Das war ein Land, in dem ich nicht würde leben wollen!

Anne Hahn Das war ein Land, in dem ich nicht würde leben wollen!

Die Zeitzeugin Anne Hahn reist seit 15 Jahren durch Deutschland, um Schülerinnen und Schülern aus ihrer Jugend zu erzählen. Als 14-Jährige wurde sie nicht zur Erweiterten Oberschule (der Schulform, über die man in der DDR das Abitur direkt erwerben konnte) zugelassen und fing an, das Land, in dem sie lebte, zu hinterfragen und sich zu belesen. Dieser Weg führte sie 18-jährig zu den Punks ihrer Heimatstadt Magdeburg, die wie alle Subkulturen erheblichen Repressalien ausgesetzt waren.

Mauer mit Blumen

Foto: Bundeskanzleramt

Anne Hahn lernte Krankenschwester, holte ihr Abitur an der Abendschule nach und bewarb sich für ein Studium der Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie erhielt einen Studienplatz und organisierte im Vorfeld als Mitarbeiterin des Kulturkabinetts Magdeburgs fünf Punkkonzerte in verschiedenen Clubs der Stadt, verlor daraufhin ihren Arbeits- und Studienplatz und unternahm im Frühjahr 1989 einen Fluchtversuch. Sie wollte mit einem Freund von Aserbaidschan aus in den Iran fliehen, um von dort in die Türkei und schließlich nach Westdeutschland zu gelangen. Sie wurden erwischt, zurücktransportiert und saßen ein halbes Jahr im Gefängnis. Anne Hahn erlebte den Mauerfall im Frauen-Strafvollzug Hohenleuben. Entlassen wurde sie am 17. November 1989.

Das alles, wie es in ihrem Leben weiterging und wie sie ihre Erfahrungen in einem Roman verarbeitete, erzählt sie Kindern und Jugendlichen in den Zeitzeugengesprächen. Wie erlebte sie diese Gespräche im Laufe der letzten Jahre?

Eines meiner ersten Gespräche hatte ich in Eberswalde an einer Gesamtschule. Die Lehrerin war unwillig, scharrte mit dem Stuhl, seufzte laut, störte mehr als die Neuntklässler. Als ich im Gespräch erzählte, dass wir als Schüler im Sportunterricht schießen übten, rief sie: „Daran kann ich mich nicht erinnern. Wir hatten nur Weitwurf mit solchen Stäben, so Handgranaten aus Holz!“ – „Sehen Sie“, antwortete ich, ohne nachzudenken, „Sie erinnern sich an die Handgranaten-Attrappen und ich mich ans Schießen. Was eben jeder so für Vorlieben hatte.“ Da lachten die Kinder, und die Lehrerin störte nicht mehr. Das Lachen löste die Spannung, und ich behielt es bei, eher humorvoll mit meiner Story umzugehen.

Im Anschluss an die Gespräche werden mir Fragen gestellt, bis heute ist die meistgestellte: „Was haben Ihre Eltern dazu gesagt?“ An zweiter Stelle: „Haben Sie Ihre Flucht jemals bereut?“ Drittens: „Sind Sie noch befreundet mit Ihrem Fluchtkumpel und den Punks von damals?“ (Besonders der Fakt, dass ich noch drei enge Freunde aus der Zeit meiner Jugend habe, mit denen ich oft zu Fußballspielen meines Heimatvereins gehe, freut die Jugendlichen.)

Im Laufe der Jahre wächst die Distanz, staunen die Kinder und Jugendlichen immer mehr, wenn sie meine Geschichte erfahren. Dass es die DDR gab, weiß die überwiegende Mehrheit, wie der Alltag aussah, nicht. In einer Förderschule (neue Bundesländer) fragten Kinder mich, ob es in der DDR auch Weihnachten gegeben habe, in einer anderen (alte Bundesländer), ob das alles echt sei, was ich da erzähle. Auf meine Antwort, „Ja, das habe ich so erlebt“, rief der Junge „Dschüsch!“3, ein anderer fragte nach dem Katastrophenwinter 1978/79, ob ich den auch erlebt hätte. Ich erinnerte mich zu seiner Freude an viel Schnee.

Es gab bisher in jeder besuchten Klasse mindestens eine Person mit DDR-Wurzeln, das Wissen um die Repressalien unter der Diktatur wird dennoch kaum weitergegeben, ist schambesetzt. In den neuen Bundesländern erlebe ich (abnehmend mit den Jahren) mir gegenüber oft eine kritische, misstrauische Haltung bei den Lehrkräften und eine abwartende, distanzierte bei den Jugendlichen, die sich meist im Laufe des Gespräches lockert oder löst. (Inzwischen ist eine Generation von Lehrkräften nachgewachsen, die mir offen und freundlich begegnet, oft sehr empathisch). Bei den Jugendlichen gelingt es meist, mit Fragen nach ihren musikalischen Vorlieben oder eigenen Bands das Eis zu brechen.

Das schlimmste Gespräch erlebte ich vor zehn Jahren an einer Gesamtschule in Gera, außerhalb des Stadtzentrums in einem Neubaugebiet. Die zehnte Klasse wurde von einem hinten sitzenden Seitenscheitel-Träger dominiert, drei Schüler und Schülerinnen mit zaghaft bunt gefärbten Haaren kauerten in der ersten Reihe und strahlten mich an. Ich erzählte von Punk, Konzerten und Raumsuche, Verfolgung durch Polizisten in meiner Heimatstadt – da rief der junge Mann von hinten: „Und heute lassen Sie sich vom Staat zu Demos fahren, oder was? Schön multikulti als Motto?“ Ich war verblüfft und fragte, was es mit dem Zur-Demo-Fahren auf sich hätte? Der Lehrer, der zusammengesunken auf einem Stuhl unter dem Fenster hockte, flüsterte, dass Die Linke regelmäßig Demonstranten in Bussen zur Legida- Gegen-Demo nach Leipzig fahren würde. Ich fragte den Lehrer, ob er mich bitte unterstützen würde, wenn ich hier versuchte zu erklären, wie es mir in der Diktatur erging, aber der blieb sitzen und verstummte ganz. Ich brachte das Gespräch recht und schlecht hinter mich, die drei in der ersten Reihe litten mit und meldeten sich als Erste stürmisch, als ich zum Schluss fragte, wer von ihnen alles weggehen wolle aus Gera. Seitenscheitel wollte bleiben.

Ein überraschendes Ende nahm ein Termin vor drei Jahren in Strausberg. Am dortigen OSZ stellte einer der sprachgewandtesten Schüler der zehnten Klasse fest: „Ich wurde vorher gewarnt, Sie würden die DDR schlechtreden, aber nach dem Gespräch muss ich sagen, dass ich das alles noch mal überdenken werde. Das war ein Land, in dem ich nicht würde leben wollen!“ Auch bei Schülern und Schülerinnen eines Gymnasiums in Berlin-Schöneberg überwog die mir nach Gesprächen schriftlich mitgeteilte Empfindung: „Dankbarkeit, nicht in der DDR gelebt zu haben“.

Insgesamt sind junge Menschen in den alten Bundesländern vorurteilsfreier, aber weiter entfernt von meiner Geschichte – eine 22-jährige Berufsschülerin schrieb mir vor einem halben Jahr: „Vor der Reise nach Berlin waren meine Freundinnen und ich ehrlich nicht so begeistert. Viele von uns, mich eingeschlossen, haben Eltern aus dem Osten, und das ganze DDR-Thema wirkte nicht so spannend. Vieles Fachliche und Politische ist es auch nach der Reise noch nicht, aber die persönliche Geschichte hat mich sehr beeindruckt. Allein deine Flucht und das Gefängnis müssen unglaublich schwer gewesen sein. Es macht mich traurig, dass die Stasi in der Lage war, all diese schlimmen Dinge zu tun.“


Foto von Anne Hahn

Anne Hahn

Foto: Alesch Mühlbauer

Anne Hahn
1966 in Magdeburg geboren, lebt in Berlin. Schriftstellerin (vier Romane) und Autorin von Sachbüchern, die sich subkulturellen Strömungen der DDR und der Fußballkultur widmen. Zuletzt erschien bei Voland & Quist 2023 ihr Fußball-Roman „Anne Hahn träumt Christian Beck“.