Ein anderes Land

Gebäudefront

Foto: bundesfoto / Christina Czybik

„Nein, das stimmt nicht“, sagte die zierliche Frau in das Mikrofon „man kann jeden Tag etwas tun.“ Sie widersprach damit Erich Kästner, den sie aus dem Gedächtnis zitierte. Er hätte im Rückblick auf die Machtergreifung der Nazis konstatiert, dass man sie 1933 nicht mehr hat aufhalten können. Man hätte das spätestens 1928 tun müssen. Ich schlage das Kästner-Zitat nach. „Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist.“

Die Frau, sie ist in meinem Alter, hatte mich eingeladen, in einem kleinen Ort in Sachsen-Anhalt zu lesen. Sie leitet ein Erinnerungsprojekt, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Verbindung des kleinen Ortes zur Todesfabrik Auschwitz aufzuarbeiten. Mein Buch, begründete sie die Einladung vor dem Publikum, passe gut, denn es widme sich auch der Aufarbeitung.

Es erzählt die Geschichte einer Nomenklaturafamilie in der DDR. Die Handlung erstreckt sich über einhundert Jahre und zieht damit Verbindungen von der Weimarer Republik über die Zeit des Nationalsozialismus, die Zeit des stalinistischen Terrors in der DDR, die Erziehungsdiktatur im Sozialismus, die sogenannten Baseballschlägerjahre bis hinein in die Gegenwart. Woher kommt die Gewalt, in der viele Menschen, die wie ich Wendekinder waren, aufgewachsen sind?

Das war meine Leitfrage.

Dreißig Leute waren zu der Lesung in den liebevoll gepflegten Kirchhof gekommen. Es war der Tag des Achtelfinales der Europameisterschaft, Deutschland gegen Dänemark, und die Sonne schien so erbarmungslos, dass jede Bewegung, und sei es nur die, um die Sitzposition zu verändern, zu Schweißausbrüchen führte. Nachdem ich aus meinem Buch gelesen hatte, kamen wir miteinander ins Gespräch. Es dauert immer ein bisschen, bis sich einer oder eine aus dem Publikum traut, den Anfang zu machen, aber dann wird es schnell sehr persönlich. In den Gewalterfahrungen der 90er- und 00er-Jahre, von denen die Erzählerin in dem Buch berichtet – auf den Straßen, in der Schule und in der Familie – erkennen viele Leserinnen und Leser ihre eigenen Erfahrungen wieder. Und es ist zu spüren, wie schwer es ihnen noch immer fällt, darüber zu sprechen.

Seit über einem Jahr bin ich nun mit meinem Buch in ganz Deutschland unterwegs, und bald schon werde ich die hundertste Veranstaltung bestreiten.

Ich habe mit vielen Menschen gesprochen. Mit Westdeutschen in Westdeutschland und Ostdeutschen in Ostdeutschland. Mit Menschen, die noch nie drüben waren. Menschen, die nie mehr zurückwollen. Mit Ostdeutschen, die im Westen waren und es bereuen, zurückgekehrt zu sein. Westdeutschen, die überlegen zurückzugehen. Und mit denen, die bleiben wollen oder müssen. Die kämpfen.

„Man kann jeden Tag etwas tun“, sagte die Frau, die jeden Tag etwas tut, und in diesem Satz schwang die Ahnung ebenso mit, dass der Schneeball längst kein Schneeball mehr ist, wie die Hoffnung, dass man die Lawine noch aufhalten könnte.

Als mein Roman im Frühjahr 2023 erschien, tobte eine neue Ostdeutschland-Debatte, mit der wohl niemand gerechnet hatte. Es ging um die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland, die Ungleichheit der Vermögensverhältnisse und der Machtstrukturen. Dirk Oschmann, Jahrgang 1967, ein Literaturprofessor aus Leipzig, hatte eine Wutschrift verfasst und damit einen Nerv getroffen. Dieser Osten, so schien es, wollte sich vom Westen nun nicht mehr erklären lassen, was richtig und was falsch ist. Vielmehr sollte dieser Westen endlich zugeben, dass er sich den Osten unter den Nagel gerissen hatte.

Zur gleichen Zeit erschien das Buch der Historikerin Katja Hoyer, geboren 1985, eine Geschichte der DDR, die vor allem das Alltagsleben erzählen wollte. Das richtige Leben im falschen. Beide Bücher wurden Bestseller. Genau wie meins.

Währenddessen stieg die AfD in bundesweiten Umfragen auf über 20 Prozent und rüttelte damit am bundesdeutschen Selbstverständnis. Im Osten, wo 2024 in Brandenburg, Sachsen und Thüringen neue Landtage gewählt werden, rückte die dort vom Verfassungsschutz als gesichert oder zumindest in Teilen rechtsextrem eingestufte Partei auf Platz 1 vor. Ein Wahlsieg der AfD schien nun nicht mehr undenkbar. War das noch ein Schneeball?

Ich fuhr kreuz und quer durch die Republik und traf mich mit Menschen, die im Westen versuchten zu begreifen, was da passierte. Denen plötzlich bewusst wurde, dass sie sich in den letzten Jahrzehnten vielleicht tatsächlich zu wenig für den Osten interessiert haben. Als ginge es sie nichts an. Ganz so, als hätten Wahlen im Osten keine Auswirkungen auf ihr eigenes Leben. Als wäre das ein anderes Land.

Der erste Schreck kam mit den Landtagswahlen im Herbst 2023. Auch in Bayern und Hessen erreichte die AfD zweistellige Ergebnisse. Die Normalisierung von rechtspopulistischen Positionen in den parlamentarischen Betrieben des Bundes und der Länder in den letzten Jahren hatte Folgen.

Aber in Ostdeutschland waren diese Folgen gravierender. Mit Robert Sesselmann war bereits im Juni 2023 ein AfD-Politiker in Thüringen zum ersten Mal Landrat geworden. Einige Monate später würde Sesselmanns Landesvorsitzender Björn Höcke mehrfach von Gerichten wegen der Verwendung einer verbotenen SA-Losung verurteilt werden. Das Grollen der Lawine war kaum noch zu überhören.

Im Osten hingegen traf ich häufig auf Menschen, für die dieses Grollen längst zum Alltag gehörte. Großartige, mutige Menschen, die oft seit Jahrzehnten gegen das ankämpfen, worüber lange lieber geschwiegen wurde – die immer breiter werdende Akzeptanz des Rechtsextremismus im ländlichen Raum. Vierzig Prozent der Stimmen im Ort für die AfD? Das haben Gemeinden in Sachsen und auch Brandenburg schon 2019 erlebt. Und das bedeutet etwas in ihrem Alltag, selbst wenn im Landtag noch eine Koalition ohne sie gebildet werden konnte. Während die Debatten im Feuilleton und Politikteil noch darum kreisten, ob der rechte Osten ein Klischee sei, während Politiker*innen daran erinnerten, dass eine Mehrheit ja immer noch anders wählen würde, währenddessen merkten diese Menschen, dass der Kampf für Demokratie und Freiheit zunehmend zur Gefahr für ihre physische und psychische Gesundheit wurde.

Was mir Hoffnung machte? Es gab diese Menschen. Diese Menschen, die sich trotz der Gefahr offen und laut bekannten. Eine queere Szene, die begann, auch in kleinen Orten mit Christopher Street Days für eine offene und tolerante Gesellschaft einzustehen. Lehrer*innen die das Schweigen über Rechtsextremismus in ihrer Schülerschaft brachen.

Und hätte ich diesen Text zu Beginn des Jahres geschrieben, dann hätte ich vielleicht mit dieser Hoffnung geendet. Denn nachdem Correctiv in Recherchen aufgedeckt hatte, dass es unter rechtsextremen Vordenkern bereits geheime Pläne zur Ausweisung von Millionen von Menschen aus Deutschland aufgrund ihrer Herkunft oder ihrer politischen Einstellung gab, gingen plötzlich im ganzen Land Hunderttausende auf die Straße. Im Osten und im Westen. In Hamburg und in Bautzen. Der AfD-Bundestagsabgeordnete René Springer twitterte daraufhin: „Das ist kein Geheimplan. Das ist ein Versprechen.“

Wo steht der Osten 2024? Wo steht das Land 2024? Darauf hätte ich geantwortet, dieses Land steht auf, und mit dieser breiten Mobilisierung können wir es schaffen, auch eine Lawine aufzuhalten.

Aber ich schreibe diesen Text nicht im Februar. Ich schreibe ihn nach einer niederschmetternden Europawahl. Ich schreibe ihn nach einem Wahlkampf voller tätlicher Übergriffe auf Ehrenamtliche und Kandidat*innen. Nachdem rechtsextreme Jugendliche Matthias Ecke das Jochbein gebrochen haben, als er Plakate aufhängte. Verfolgt man ihre Spur in den sozialen Medien, erkennt man, dass es längst schon wieder Neonazizellen in ganz Deutschland gibt, die an die Kameradschaften der 90er-Jahre erinnern.

Ich schreibe nach einer Kommunalwahl, nach der in immer mehr Gemeinden im Osten die AfD die stärkste Fraktion stellt. Einer Kommunalwahl, in der auch die Reichsbürgerpartei „Freie Sachsen“ zahlreiche Mandate erringen konnte. Ich schreibe, nachdem ein Video von feiernden Rich Kids auf Sylt die Runde machte, die ohne jede Hemmung „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ zu poppigen Beats sangen.

Und ich schreibe, nachdem mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht eine neue populistische Kraft bei der Europawahl aus dem Stand zweistellige Ergebnisse einfahren konnte. In Umfragen zu den Landtagswahlen erreichen AfD und BSW zusammen eine Zustimmung von 40 bis 50 Prozent.

Hören wir das Grollen der Lawine noch? Oder ist es schon zum Hintergrundrauschen geworden, das wir gelernt haben zu ignorieren?

Ich schreibe den Text in der Ahnung, dass dieses Land im Herbst ein anderes sein wird.

Ich habe Angst um meine Freunde in Sachsen. Um all diejenigen, die für einen anderen Osten kämpfen. Ich habe Angst um alle, die für Rechtsextreme nicht dazugehören. Um migrantisch gelesene Menschen, um Lesben, um Schwule, Transpersonen und andere Queers. Ich habe Angst um Menschen mit Behinderung und auch um obdachlose Menschen. Ich habe Angst um die, die noch laut sind, und Angst um die, die sich nur noch zu schweigen trauen. Ich habe Angst um Frauen und Kinder, die in einer patriarchal und autoritär geprägten Welt noch häufiger Opfer von Gewalt werden.

Wir wissen das. Wir haben das alles schon erlebt. Dem Erfolg bei den Wahlen folgt das Selbstbewusstsein auf der Straße, in Vereinen und auch in öffentlichen Institutionen.

Doch nicht nur der Osten könnte im Herbst ein anderes Land sein. Glaubt denn ernsthaft jemand, dass es die CDU im Westen nicht zerreißen wird, wenn sie nur noch die Wahl zwischen einer Koalition mit der AfD und dem BSW hat? Dass die Grundfesten dieser Republik nicht erschüttert würden?

Zu Beginn meiner Lesereise habe ich viel über die Chancen der Aufarbeitung gesprochen. Ich habe dafür plädiert, dass wir miteinander reden müssen, uns unsere Geschichten erzählen. Dass wir in die Archive gehen und die Mythen, mit denen wir aufgewachsen sind, infrage stellen. Wir müssen begreifen, wo wir herkommen, um zu verstehen, wer wir sind, und zu bestimmen, wer wir sein wollen.

Zu Anfang meiner Lesereise ging es darum, das Schweigen zu durchbrechen. Das war nicht immer einfach, aber fast immer ist es gelungen. Es war bereichernd und befreiend. Oft wurden viel mehr Gemeinsamkeiten zwischen ost- und westdeutschen Biografien sichtbar.

Jetzt aber geht es viel häufiger um die Angst vor dem, was kommen könnte. Viele Menschen fragen mich nach Anfeindungen, die ich erlebe. Sie machen sich Sorgen, denn sie erleben selbst, dass die Angriffe auch auf sie häufiger und oft auch brutaler werden. Manchmal ist es leichter, sich Sorgen um andere zu machen.

Dabei wird deutlich, dass die 90er-Jahre nicht zurück sind. Der Osten der Gegenwart ist ein ganz anderes Land. Er ist keine Landschaft des Niedergangs, keine Gesellschaft der Abgehängten. Wer heute zwischen Ostsee und Erzgebirge aufwächst, braucht keine Angst davor zu haben, vielleicht keine Lehrstelle zu bekommen und von der Schule direkt in die Arbeitslosigkeit zu wechseln. Im Gegenteil. Gerade der Osten könnte von der Transformation zur klimagerechten Wirtschaft profitieren.

Die Gewalt auf den Straßen, die Gewalt gegen das System, die Ablehnung der bundesrepublikanischen Demokratie sind keine Reaktionen auf eine Welt ohne Zukunft. Sie sind eine Verweigerung und eine bewusste Entscheidung. Immer mehr Menschen wollen wirklich, dass wir ein anderes Land werden. Das lässt sich nicht mit Geld und Wohlstand verändern. Das fordert eine gesellschaftliche Auseinandersetzung, die sich der Tatsache bewusst ist, dass es sich hier nicht um zwei Lager handelt, die miteinander einen Kompromiss finden müssen.

Nein, der Rechtsextremismus ist kein harmloser Schneeball mehr. Er bedroht das Fortbestehen unserer freien Gesellschaft.

Wir müssen jeden Tag etwas dagegen tun.


Foto von Anne Rabe

Anne Rabe

Foto: Annette Hausschild

Anne Rabe
geb. 1986 in Wismar, ist Schriftstellerin. Ihr Roman „Die Möglichkeit von Glück“ war auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2023. Darüber hinaus veröffentlicht sie regelmäßig Essays (u.a. für „Die Zeit“, „Süddeutsche Zeitung“, „taz“).