der Verfassung“ stets nach.

Aber Verantwortung liegt auch bei den Beteiligten im politischen Prozess selbst. Die von so manchem heute oft mit Emphase vorgebrachte Forderung: „Es muss sich etwas ändern, dringend“ weist auf Mängel in der Responsivität von Wählern und Gewählten hin. Hier sind Problemwahrnehmungsfähigkeiten, Problemlösungsfindungen und Problembearbeitungskapazitäten im politischen Feld kritisch angesprochen. Dies fordert zu mehr Gespräch und Diskurs auf, zu mehr Erklärungen über Wertentscheidungen und Sachverhalte, zu mehr Beteiligungen und Engagement – das allerdings beiderseitig. Eine Revitalisierung der (parlamentarischen) Demokratie unseres Landes bedeutet, politikerseits mehr Aufnahmebereitschaft für angezeigte Probleme aufzubringen und politische Überzeugungsarbeit für Maßnahmen mit Hartnäckigkeit zu betreiben. Es bedeutet aber auch vermehrte Aufgeschlossenheit und konstruktive Lösungsarbeit seitens einer vielfältigen Bürgerschaft. Da gibt es viel Verbesserungspotenzial, im Osten wie im Westen. Zudem gilt: Gerade in Krisenzeiten wird die Kraft des besseren Arguments dringlich gebraucht. Und ebenso gilt, dass es eine zivilisatorische Errungenschaft ist, verschiedene Sichtweisen und Meinungsdifferenzen nicht in Rücksichtslosigkeit, Beleidigung, Hass oder gar Gewalt münden zu lassen.

Freilich bleibt hier nicht nur politisch, sondern auch verfassungsbezogen ein Risiko. Denn – in Abwandlung des bekannten Böckenförde-Diktums – lebt unser Grundgesetz von Voraussetzungen, die es selbst nicht garantieren kann. Das zeigt sich in der letztlichen Nichtverfügbarkeit offener und verborgener Konsense wie Konflikte, von Disparitäten und Ambiguitäten der deutschen Gesellschaft. Wie jede ist gerade auch sie in ihrer historischen Ausprägung von differenten kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Strömungen durchzogen. Diese pluralen heterogenen Lebensstrukturen und die Bandbreite ökonomischer wie soziokultureller Entwicklungen sind auch dem Faktum der Pluralität (Hannah Arendt) und der „ungeselligen Geselligkeit“ (Kant) der Menschennatur geschuldet. Der erheblichen Vielfalt gegenüber steht das Erfordernis von Einheit. Denn für Annahme und Wirksamkeit einer Verfassung braucht es notwendig auch strukturelle Gleichheit und Gleichgesinntheit: soziale Kohäsion, wirtschaftlichen Ausgleich, kulturelle Verbundenheit, politische Gemeinsamkeit. Darauf hat bereits der Weimarer Staatsrechtler Hermann Heller verwiesen, wenn er vom „nichtnormierten Unterbau der Verfassung“ spricht. Dieses notwendige Mindestmaß an Übereinstimmung zeigt sich beispielsweise in der Kulturnation (neben Sprache, Geschichte, Kunst) als Gewohnheiten der Lebenswelt mit ihren vertrauten Codes, Normen, Symbolen und Umgangsformen. Gegenüber diesen eher stillschweigenden Übereinkünften zeigt sich die eher öffentliche Übereinstimmung besonders in dem – in schwierigen Kontexten deutscher Geschichte erzielten – politischen Grundkonsens. Dazu gehören die Geltung der Grundrechte und Grundwerte, von Rechtsstaat, Sozialstaat, Demokratie, darauf bezogener politischer Kultur mit gewaltloser Auseinandersetzung, Kompromissfähigkeit, Tugenden wie Respekt, Toleranz, Anstand und auch eine gewisse zivilisierte Höflichkeit im Umgang miteinander. Der stetige Ausbau und die materielle Unterfütterung von Rechtsstaat, sozialen Sicherungen und Bereichen der Daseinsvorsorge im Sinne gleichwertiger Lebensverhältnisse (Art. 72 Abs. 2 GG) sind Umsetzungen dieses Grundgedankens.

Diese Gemeinsamkeit, diese Gleichgesinntheit ist weder in den Werten noch in der eigensinnigen lebensweltlichen Praxis direkt erzwingbar, aber erwartbar, beeinflussbar, bearbeitbar, bildbar, gestaltbar durch Staat, intermediäre Institutionen und Bürgergesellschaft. Gerade in unseren rauer gewordenen Zeitläuften braucht das deutsche Gemeinwesen mehr Verdeutlichung dessen, was der Sinn des politisch-demokratischen Grundkonsenses ist, was dieser für unseren Umgang bedeutet und wie er in der alltäglichen Lebenswelt Bedeutung hat. Dazu gehört auch die Akzeptanz, dass sich neben Gemeinsamkeiten auch Unterschiede in der Entwicklung der politischen Kultur in West und Ost zeigen. In Ostdeutschland formen fast 60 Jahre Leben in der zweifachen Diktatur (von 1933 bis 1989) mehr unterschwellige Skepsis in Institutionen, Prozesse und politisch Handelnde aus, während die eigenständig erkämpfte Freiheitsrevolution wiederum ein Anker für Stolz und Eigensinn ist. Diesen Eigenheiten kann man auch mit mehr Gelassenheit begegnen – bei grundsätzlichem westöstlichem Anerkennungsverhältnis jeweiliger Lebenssituationen. Es gilt ja für den Prozess der inneren Einheit Deutschlands die Regel: Gemeinsamkeit und Angleichung da, wo es notwendig und sinnvoll ist, Unterschiedlichkeit und Eigensinn da, wo es möglich und geboten ist. Trotzdem bleibt der gemeinsame Verfassungskonsens in allen Teilen Deutschlands präsent und wirksam.

Über den politischen Grundkonsens als Stütze der Verfassung hinaus kann auch das vielfältige Gespräch der Gesellschaft gewissermaßen mit sich selbst über Grundlagen, Wertungen, Ziele, Probleme, Gemeinsamkeiten, Differenzen, Erkenntnisse oder Neuerungen mit zur Festigung einer Verfassungskultur „in the long run“ beitragen. Gegenüber Spaltungstendenzen oder häufigerer Bildung von Meinungsblasen gelingt das zumeist dann, wenn unterschiedliche Perspektiven Raum bekommen und in eine Gesprächskultur im Sinne des „audiatur et altera pars“ eingebunden sind. Das ist oft schwer, weil es die Bereitschaft und den Willen wenn nicht zur Verständigung, so doch aber zum Zuhören voraussetzt. Viele zivil- oder bürgergesellschaftliche Organisationen in den verschiedenen Regionen Deutschlands können sich in diesen Gesprächshorizont einbringen, was auch zu einem Abbau von gegenseitigen Vorurteilen und Stereotypen beitragen könnte. Die politikerseits stets eminent unterschätzte politische Bildungsarbeit – die eine erheblich bessere personelle und finanzielle Ausstattung bräuchte – wäre hier besonders gefordert.

Auch das ist ein möglicher Weg der deutschen Einheit: Denn auf diese Weise kann in den vielfältigen Gesprächen, Engagements, Auseinandersetzungs- und Verstehensprozessen, im Gegen- und Miteinander, in den kleinen Gemeinschaften in der liberalen Gesellschaft mit der Zeit eine soziale „Verwurzelung“ (Simone Weil) entstehen. Gelingen die Anstrengungen dafür, bildet sich im Laufe der Zeit ein dichteres Geflecht sozialen Zusammenhalts. Zusammen mit anderen Formen des „nichtnormierten Unterbaus“ würde dies helfen, die Tragfähigkeit für das Grundgesetz und damit für den demokratischen, sozialen Rechtsstaat zu erhöhen. Mit der errungenen und in den letzten Jahrzehnten gemeinsam gelebten „Einheit und Freiheit“ formt sich dann das aus, was in der Gegenwart angelegt ist und die Zukunft braucht: Verfassungsfreundschaft.


Prof. Dr. Ines Härtel
geb. 1972 in Staßfurt/Sachsen-Anhalt; Studium der Rechtswissenschaft an der Georg-August-Universität Göttingen; 2001 Promotion, 2005 Habilitation, 2009–2014 Professorin an der Ruhr-Universität Bochum; seit 2014 Professorin an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder; 2020 als erste Ostdeutsche zur Richterin des Bundesverfassungsgerichts gewählt.