Demografische Trendwende im Wanderungsverhalten in ländlichen Räumen Ostdeutschlands? Ein Blick über den Tellerrand

Wiese mit Baum

Foto: Bundeskanzleramt

Die wirtschaftlichen Verwerfungen nach der Wiedervereinigung, die hohe Arbeitslosigkeit und das niedrige Lohnniveau führten insbesondere in den 1990er- und 2000er-Jahren zu einer sehr stark ausgeprägten Ost-West-Wanderung. Besonders intensiv war die Abwanderung aus ländlichen Räumen und den früheren industriellen Zentren der DDR. Großstädte wie Leipzig oder Potsdam wurden dagegen schon nach der Jahrtausendwende zu Zielgebieten der West-Ost- Wanderung.

Seit 2017 ziehen mehr Menschen von West nach Ost als in die Gegenrichtung. Dabei ist die Zahl der Personen, die aus den alten in die neuen Bundesländer wandern, im Zeitverlauf bemerkenswert stabil. Die aktuellen Binnenwanderungsgewinne Ostdeutschlands sind also die Folge einer rückläufigen Abwanderung nach Westdeutschland.  Für eine „Rückwanderungswelle“, wie sie oft in der Presse thematisiert wird, liefern die verfügbaren statistischen Daten jedoch keine Belege.

Die Abwanderung aus ländlichen Räumen Ostdeutschlands war hochgradig alters- und geschlechtsselektiv. Unter den Abwanderern waren junge Menschen und insbesondere junge Frauen überproportional vertreten. Dies führte zu einem ausgeprägten und fast flächendeckenden „Frauenmangel“ in den Altersgruppen zwischen Anfang 20 und Mitte 30, der in dieser Form in Europa einzigartig war. In den letzten Jahren hat sich die Situation in Ostdeutschland entspannt, während sie sich im Westen verschärft hat. Die einst vorrangig ostdeutsche Herausforderung hat sich somit zu einer gesamtdeutschen entwickelt.

Die genannten Rahmenbedingungen haben zur Alterung der Bevölkerung und zur Herausbildung ungünstiger Bevölkerungsstrukturen geführt. In ländlichen Räumen Ostdeutschlands ist der Anteil der über 65-Jährigen in den letzten Jahren stark gestiegen7, gleichzeitig ist der Anteil der jungen Erwachsenen besonders niedrig. Man kann also von einer Überlagerung von „Überalterung“ und „Unterjüngung“ sprechen. Lange Zeit waren insbesondere dünn besiedelte Landkreise in Nordost- und Mitteldeutschland in besonderem Maße von Abwanderung betroffen. In den letzten Jahren lässt sich jedoch eine Trendwende beobachten, die zu einer Annäherung an Kreise mit vergleichbarer Bevölkerungsstruktur im Westen und Nordwesten führt (vgl. Abbildung).

Die Entwicklung einer „Abwanderungskultur“

Diese Trendwende ist insbesondere vor dem Hintergrund bemerkenswert, dass sich im ländlichen Ostdeutschland in den späten 1990er-/ frühen 2000er-Jahren eine Abwanderungskultur entwickelt hatte, die sich darin äußerte, dass ein Fortzug nach dem Schulabschluss von den Jugendlichen und ihrem sozialen Umfeld als unhinterfragte Notwendigkeit wahrgenommen und akzeptiert wurde. Die Möglichkeiten des lokalen Arbeitsmarkts wurden nicht mehr wahrgenommen, weil ein Verbleib in der Heimatregion nicht in Erwägung gezogen wurde. Bleiben war eng mit der Befürchtung verknüpft, dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen zu sein. Eine zentrale Rolle bei der Entstehung der Abwanderungskultur spielten die Eltern, wie das folgende Zitat einer arbeitssuchenden Mutter aus einer ländlichen Gemeinde in Sachsen-Anhalt zeigt: „Meine Tochter ist elf, wo man sich eigentlich noch keine Gedanken machen müsste, aber ich sag als Mutter zu ihr, du wirst nicht hierbleiben. Du musst irgendwann weggehen. […] Und sie findet sich damit auch ab. […] Ich möchte das auch nicht, dass sie hierbleibt“.

Als Hauptursachen für die Abwanderungspläne der Jugendlichen wurden vor allem unbefriedigende Berufsaussichten, fehlende Karrieremöglichkeiten sowie das niedrige Gehaltsniveau genannt. Auch Mängel in der Infrastrukturausstattung, insbesondere im Freizeit- und Verkehrsbereich, wurden oft kritisiert.

Die aktuellen Zahlen zu den altersspezifischen Wanderungsraten legen nahe, dass diese beschriebene „Abwanderungskultur“ nicht mehr fortbesteht (siehe Abbildung). Ein Hauptgrund dürfte die verbesserte Lage auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt sein. Dadurch, dass auf der Sachebene „Arbeitsplatzsituation“ positive Veränderungen erreicht wurden, haben sich eine veränderte Wahrnehmung und Bewertung und schließlich ein Kulturwandel entwickelt.

Der Blick über den Tellerrand

Die beschriebenen Entwicklungen waren keine ostdeutsche Besonderheit. Auch die mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten sahen sich mit der Herausforderung konfrontiert, das sozialistische in ein kapitalistisches Wirtschaftssystem umzubauen. Wie in Ostdeutschland war diese Transformation mit einem schmerzhaften wirtschaftlichen Strukturwandel, hoher Arbeitslosigkeit und Zukunftsängsten verbunden – aber auch mit der neuen Freiheit, sein Glück in Regionen mit besseren Jobaussichten oder höheren Löhnen zu suchen. Von Tschechien, Slowenien und Ungarn abgesehen, leben aktuell mehr als 5 Prozent der Bevölkerung der mittel- und osteuropäischen EU-Mitglieder in einem anderen EU-Land. Besonders hoch ist der Anteil in Kroatien (14 Prozent), Litauen (16 Prozent) und Rumänien (18 Prozent). Auf der Suche nach besseren wirtschaftlichen Perspektiven die Heimat zu verlassen ist also ein Charakteristikum vieler postsozialistischer Gesellschaften, nicht nur der ostdeutschen.

Die Suche nach besseren wirtschaftlichen Perspektiven wirkt sich besonders stark auf ländliche Räume aus. Die ländlichen Räume Mittel- und Osteuropas gehören zu den strukturschwächsten Regionen der EU.14 Die wirtschaftlichen Stadt-Land-Gegensätze beeinflussen die Wanderungsmuster junger Erwachsener. Eine aktuelle Studie zu Lebensplänen und Zukunftserwartungen junger Menschen in peripheren Regionen in Polen, Rumänien, der Slowakei, Tschechien und Ungarn zeigt, dass die Jugendlichen auf die lokalen sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen mit Abwanderungserwartungen reagieren. Wenn die Heimat als Raum „ohne Zukunft“ angesehen wird, der jungen Menschen nur wenige Chancen biete, ist Abwanderung die logische Folge. Diese „Abstimmung mit den Füßen“ findet vielerorts statt. Besonders ausgeprägt ist die Abwanderung junger Frauen und Männer in strukturschwachen Regionen Bulgariens, Kroatiens und der baltischen Staaten, aber auch in Polen.

Fazit: Die Trendwende

Die Auswirkungen der starken und selektiven Abwanderung der Vergangenheit werden die Bevölkerungsentwicklung Ostdeutschlands auch in den kommenden Jahrzehnten maßgeblich beeinflussen. Die Ursache hierfür liegt in erster Linie in der ungünstigen Altersstruktur. Denn der frühere Fortzug junger Menschen, insbesondere junger Frauen, hat zu einer dynamischen Alterung der Bevölkerung geführt. Die Abgewanderten haben andernorts eine Familie gegründet und Kinder bekommen. Die Trendwende in ländlichen Räumen Ostdeutschlands im Wanderungsverhalten ist jedoch geschafft. Sie wird von Rückwanderung, vor allem aber von der Zuwanderung aus dem Ausland getragen. Die Ergebnisse der Raumordnungsprognose 2024 zeigen deshalb ein Nebeneinander von Wachstum und Schrumpfung, ländliche Räume sind keine einheitliche Raumkategorie: Zuwachs dort, wo die wirtschaftlichen Aussichten gut sind, Schrumpfung dort, wo dies nicht der Fall ist.


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Dr. Tim Leibert

Foto: Astrid Nerlich

Dr. Tim Leibert
ist Senior Researcher in der Forschungsgruppe „Mobilitäten und Migration“ am Leibniz-Institut für Länderkunde (IfL) in Leipzig. Seine Forschungsschwerpunkte sind demografischer Wandel, Regionalentwicklung und Migration.