Der Osten steht auf eigenen Füßen

Ansicht Boden mit Kreideschriftzug "Vielfalt"

Foto: bundesfoto / Christina Czybik

Angesichts der gestiegenen geopolitischen Unsicherheiten, der dafür notwendigen Stärkung ökonomischer und sozialer Reaktionsfähigkeit (heute gemeinhin als Resilienz erfasst) sowie der gebotenen Transformationsanforderungen auf dem Weg zur Klimaneutralität sind eine Förderung des Standorts und eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit unvermeidlich. Dabei kann der Osten als Wirtschaftsstandort von einem neuen „Aufschwung Ost“ profitieren. Dafür müssen wir jedoch unseren Blick auf die östlichen Bundesländer verändern.

Die deutsche Einheit ist ein stetiger Prozess politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Integration, bei dem der Osten immer noch überwiegend als ein Landesteil betrachtet wird, der gegenüber dem Westen aufholen müsse. Tatsächlich gilt, dass die ostdeutschen Flächenländer in vielen Bereichen (wie beim Einkommen pro Kopf, der Personalintensität im Bereich Forschung und Entwicklung, der Anzahl an Patenten je Einwohner oder der Exportquote) nach wie vor hinter dem Niveau des Westens zurückliegen. Auch hat sich seit den 2000er-Jahren die Annäherung der Wirtschaftskraft zwischen Ost und West verlangsamt. Andere wirtschaftliche Kennzahlen zeigen allerdings, dass sich die ehemals getrennten Landesteile deutlich angenähert haben. Insbesondere die verringerte Arbeitslosenquote im Osten kann als Erfolg bewertet werden. Außerdem wird die deutsche Einheit auch von politischen Maßnahmen vorangetrieben wie die Angleichung der Renten in Ost und West im vergangenen Jahr.

Bei einer Einordnung der deutschen Einheit sollte man jedoch den Blick nicht nur auf die Annäherung von Ost und West richten, sondern den Osten als vielfältige Region mit zum Teil dem Westen überlegenen Standortindikatoren wahrnehmen. Denn während fast eine Dekade nach der Einheit „ein sich selbst tragender Aufschwung Ost nicht in Sicht“ war, zeichnet sich heute ein anderes Bild: Ostdeutschland etabliert sich als vielversprechender Wirtschaftsstandort. Die „Financial Times“ betitelte den Aufschwung Ostdeutschlands mit „The surprising revival of eastern Germany“. Dem Industriestandort Ostdeutschland kann somit eine Strahlkraft über den Atlantik hinaus attestiert werden.

Daher verwundert es nicht, dass die ostdeutschen Bundesländer derzeit erfolgreich Ansiedlungen und Investitionen multinationaler Unternehmen verzeichnen. Im vergangenen Jahr lagen die Zusagen für Neuansiedlungen und Erweiterungen bundesweit mit fast 35 Mrd. Euro auf Rekordniveau. Die sächsische Landeshauptstadt konnte sich mit dem neuen Werk des taiwanischen Halbleiterkonzerns TSMC die höchste Summe aller Einzelinvestitionen sichern. Im Jahr der Eröffnung des Werks von Tesla sind die Unternehmensinvestitionen in Brandenburg um 85 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen – was das größte Wachstum an Unternehmensinvestitionen in einem deutschen Flächenland in den vergangenen zehn Jahren darstellt. In Thüringen und Sachsen sind die Investitionen im selben Zeitraum ebenfalls beachtlich, um ein Viertel, gewachsen. Auch wenn Bayern und Baden-Württemberg in absoluten Zahlen bei den Unternehmensinvestitionen insgesamt führen, zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass der Osten hierbei in Relation zum Umsatz oder zur Beschäftigtenzahl dominiert.

Die Investitionsentscheidungen zugunsten Ostdeutschlands haben weitreichende Konsequenzen. Während insgesamt die deutsche Wirtschaftskraft stagniert, sind es vor allem zwei ostdeutsche Bundesländer, die mit ihrem Wirtschaftswachstum herausragen: Durch den Nachholeffekt im Tourismus seit dem Ende der Corona-Pandemie und die Ansiedlung des Flüssiggas-Terminals Lubmin konnte Mecklenburg-Vorpommern in den vergangenen beiden Jahren ein Wachstum von mindestens 3 Prozent verzeichneten und ist damit Spitzenreiter unter den deutschen Bundesländern. Auch Brandenburg kann im Bundesvergleich beachtliche Wachstumsraten von über 2 Prozent vorweisen.

Die neuen Niederlassungen multinationaler Unternehmen bescheren den ostdeutschen Bundesländern nicht nur einen wirtschaftlichen Aufschwung, sondern können auch aus industriepolitischer Sicht als wertvoll bewertet werden. Denn die Produktion von Mikrochips und Elektroautos sind digitale und grüne Transformationstechnologien, passen somit also zu der industriepolitischen Strategie der EU und Bundesregierung hinsichtlich einer resilienten und dekarbonisierten Wirtschaft.

Ein entscheidender Faktor für die umfassenden Unternehmensinvestitionen und -ansiedlungen sind die spezifischen ostdeutschen Standortvorteile. Durch die grüne Transformation ist die Verfügbarkeit von erneuerbaren Energien ein maßgebliches Standortkriterium. Hier können die ostdeutschen Bundesländer überzeugen: Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen-Anhalt sind führend bei installierten Solar- und Windanlagen.

Die Verfügbarkeit von Industrieflächen ist ein weiterer entscheidender Standortvorteil des Ostens. Während in Westdeutschland erschlossene und freie Gewerbeflächen kaum noch zu finden sind, kann der Osten solche Flächen bieten. Auch besticht der Osten durch eine geringere Betreuungslücke von Kindern. Dies bedeutet eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, was wiederum die Verfügbarkeit von (weiblichen) Arbeitskräften stärkt und den Bedarf an Teilzeitbeschäftigung verringert.

Gleichwohl gibt es Faktoren, die potenzielle Risiken für den aufstrebenden Wirtschaftsstandort darstellen könnten und daher nicht außer Acht gelassen werden dürfen: In den ostdeutschen Flächenländern gibt es einen größeren Rückstand bei der Datenbewirtschaftung in Unternehmen, das behindert die Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle. Hier kann die Politik durch Infrastrukturentwicklung, Netzwerkbildung und wissenschaftliche Kapazitäten einen wichtigen Beitrag leisten. Außerdem stellt der demografische Wandel eine größere Belastung für die Wirtschaft im Osten als im Westen dar. Denn während die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter in Westdeutschland dank hoher Zuwanderung bis 2070 auf einem konstanten Niveau gehalten werden könnte, wird sie in Ostdeutschland im Vergleich zu 2022 beachtlich sinken. Der strukturelle Effekt der forcierten Alterung greift folglich in den neuen Ländern stärker; messbar am hohen Anteil von Beschäftigten mit MINT-Qualifikationen, die 55 Jahre und älter sind.

Um dem demografischen Profil entgegenzuarbeiten, bedarf es neben anderen Arbeitszeiten – zum Beispiel wie in der Schweiz (Jahresarbeitsvolumen) – einer forcierten Zuwanderung. Die Attraktivität der ostdeutschen Bundesländer für Erwerbsmigration erweist sich vor dem Hintergrund des Erstarkens von Rechtsextremisten und Rechtspopulisten als zunehmend schwierig. Bereits heute führt dieser Aufstieg auf betrieblicher Ebene zu Problemen, dort Fachkräfte aus dem Ausland zu gewinnen. Das kann zu einem ausgemachten Standortnachteil werden.

Die kollektive Unzufriedenheit, die sich an der Wahlurne entsprechend niederschlägt, passt mit den ökonomischen Erfolgen auf den ersten Blick nicht unbedingt zusammen. Die aktuelle Unsicherheit und Besorgnis der Menschen in Regionen, die von der Transformation betroffen sind, tragen bundesweit zur Unterstützung der AfD bei. Besonders stark ist dieses Phänomen in den Transformationsregionen Ostdeutschlands ausgeprägt. Daher wäre es wichtig, dass die öffentlich geförderten Investitionen, die derzeit vorrangig auf die Städte ausgerichtet sind, auch eine positive Wirkung auf das Umland entfalten und durch infrastrukturelle Anstrengungen (ÖPNV, Zugang zur Daseinsvorsorge) systematisch sowie verlässlich ergänzt wird.

Insgesamt wird deutlich, dass der Osten aus wirtschaftlicher Perspektive seit der deutschen Einheit eine eindrückliche Entwicklung durchlaufen hat. In Anbetracht der Vorteile sollten wir die ostdeutschen Bundesländer als Wirtschaftsstandort in der Transformation ernst nehmen. Es ist an der Zeit, die Errungenschaften Ostdeutschlands anzuerkennen und seine Zukunftspotenziale voll auszuschöpfen. Eine störende Rolle spielt dabei wohl immer noch, wie Westdeutsche nach der Wende in den neuen Ländern aufgetreten sind, wie sehr klargemacht wurde, dass der Zusammenbruch des kommunistischen Regimes unweigerlich auch alle gemachten Erfahrungen und alle erlernten Kompetenzen infrage stellen müsse. So wichtig es ist, die Verwundungen zu sehen und deren Verarbeitung zu würdigen, so sehr muss aber auch erkannt werden, dass diese nicht mehr kompensierbar sind.

Wenn man glaubt, dass der im Rückspiegel plausibel erscheinende Befund, der Osten sei eine westdeutsche Erfindung, heute Orientierung geben kann, dann irrt man kategorial. Man verkennt die Differenzierungen der Regionen, man übersieht die Potenziale, und man ignoriert die Ansätze der Besserung, die mal stetig, mal disruptiv erfolgen. Die Tesla-Investition in Grünheide bringt Berliner und Brandenburger zusammen wie kaum zuvor; von den derzeit 12.000 Beschäftigten kommen die allermeisten aus Berlin.

Erkennbar wird daran, worauf die Politik vor allem achten muss: auf die regionalen Spezialisierungen und deren gegenseitige Stärkung sowie Anregung. Die Handlungsfähigkeit der Kommunen ist zu sichern, vor allem fiskalisch. Hier erfahren die Bundesländer eine besondere Verantwortung. Denn im Stadt-Land-Zusammenhang wirken alle Veränderungsprozesse – mit dem Risiko hoher sozialer Sprengkraft, wenn wir die Überforderungspotenziale nicht erkennen. Altersstruktur und Sozialstruktur, Mobilitätswende und Wärmewende können Gegensätze zwischen urbanen Zentralen und ländlichen Räumen vertiefen. Darauf muss gesamtdeutsch geachtet werden, die Menschen in den ostdeutschen Flächenländern haben den Vorteil umfangreicher Transformationserfahrungen. Man muss dies nur als Potenzial erkennen.


Foto von Prof. Dr. Michael Hüther

Prof. Dr. Michael Hüther

Foto: Institut der deutschen Wirtschaft

Prof. Dr. Michael Hüther
ist Direktor und Mitglied des Präsidiums beim Institut der deutschen Wirtschaft. Außerdem ist er Honorarprofessor an der EBS Business School, Aufsichtsratsvorsitzender der TÜV Rheinland AG, Aufsichtsratsmitglied der SRH Holding und im Vorstand der Atlantik-Brücke.