Die Hoffnung der Demokratie: Europa

"Demokratie ist" Tafelaufschrieb

.

Foto: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

These

Wir müssen die Zeit, in der wir leben, verstehen. Das kommunistische System hatte seine Möglichkeiten ausgeschöpft und damit die Entwicklung Polens, Europas und der Welt gehemmt. Selbst die Kommunisten haben das verstanden. Deshalb musste dieses System geändert werden. Die Änderung dieses Systems brachte eine neue Ära. Es ist nicht mehr die Ebene der Staaten, großer oder kleiner Länder, auf der wir uns befinden – dank der Technologie haben wir das Niveau der Kontinente und der Globalisierung erreicht. Polen, Europa und die Welt befinden sich jetzt in einer Phase der Erkundung: Neue Organisationsformen gibt es noch nicht, und die alten passen nicht mehr.

Viele denken, Verkehrsregeln habe es immer gegeben. Aber auch diese wurden irgendwann vereinbart. Seither gelten sie weltweit. Was wir brauchen, ist eine Art Straßenverkehrsordnung für die Globalisierung.

Krieg und Frieden

Putin hat einen schrecklichen Fehler begangen. Mit seinem Einmarsch in die Ukraine hat er die gesamte entwickelte Welt gegen sich aufgebracht. Deshalb kann er nicht gewinnen. Noch nie in der Geschichte hat es eine solche Mobilisierung gegen ein Land gegeben wie heute gegen Russland. Wir haben jetzt die beste Chance seit Generationen, Russland und dann China zu verändern. Das Schicksal hat uns eine Chance gegeben. Dafür müssen wir kämpfen. Nicht mit Panzern, sondern mit den Mitteln der Aufklärung. Wir müssen die Russen überzeugen, wir müssen unsere Sicht der Welt über das Internet und das Radio verbreiten. Die Russen glauben heute nicht an die Demokratie. Aber unsere Nationen glauben oft auch nicht daran, oder? Wir stehen erst am Anfang der Demokratie.

Und wir werden sicherer sein, wenn Russland nicht von einem Verbrecher geführt wird.

Russland ist ein schönes, reiches Land!

Wir müssen jetzt zu allem entschlossen sein und die Ukraine militärisch unterstützen, denn Russland hat sein Nachbarland überfallen. Aber versuchen wir auch, die Russen mit davon zu überzeugen, dass wir für sie kämpfen, für ihr Glück, für ihr Leben – und dass sie ein anderes System brauchen.

Geschichte

Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wurden Interessen von Staaten und Ländern definiert. Alle Kriege wurden um einen Staat, um ein Land geführt. Denn die Technologie sagte: Staaten und Länder reichen aus. Heute jedoch hebt uns die Technologie auf die Ebene der Kontinente und sogar der Globalisierung. Deshalb brechen alle Lösungen zusammen, die einst funktioniert haben, auch in Bezug auf Kriege. Selbst die alten Rivalitäten passen nicht mehr zusammen, aber sie bleiben bestehen.

Heute versuchen Russland und China, ihre Probleme so zu lösen wie im späten 19. Jahrhundert. Russland versucht, sich die Ukraine gewaltsam einzuverleiben mit Panzern, mit Raketen wie in den alten Zeiten.

Unser westliches Konzept ist ein anderes. Wir sagen auf diese Weise Nein, aber wir tun dies demokratisch und freiwillig. Wir haben kollektive demokratische Institutionen aufgebaut wie die Europäische Union, die NATO oder die UNO. Wer auch immer will, kann ihnen beitreten. Welches Konzept wird sich letztendlich durchsetzen, das alte chinesische Konzept, das russische oder das neue? Das ist die Frage.

Richtig gestellt, lautet sie: Wie finden wir Regeln für die Fragen der Globalisierung? Vom Handel bis zur wachsenden sozialen Ungleichheit – auch in unseren Gesellschaften. Wir müssen die Lehren aus der Vergangenheit ziehen zum Wohl der Zukunft.

Deutschland sollte bei der Rettung Europas vorangehen. Die Stärkung der Europäischen Gemeinschaft ist vor allem eine Aufgabe unseres starken, wiedervereinten Nachbarn. Das Schicksal hat Deutschland die Einheit gebracht. Daraus erwächst auch eine Verantwortung. Wenn Europa auseinanderfiele, weil sich Demagogen und Populisten durchsetzen, dann müsste sich auch Deutschland fragen lassen, ob es genug getan hätte. Ich bitte Deutschland: Beschäftigt euch mit Programmen und Strukturen, um Europa wieder zu vereinigen, auf eine ernsthafte Art und Weise. Es geht um die Erneuerung der EU und darum, die schwer erkämpfte Freiheit nicht zu verlieren.

Ich weiß, dass es viele nicht gerne hören, aber mit Blick auf Deutschland sage ich es noch einmal: Dieses Land muss Führung in Europa übernehmen, gerne mit zwei, drei anderen Ländern gemeinsam, aber Deutschland muss vorangehen. Das ist sein Schicksal im 21. Jahrhundert.

Hoffnung

Die Pandemie hat uns gezeigt, dass gemeinsame Herausforderungen nicht auf nationaler Ebene Bewältigt werden können, sondern global bewältigt werden müssen. Interessen werden nicht mehr nur national formuliert. Sie verlagern sich auf die kontinentale und die globale Ebene. Doch wie kann dieser Übergang vollzogen werden? Die Länder befinden sich in unterschiedlichen Entwicklungsstadien, und in ihren Gesellschaften gibt es unterschiedliche Arten von Ungerechtigkeiten. Meiner Ansicht nach ergeben sich daraus drei Hauptprobleme.

Das erste Problem lautet: Was sollte uns vereinen? Was sollte das Fundament sein, das die europäischen und dann die Länder weltweit eint? Jedes Land hat ein anderes Fundament, und häufig unterscheiden sich auch die Religionen.

Hier gibt es zweierlei Lösungen: Die halbe Welt will auf Freiheit aller Art bauen, Freiheit der politischen Parteien, Freiheit des Einzelnen, den freien Markt. Und das Recht soll diese Werte garantieren. Aber die andere Hälfte sagt: Nein, wir sollten uns zuerst auf die Werte einigen, denen wir folgen wollen, und dann auf den freien Markt und auf das Recht. Keine der beiden Seiten will nachgeben, weder die eine noch die andere. Die einen wollen die Freiheit, die anderen die Werte.

Und das zweite Problem: Welches Wirtschaftssystem soll für die neue Zeit entworfen werden? Es gibt zwei große Wirtschaftssysteme: kommunistisch und kapitalistisch. In der Theorie scheint der Kommunismus besser zu sein. Er spricht von Gleichheit und Gerechtigkeit, also fallen junge Menschen im Westen darauf herein, sie mögen die Slogans. Was sie nicht wissen, ist, dass er nicht umgesetzt werden kann. Wo der Kommunismus umgesetzt wurde, ist er schiefgegangen.

Es bleibt der Kapitalismus. Aber Kapitalismus bedeutet Wettbewerb, und der ist oft unfair. Wer macht Geld mit wem, manchmal auch: Wer betrügt wen? Er war gut für Staaten, für Länder. Wir haben mitgespielt.

Wenn wir die Kontinentalisierung, die Globalisierung machen, dann ist das das Ende des Rattenrennens. Aus dem Kapitalismus behalten wir die freie Marktwirtschaft, und alles andere muss ein bisschen anders gestaltet werden. Dieser Kapitalismus mit diesem Wettlauf hat Massen von Menschen in die Arbeitslosigkeit getrieben. Viele Menschen konnten dieses Tempo nicht halten.

Das dritte Problem ist die Frage, wie man mit der Demagogie, dem Populismus und der Unehrlichkeit bestimmter Politiker in einem überstaatlichen Kontext umgeht. Am Ende des 20. Jahrhunderts hatten wir dagegen Angst vor anderen Dingen. Die Nationen hatten Gott, es gab einen Gott im kollektiven Bewusstsein. Davon haben wir uns entfernt. Wir hatten Angst vor dem Kommunismus, vor der Sowjetunion, das haben wir in den Griff bekommen. Jetzt stellt sich die Frage, wie man Nationen aufrechterhalten kann, wenn sie keine Bremsen haben.

Heute sieht die Welt so aus: Ein System ist zusammengebrochen, und das andere ist nicht entstanden. Mehr noch: Es konnte auch nicht entstehen, denn nach diesen schmutzigen Zeiten glaubt niemand mehr jemandem. Der Aufbau wird erst beginnen, wenn Sie mich zu überzeugen versuchen – und ich Sie.

Wir sind also an einem Punkt, an dem wir uns gegenseitig davon überzeugen müssen, wie die Dinge sein sollten. Es geht um Überzeugungsarbeit. Die Frage ist, ob wir uns einig werden, ob wir das, was klug ist, annehmen und das, was falsch ist, ablehnen.

Union der Nationen

Die Europäische Union ist ein integratives, auf Konsens basierendes Projekt. Ich bin ein großer Befürworter dieses Projekts. Nur fehlt es Europa heute an Führung. Die großen Staaten – Frankreich, Deutschland, Italien – sollten eine Gruppe kluger Leute bilden, die darüber nachdenken, was auf globaler Ebene geregelt werden kann (Klima, COVID, Krieg) – hier sehe ich eine große Rolle für die Vereinigten Staaten – und was auf dem europäischen Kontinent mit entschiedener deutscher Führung geregelt werden kann.

Wir haben es geschafft, im letzten Moment dem sowjetischen Kommunismus zu entkommen. Wenn Polen nicht geflohen wäre, wären weder die Tschechische Republik noch Ungarn in der Europäischen Union. Polen hat dem sowjetischen Bären die Zähne ausgeschlagen, und als er nicht mehr zubeißen konnte, haben wir es geschafft, unsere Freiheit wiederzuerlangen.

Und wenn wir das nicht getan hätten, wissen Sie, was dann heute wäre? Heute würde es keinen Krieg zwischen der Ukraine und Russland geben, nur Polen würde gegen Russland kämpfen. Sie wären in Polen einmarschiert, nicht in der Ukraine. Ich weiß das. Und deshalb bin ich im letzten Moment mit Polen geflohen und habe der Tschechischen Republik und Ungarn neue Chancen eröffnet. Wir sind in die Union und in die NATO geflohen. Und dafür bin ich persönlich verantwortlich.

Testament

Mein Vater ist während des Krieges gestorben. Lebte er heute noch und erführe, dass wir keine Grenze zu Deutschland mehr haben, dass wir sie nicht bewachen, stürbe er wahrscheinlich zum zweiten Mal an einem Herzinfarkt.

In den letzten 40 Jahren haben wir die Grenzen in Europa abgeschafft. Wir haben eine gemeinsame Währung. Wir können arbeiten, reisen, uns entwickeln, lernen, forschen und in Frieden leben – glücklich.

Wir sollten nicht mehr in Nationalstaaten denken, sondern global. Wir sollten denken an ein Europa ohne Grenzen. Wenn wir das nicht tun, werden wir in der Krise bleiben. Es gibt bei den meisten Themen kein Deutschland mehr, kein Polen. Es gibt nur Europa!

Wir haben eine unglaubliche Chance auf Frieden, Wohlstand und harmonische Entwicklung über Generationen hinweg.

Lassen Sie sie uns nicht vergeuden!

Wenn wir es nur wollten, würden wir eine schöne Welt haben!


Foto von Lech Wałęsa

Lech Wałęsa

Foto: Stiftung Lech Wałęsa Institut

Lech Wałęsa
geb. 29. September 1943 in Popowo bei Lipno/Polen, polnischer Gewerkschafter und Politiker; 1983 Friedensnobelpreis; 1980–1990 Vorsitzender der Gewerkschaftsorganisation Solidarność; 1990–1995 Staatspräsident; Veröffentlichungen: „Ein Weg der Hoffnung“, „Weg zur Freiheit“, „Weg zur Wahrheit“.