„Ich liebe Brandenburg“

Blick von unten nach oben auf die Decke des Kloster Neuzelle

Katholische Stiftskirche St. Marien Kloster Neuzelle

Foto: Ostkreuz (Leo Seidel)

Nichts da mit Känguru-Bratwurst, Mango-Chicken auf Kokosreis oder Kobe-Steak: Manuel Bunke, Küchenchef im Neuzeller Klosterhotel, überzeugt mit einer raffinierten Regionalküche seine Gäste. Auch die Juroren der Restaurant-Rangliste des Landes Brandenburg. Bunkes „Wilde Klosterküche“ steht dort auf Platz 5. Weil der Starkoch nur exzellente Produkte aus der Region verarbeitet. „Wegen der kurzen Wege“, wie Bunke begründet. Von Fischer Olaf aus Tauche holt er Hecht und Aal. Von Schäfer Rochler aus Limsdorf kommt das Lamm. Das Wild wird im Wald des Stifts Neuzelle erlegt. Und ein Sozialprojekt für „entkoppelte“ Jugendliche und Obdachlose in Lieberose liefert Gemüse. Kohlrabi zum Beispiel. „Die sind weicher und wachsiger als jene vom Supermarkt“, schwärmt Bunke. Die Blätter könne man dehydrieren und ein feines Öl daraus zaubern.

Er und sein Team kochen anders. Handwerklicher. Bunke, der sozial und ökologisch denkt und handelt, gärtnert leidenschaftlich gern. Wurstet. Und brennt Gin aus Leinsamen und Hibiskus. Er ist neugierig auf das, was hier wächst – sowie auf die, die es anbauen.

Manuel Bunke, in Guben und somit an der Neiße aufgewachsen, liebt Brandenburg. Auch deshalb spiegeln seine Gerichte die wald- und seenreiche Landschaft wider. Das war bis 2017 völlig anders. Bis dahin hatte der jetzt 36-Jährige schon die halbe Küchen-Welt gesehen. Er lernte Koch in einem Garmisch-Partenkirchener Sporthotel. Arbeitete dann in Österreich, in der Schweiz, in Dänemark, Finnland, Schweden – meist in Spitzenrestaurants und in verantwortlichen Positionen. Bunke machte erste Erfahrungen mit der feinen Gesellschaft. Und mit Menüs, die locker die 100-Euro-Schallmauer durchbrachen. Es folgten Australien, die Fidschi-Inseln. Nach anderthalb Jahren quittierte er dort den Dienst, schlug in Berlin auf – und sah Anne Hensel nach einer Ewigkeit wieder. „Wir kannten uns aus Gubener Buddelkastenzeiten. Sie wohnte damals im Nachbarhaus.“

Auch Anne Hensel, zwei Jahre jünger als Manuel Bunke, sah ein Stück von der großen Welt. Sie studierte in Deutschland, England und Spanien, hat einen Bachelor of Arts und einen Master of Business Administration, machte sich in Berlin mit einer Projektmanagement- und Design-Agentur selbständig. Zudem arbeitete sie als PR-Chefin und Managerin im Neuzeller Klosterhotel. Eigentümer: ihre Eltern Corinna und Jörg Hensel. Beide hatten das denkmalgeschützte Haus gegenüber dem berühmten Zisterzienserkloster 2010 als Fastruine gekauft. Und innerhalb von zwei Jahren zum Hotel umbauen lassen. Doch der Pächter warf irgendwann das Handtuch. Die Hensels mussten sich entscheiden: Verkaufen? Oder selbst betreiben? Der Familienrat beschloss: Wir schaffen es!

Ein Küchenchef von Format stach Anne Hensel sofort ins Auge. Auf Instagram und Facebook hatte sie monatelang verfolgt, was ihr Buddelkastenfreund Manuel von seiner kulinarischen Weltreise postete. „Ich wusste, dass er genial kochen kann – und wollte ihn haben.“ In Berlin lud Anne das Objekt ihrer Begierde vor fünf Jahren zu einem (?) Cocktail ein. Machte ihm schöne Augen. Nannte überzeugende Argumente. Bunke sagte schließlich: „Ja!“ Und hat seine Entscheidung bis heute nicht bereut. „Ich liebe Brandenburg. Trotz schlechter Straßen und eines lahmen Internets. Diese Region ist mein Zuhause.“

Neuzelle liegt im Landkreis Oder-Spree. Kürzel: LOS. Das übersetzte mancher Spötter nach der Wende mit „Land ohne Sonne“. Mit hoffnungsLOS. FreudLOS. MotivationsLOS. ZukunftsLOS. „Das war einmal“, wischt Bunke Vergangenes vom Tisch. „Ich werd' hier alt. Neuzelle ist und bleibt mein Lebensmittelpunkt.“

Das sagten sich auch Corinna und Jörg Hensel, die Eltern von Anne. Das Paar aus Guben war Anfang 30, als die Mauer fiel. Er arbeitete in DDR-Zeiten als Elektromonteur im Tagebau Jänschwalde, studierte dann Maschinenbau an der Leipziger TH. Ein kluger Mann. Doch seine erste Westmark verdiente er mit dem Verkauf von Sauna-Geräten, fand anderswo keinen Job. Corinna, die Instandhaltungsmechanikerin gelernt und Ingenieurpädagogik studiert hatte, wurde 1990 arbeitslos. Doch die Hensels sind „Macher“. Sie wagten ein Jahr später den Sprung in die ihnen noch so unbekannte freie Marktwirtschaft. Corinna eröffnete ein Sonnenstudio, Jörg gründete eine Spezialbaufirma, Elements of Spa. Er ist, fast wörtlich, mit allen Wassern gewaschen. Und wenn ihm das Wasser auch schon manchmal bis zum Hals stand, so schaffte er es immer wieder, Boden unter die Füße zu bekommen. Sein erster Großauftrag: eine komplette Badelandschaft für das Resort und Spa-Hotel zur Bleiche in Burg/Spreewald. Später hat er Bauvorhaben für Hotels in Österreich, Polen und Kroatien realisiert.

Und heute? Da dreht sich das Leben der Hensels rund ums Klosterhotel. Und um Bunkes „Wilde Klosterküche“. Sie werben mit dem Slogan: Kleines Dorf – großer Genuss!

Das kleine Dorf nennt Dieter Baesler voller Stolz „Städtlein“. Seit 1979 ist er in Neuzelle zu Hause. Und dort seit 2003 ehrenamtlicher Bürgermeister. Neuzelle boomt. Auch dank dem Kloster, der bedeutendsten barocken Klosteranlage des Landes Brandenburg. Baeslers „Städtlein“, ein staatlich anerkannter Erholungsort, wurde später Großgemeinde. Mit inzwischen zwölf Ortsteilen. Sie zählt jetzt 2.400 Einwohner mit annähernd 70 Betrieben. „Landwirtschaft, Handwerk und Gewerbe sind unsere Säulen. Der Tourismus natürlich. Und Bildung. In der Großgemeinde gibt es fünf Kitas, eine Grundschule und vier Privatschulen“, informiert Baesler, jetzt 65. Im EKO, dem Eisenhüttenkombinat Ost, stand er in DDR-Zeiten seinen Mann. Doch der Großbetrieb speckte in Wendezeiten von 12.000 auf 3.000 Mitarbeiter ab. Auch Baesler verlor seine Arbeit, hatte ein paar schlaflose Nächte – um dann noch einmal aufs Gaspedal zu drücken. Und die Schulbank. Um bei seinem alten Weggefährten, dem Bauunternehmer Peter Kaufmann, in Bereichen wie Technik, Ausschreibungen und Bauleitung zu bestehen. Längst ist er Gesellschafter im Kaufmann-Unternehmen – und in der „wilden“ Küche von Manuel Bunke gern gesehener Gast.

Wie Peter Kaufmann, Jahrgang 1952. „Ich verdiente in DDR-Zeiten in der Neuzeller Meliorationsgenossenschaft mein Brot. Nach Feierabend gingen Dieter, damals mein Schwager, und ich jahrelang pfuschen, verlegten im Auftrag der Gemeinde oder der Wasserwirtschaft Trinkwasserleitungen.“ Pfuschen. So nannte man zwischen Ahlbeck und Zittau den sehr gut bezahlten Nebenerwerb.  Beim Pfuschen in einer sogenannten Feierabendbrigade konnte ein DDR-Handwerker mitunter doppelt so viel verdienen wie in seiner eigentlichen Tätigkeit.

Im August 1989 – der Mauerfall war nicht zu ahnen – meldete Peter Kaufmann ein Gewerbe an. Er wollte nun in Eigenregie Trinkwasserleitungen verlegen. Dann überrollte auch Kaufmann das Wende-Wirrwarr. Doch schon im Januar 1990 genoss Kaufmann erste Glücksmomente. Aus Fulda kam bestellte Technik, die dringend gebraucht wurde. Vier Monate später gründete der leidenschaftliche Hobbyhistoriker seine Kaufmann Erd- und Tiefbau Neuzelle GmbH. Sie ist inzwischen auf 18 Mitarbeiter gewachsen. Und in der Region konkurrenzlos. „Die Weiterbildung meiner Leute hatte von Beginn an Priorität. Wer mit Trinkwasser arbeitet, braucht jede Menge Zertifikate. Deshalb haben mein Team und ich gebüffelt, gekämpft und uns mit der neuesten Technik vertraut gemacht.“ Dennoch nahm sich Peter Kaufmann Zeit, jungen Leuten eine Chance zu geben. Sein Unternehmen bildete bisher annähernd 50 Lehrlinge aus.

Um die Zukunft seines Fachbetriebes ist Peter Kaufmann übrigens nicht bange. Tochter Uta hat Tiefbau studiert. „Wenn ich eines Tages im dritten Gang mit angezogener Handbremse durch Neuzelle fahre, hat sie den Laden übernommen...“

Einen Laden ganz anderer Art übernahm am 9.9.91 („dieses Datum vergesse ich nie“) Lioba Karge. Die Neuzellerin mit dem klangvollen Vornamen gotischen Ursprungs führt seitdem die Drogerie Fortuna in der Frankfurter Straße 33 – etwa 200 Meter vom Klosterhotel entfernt. „Mein Großvater Alois Weber leitete hier, in seinem Haus, ab 1938 bis 1956 eine Drogerie. Die wurde in DDR-Zeiten staatlich, nannte sich HO. Tante Annemarie Rietschel, eine leidenschaftliche Drogistin, schwang dort bis zu ihrem Tod 1982 das Zepter“, weiß Lioba Karge aus dem Nachlass ihrer Verwandtschaft.

Die DDR starb 1990. Die HO, Kürzel für Handelsorganisation, auch. „Eigentlich bin ich gelernte Kinderkrankenschwester. Aber das Haus mit Drogerie, das uns Jahre später gehörte, suchte einen Betreiber. Ich hatte Lust auf etwas Neues“, gesteht Lioba Karge, damals Anfang 30. Auch sie drückte, wie Bürgermeister Dieter Baesler, nochmals die Schulbank. Zertifikate für Arzneimittel und Insektizide waren schließlich notwendig, um eine Drogerie leiten zu können. Zahlreiche Tränen seien damals gerollt. Schlaflose Nächte kamen hinzu. „Das war kein leichter Weg. Wenn ich meinen Burkhard nicht hätte...“ 

Ehemann Burkhard, seit Kurzem Rentner, gehörte zu den 3.000 EKO-Mitarbeitern, die kein Wende-Opfer wurden. „Er arbeitete bis zum Schluss bei ArcelorMittal. Dadurch hatten wir finanzielle Sicherheiten.“  Zudem war Lioba Karge clever: Sie holte sich Post und Postbank ins Haus. Später auch Lotto. Drei Standbeine. Drei zusätzliche Einnahmen.

Längst sieht Lioba Karge Licht im Tunnel und hat ihr Rentnerinnen-Dasein vor Augen. Doch wer wird Nachfolgerin? Schulterzucken. „Ich suche.“ Wenn die erste Rente auf dem Konto ist, meint sie augenzwinkernd, wird gefeiert. Wo? „Vermutlich im Klosterhotel. Dort fühlen wir uns immer gut aufgehoben...“

Jörg Kotterba,
geb. 1950, Sportjournalist in (Ost-)Berlin: Sportecho und Berliner Zeitung; DDR-Flucht im August 1989: Express Köln; Heimkehr in den Osten des Landes: ab 1991 Herausgeber „oder-anzeiger“ in Frankfurt (Oder); ab 1997 bis zur Rente Lokalredakteur Märkische Oderzeitung