Rede von Staatsminister Carsten Schneider

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Jahresempfang der Klassik Stiftung mit dem Ostbeauftragten

Jahresempfang der Klassik Stiftung mit dem Ostbeauftragten

Foto: Susanne Marschall

Sehr geehrte Frau Dr. Lorenz,
sehr geehrter Herr Minister Prof. Hoff, lieber Benjamin,
sehr geehrte Abgeordnete,
sehr geehrter Herr Kleine,
sehr geehrter Herr Dr. von der Weiden,
sehr geehrte Frau Schmidt-Rose,
sehr geehrter Herr Staschewski, lieber Jochen,
sehr geehrter Herr Dr. Hoernes,
sehr geehrter Prinz Wilhelm Ernst von Sachsen-Weimar-Eisenach,
sehr geehrte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stiftung,
sehr geehrte Gäste!

Zunächst einmal vielen Dank für die Einladung. Es ist schön, heute hier sein zu können. Als Wahlkreisabgeordneter für Weimar, der die „Klassik Stiftung“ nach Kräften unterstützt. Aber auch als Beauftragter für Ostdeutschland: Immerhin ist die „Klassik Stiftung“ die größte ostdeutsche Kulturstiftung.

Was Sie hier in den letzten Jahrzehnten aufgebaut haben – an kulturellem Gedächtnis und an Möglichkeiten der Kulturvermittlung – ist großartig! Dass ich dazu einen Beitrag leisten konnte, macht mich stolz.

Als Ostbeauftragter bekomme ich häufig Fragen nach ostdeutschen Besonderheiten gestellt. In der Regel lassen sich diese Fragen nicht leicht beantworten.

Aber ich glaube, dass die „Klassik Stiftung“ bei der Suche nach Antworten auf diese – und viele andere aktuelle – Fragen helfen kann. Die Arbeit der Stiftung ist in diesem Sinn seit dem 24. Februar 2022 sogar noch wichtiger geworden.

Der völkerrechtswidrige und barbarische russische Angriffskrieg markiert ohne Frage eine „Zeitenwende“. Mit diesem Begriff hat es Bundeskanzler Olaf Scholz auf den Punkt gebracht: Die Welt ist nach dem 24. Februar nicht mehr dieselbe wie davor.

Es ist wieder Krieg in Europa. Menschen sterben. Menschen fliehen. Die internationale Friedensordnung steht in Frage. Wirtschaftsbeziehungen werden gekappt. Die Sicherheits- und Verteidigungspolitik muss neue Wege gehen.

Die Zeitenwende zwingt uns alle noch mehr zur Selbstreflexion, zu neuem Denken, zur Innovation. Zuerst in der Politik. Aber eben nicht nur. Denken Sie an die Wirtschaft oder den Sport.

Ich war am Wochenende bei der Biathlon-Weltmeisterschaft. Sie findet ohne die traditionell starken Mannschaften aus Russland und Weißrussland statt. Wie es mit den Sportlerinnen und Sportlern weitergeht, ist eine viel diskutierte Frage. Die Athleten und Funktionäre der verschiedenen Nationen sind dabei durchaus unterschiedlicher Meinung.

Aber auch die Kultur, ihre Akteure und ihre Institutionen – Sie wissen es selbst – sind in der Zeitenwende gefordert.

Die Klassik Stiftung hatte sich schon vor dem 24. Februar 2022 auf einen Weg der Erneuerung und Öffnung gemacht. Und sie hat danach einiges unternommen, um mit Russland und der Ukraine in Kontakt zu bleiben.

Doch erlauben Sie mir die provokante Frage: War die Stiftung – wie die Stadt Weimar, das Land Thüringen und ganz Deutschland – auf die Erschütterung dieses Krieges auch nur ansatzweise vorbereitet?

Es stimmt ja: Es gab die warnenden Stimmen aus Osteuropa, aus dem Baltikum, auch von deutschen Experten. Wie konnte es dazu kommen, dass wir diese Stimmen so lange ignoriert haben? Hätten nicht – auch aus Weimar – eine kritischere Auseinandersetzung mit den imperialistischen Bestrebungen Russlands stattfinden müssen?

Und wie sieht es mit der Zeit nach dem Krieg aus? Wie sind wir auf diesen – leider wohl noch fernen – Tag vorbereitet?

Für mich steht fest: Die Klassik Stiftung ist als Brückenbauerin in Richtung Osten prädestiniert – nach Mittel- und Osteuropa, auch nach Russland!

Dafür gibt es drei gute Gründe.

Zunächst: Der Überfall auf die Ukraine verlangt eine klare Positionierung. Dafür braucht es politische Grundwerte. Grundwerte, die einst im klassischen Weimar vorgedacht, später in der Weimarer Republik in eine Verfassung gegossen – und in Buchenwald später so schmählich verraten wurden.

Die Aufgabe der Klassik Stiftung ist es, die Entstehung dieser Werte des Humanismus und der Aufklärung zu erforschen – und mit Ihrem Programm aktiv mitzuhelfen, sie in der Gesellschaft zu verankern. Nicht zuletzt diese ethischen Vorstellungen sind es doch, die eine Unterstützung der Ukraine rechtfertigen.

Keine einfache Aufgabe. Das zeigt das Banner, das am Deutschen Nationaltheater hängt. „Diplomatie! Jetzt! Frieden“ ist darauf in großen Lettern zu lesen. Das klingt einfach und richtig. Frieden muss unser Ziel bleiben. Aber Frieden zu welchem Preis? Da wird es sehr kompliziert.

Können Verhandlungen mit einem Aggressor, der einen Krieg zur Veränderung von Grenzen in Europa führt, moralisch geboten sein? Ich finde, für Verhandlungen gibt es gerade keine Grundlage. Das bedeutet aber nicht, dass es überhaupt keinen Raum für Diplomatie gibt, wie das Getreideabkommen oder der Gefangenenaustausch zeigen. Beispiele für gelebte Realpolitik, die sich eben an den tatsächlichen Bedingungen orientiert.

Ist es legitim, Waffen zu liefern, um so noch größeres Leid zu verhindern? Ich finde, das ist legitim und sogar notwendig! Die Ukraine macht von ihrem Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch, das in Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen festgeschrieben ist. Russland dagegen bricht nicht nur das Völkerrecht, sondern begeht schwerste Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen. Die Ukraine muss unsere Unterstützung haben – auch mit Waffenlieferungen.

Ich weiß: Alle diese Themen sind komplex. Aber sie stehen jeden Tag auf der Agenda. Die Klassik Stiftung sollte aus meiner Sicht auch eine Plattform sein, um über die Widersprüchlichkeit unserer Wertvorstellungen nachzudenken – als ein Think Tank für unsere Werte.

Zugleich könnte der Stiftung zweitens eine besondere Rolle zuwachsen, wenn es darum geht, die kulturellen Beziehungen zu Russland wieder zu stärken und ein gemeinsames Verständnis der Geschichte zu entwickeln – natürlich nicht jetzt sofort, aber hoffentlich irgendwann. Frau Dr. Lorenz hatte dazu beim Jahresempfang im vergangenen Jahr folgendes gesagt:

„Der Kultur- und Wissenschaftsaustausch mit allen muss erhalten bleiben. … Die friedenstiftende Macht der Kunst, die brückenbauende Kraft von Wissenschaft und Kultur sind das einzig Verlässliche, Vertrauensbildende… für eine Epoche nach dieser Katastrophe in Europa.“

Ich habe mich sehr gefreut, dass die hoch geschätzte Irina Scherbakowa – Gründungsmitglied der russischen Organisation Memorial, die 2022 den Nobelpreis gewann und Gewinnerin des Weimarer Menschenrechtspreises – in Weimar eine Zuflucht gefunden hat. Scherbakowa glaubt nicht an eine Demokratie in Russland unter Putin. Sie weist darauf hin, dass viele Russen diesen Krieg billigen. Zitat:

„Die Menschen schauen entweder weg oder versuchen sich anzupassen – oder sie fliehen auch aus dem Lande oder verstecken sich.“

So Frau Scherbakowa in ihrer Dankesrede auf der Preisverleihung am 10. Dezember 2022.

Und damit hat sie natürlich Recht.

Dennoch dürfen wir die Hoffnung nicht aufgeben. Wir müssen tun, was wir können, damit sich Russland nach einem Ende der Diktatur wieder zurückbewegt in den Kreis der zivilen und demokratischen Nationen.

„In meinen Augen konzentriert sich alles in Weimar.“

Auch dies ist ein Satz aus Irina Scherbakowas Dankesrede. Sie bezieht ihn in erster Linie auf die klassische Epoche, aber auch auf die Aufarbeitung der Schrecken des 20. Jahrhunderts.

Ich meine, der Satz gilt in gewisser Weise auch für die deutsch-russischen Beziehungen: Alles konzentriert sich in Weimar!

Da wäre vor allem die Zarentochter – und für den Verlauf der Weimarer Geschichte besonders wichtig – Zarenschwester Maria Pawlowna. Heute ist ihr Geburtstag. 1786 geboren, kam sie 1804 im Alter von 18 Jahren nach Weimar, begleitet von ihrem Ehemann, dem Erbprinzen Carl Friedrich.

Mit ihrer Ankunft begann für die Stadt und das Herzogtum das „Russische Jahrhundert“. Die Heirat war ein Coup. Sie wäre ohne den „Mythos Weimar“ als kulturellem Herz Deutschlands wohl genauso wenig möglich gewesen wie ohne einen preußischen Kredit.

Das kleine, verarmte Herzogtum Sachsen-Weimar hatte sich mit einer großen europäischen Dynastie verbunden. Maria Pawlownas Anwesenheit sorgte für neue finanzielle Spielräume und – noch wichtiger – für den Schutz vor französischen Machtansprüchen.

Es war zentral ihr zu verdanken, dass das Herzogtum trotz der Niederlage von Preußen und seinen Verbündeten gegen Napoleons Truppen 1806 – nicht weit von hier auf den Schlachtfeldern von Jena und Auerstedt – seine Unabhängigkeit behalten konnte.

Am Wiener Kongress 1815 nahm sie selbst teil und wahrte – dank ihres großen Bruders Zar Alexander I. – Weimars Interessen. Sie sorgte sogar dafür, dass das kleine Land zum Großherzogtum aufgewertet wurde. Großer Bruder – da klingelt zumindest bei den Ostdeutschen etwas.

Heute liegen Maria Pawlowna und Carl Friedrich nebeneinander in der Fürstengruft auf dem historischen Friedhof von Weimar. Eheleute unterschiedlicher Religionszugehörigkeit: der Protestant und sie vereint unter der extra errichten kleinen russisch-orthodoxen Kapelle in geweihter Erde. Gemeinsam mit dem deutschen Dichterfürsten Goethe und dem Sarg Friedrich Schillers. Was für eine Geschichte!

Weimar hat dieser liberalen, großzügigen, kultivierten Frau so vieles zu verdanken: die Förderung der Künste, Parkanlagen, Bauten, Brunnen und, als gelernter Bankkaufmann muss ich das erwähnen, einen Sparkassenverein.

Sie war maßgeblich, dass Russland in kaum einer anderen deutschen Stadt so viele Spuren hinterlassen hat wie in Weimar!

Die Klassik Stiftung ihrerseits trägt dazu bei, diese wechselvolle Geschichte in Erinnerung zu rufen und daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen. Eine ehrenvolle, eine wichtige Aufgabe!

Ich begrüße vor diesem Hintergrund auch den Versuch, eine Partnerschaft zwischen Weimar und der zentralrussischen Stadt Tula ins Leben zu rufen. Nicht nur, aber auch, weil in ihrer unmittelbaren Nähe der Geburts- und Wohnort von Leo Tolstoi, Jasnaja Poljana, liegt. Tolstoi besuchte Weimar 1861 und interessierte sich dabei besonders für Goethe.

Ähnlich wie viele deutsch-russische Kanäle momentan eingefroren sind, so liegt auch die Initiative der Städtepartnerschaft derzeit auf Eis. Hier muss man auf günstigere Umstände warten.

Ein dritterPunkt, weshalb ich Weimar und die Klassik Stiftung als Brückenbauer für den Blick nach Mittel- und Osteuropa und Russland in der Pflicht sehe, ist die Zeit der DDR. Auch aus dieser Periode gibt es zahllose Verbindungen und Gemeinsamkeiten, an die sich anknüpfen ließe.

Ein Beispiel: Die „Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar“, kurz NFG, die Vorgängerorganisation der Klassik Stiftung von 1953-1991, hatten unzählige Kontakte in die Länder des damaligen Ostblocks.

Doch die NFG ist fast vergessen. Dass nun auf einer Tagung in der Stiftung im Mai 2023 die Arbeit der NFG – aber auch anderer Kulturinstitutionen im Osten Europas – thematisiert werden sollen, scheint mir ein guter wie dringend notwendiger Schritt zu sein.

Sie wissen, dass nach der Wiedervereinigung große Teile der kulturellen und akademischen Eliten der DDR ausgetauscht wurden. Um es mit einer Zahl zu illustrieren: Bis zum Ende der 1990er Jahre verloren etwa 60 Prozent des wissenschaftlichen Personals der Hochschulen ihren Arbeitsplatz. Wir haben damit auch Verbindungen in den Osten, auch nach Russland gekappt. Verbindungen, die uns in Zukunft vielleicht helfen könnten.

Wir brauchen mehr, nicht weniger Austausch mit der geistigen Elite Mittel- und Osteuropas. Damit meine ich auch Kontakte zu den demokratisch gesinnten russischen Intellektuellen, die es nach wie vor gibt.

Der Aderlass der russischen Intelligenzija in den vergangenen Jahrzehnten ist ohne Beispiel. Es stellt sich die Frage, wer nach der aktuellen Fluchtwelle noch als Ansprechpartner erhalten bleibt. Diese Menschen benötigen unsere Unterstützung. Sie könnten ein Schlüssel zum Frieden sein.

Dabei ist mir wichtig: Es geht hier nicht darum, die Intellektuellen aus den übrigen Ländern Mittel- und Osteuropas mit denen in Russland in einen Topf zu werfen. Selbstverständlich muss die Stärkung der Beziehungen nach Polen, Tschechien oder in die Ukraine im Vordergrund stehen! Aber langfristig sind eben auch die Brücken zu aufgeschlossenen russischen Wissenschaftlern und Kulturschaffenden wichtig. Sie müssen erhalten und auch neu gebaut werden. 

Doch zurück zum Elitenaustausch. Jüngere Wissenschaftler verloren damit nicht nur ihre akademischen Mentoren und Strukturen. Die akademische Sozialisation in der DDR – vielleicht noch inklusive Studium in Russland – wurde zum Makel.

Mit Nachwirkungen bis heute: Gerade 17 Prozent der Hochschulrektoren der größten ostdeutschen Hochschulen haben eine ostdeutsche Herkunft. Im Jahr 2023. Selbst Bürgerrechtler sagen mir inzwischen, dass damals zu viele gute Leute zu schnell aus ihren Positionen entfernt wurden.

Um nicht missverstanden zu werden: Ich freue mich über jeden Westdeutschen, der nach Ostdeutschland zieht und sich hier einbringt. Darum geht es nicht. Doch klar ist auch, dass Deutschland bis heute ostdeutsches Potenzial verschenkt. Das kann sich selbst ein so reiches Land wie die Bundesrepublik nicht leisten!

Ich bin deshalb froh, dass wir mit Dr. Ulrike Lorenz eine Frau und gebürtige Thüringerin an der Spitze der Klassik Stiftung haben. Wie so viele ostdeutsche Frauen hat sie zunächst Karriere im Westen gemacht. Sie bringt ihre Erfahrungen aus Ost und West nun in Weimar ein. Und das ist gut so!

In Zukunft sollte die Klassik Stiftung aus meiner Sicht noch stärker an der Formung der ostdeutschen Kulturelite mitwirken. Wir können im Kultur- und Debattenort Weimar mithelfen, eine neue, selbstbewusste Generation ostdeutscher Intellektueller, Männer wie Frauen, zu stärken.

Ich beobachte zum Beispiel mit großem Interesse die vielen jüngeren Autorinnen und Autoren, die sich literarisch mit der Nachwendezeit auseinandersetzen: Hendrik Bolz. Lukas Rietzschel. Daniel Schulz. Grit Lemke. Anne Raabe. Es sind noch mehr. Sie alle sind mögliche Partner für eine Klassik Stiftung als Denkfabrik.

Zu Beginn meines Vortrages habe ich beklagt, immer wieder verflixt schwierige Fragen gestellt zu bekommen. Eine dieser Fragen lautet, warum viele Ostdeutsche an einem positiven Russlandbild festhalten -trotz der Eindeutigkeit der russischen Aggression.

Regelmäßig werden zudem Umfragen veröffentlicht, wonach deutlich mehr Ost- als Westdeutsche nach wie vor Sympathien für Russland haben, die Sanktionen kritisch sehen und der Ukraine keine schweren Waffen liefern würden.

Auch hier gilt: Antworten können in Weimar gefunden werden.

Bis 1992 war die 8. Sowjetische Gardearmee mit ihrem Hauptquartier in Nohra westlich von Weimar stationiert. Es handelte sich um die zweitgrößte Garnison in der DDR.

Insgesamt gab es in der Republik der Arbeiter und Bauern fast 800 sowjetische Militärobjekte. Über Jahrzehnte waren hier durchgängig rund eine halbe Million sowjetische Soldaten stationiert.

Ich bin im Weimarer Land ganz in der Nähe von Nohra aufgewachsen. Ich weiß es noch sehr gut: Wir hatten Kontakte auf unterschiedlichen Ebenen. Mit den Soldaten haben wir kleine Tauschgeschäfte gemacht, daran erinnere ich mich.

In der Schule haben wir Russisch gelernt und uns dabei auch mit Kultur, Literatur und der Geschichte Russlands beschäftigt. All dies prägt – ebenso wie Michail Gorbatschow, der für ein positives Russlandbild steht. Ich habe mir 1988 einen „I love Gorbi“-Sticker an die Jacke geheftet. Das war der stille Protest eines damals 12-Jährigen in der DDR.

Andererseits: Wenn wir Ostdeutschen ehrlich sind, haben die meisten von uns ihre Liebe zu Russland erst nach der Wiedervereinigung und dem Abzug der Truppen entdeckt.

In der DDR war „Russe“ ein Schimpfwort, man musste „Sowjetsoldaten“ sagen. Und der Begriff „großer Bruder“ wurde in der Alltagssprache eher in Anführungszeichen verwendet.

Und übrigens hatte Weimar jahrzehntelang unter dem Lärm der sowjetischen Militär-Hubschrauber gelitten. Als die verschwunden waren, waren viele Menschen einfach nur froh.

Ja, wir konnten etwas Russisch – aber die Sprache war auch schwer und im Alltag kaum anwendbar.

Ja, wir hatten Kontakte – aber Freundschaften sind daraus eher selten entstanden. Mit mehr oder weniger erzwungenen Brieffreundschaften allein lässt sich zumindest noch keine Russlandnähe begründen.

Ja, es gab die Schweißer und Ingenieure an der Trasse, die Studenten, die für ihr Abenteuer dort ein gutes Geld bekamen. Und die echten Abenteurer, die mit einem Transitvisum für Wochen durch den Kaukasus reisten. Nicht zu vergessen die deutschen Absolventen der sowjetischen Hochschulen.

Doch bleiben all diese Gruppen am Ende in der Minderheit. Die bis heute gefühlte Verbindung kann also nicht nur mit positiven Erfahrungen in der DDR zu tun haben.

Für mich kommen mindestens zwei weitere Punkte hinzu.

Zum einen: eine verbreitete Anti-Haltung zur Nato und den USA. In den alten Bundesländern stehen in neuen Umfragen mit 42 Prozent beinahe doppelt so viele Menschen den Vereinigten Staaten nahe wie in Ostdeutschland (23 Prozent).

Zum anderen: Es handelt sich wohl auch um eine Art Trotzreaktion auf die Demütigungserfahrungen nach der Wiedervereinigung. Eine Form von Reaktanz, nach dem Motto: Die Beziehungen zu Russland und seinen Menschen, unser Wissen über das Land und die gemeinsamen Erfahrungen lassen wir uns von euch hochmütigen Wessis nicht auch noch nehmen. Sie ist Teil unserer Identität!

Denken Sie nur an die Anfang der neunziger Jahre verbreiteten Tassen und T-Shirts mit den aufgedruckten kyrillischen Buchstaben „Wenn Du das lesen kannst, bist Du kein dummer Wessi.“

Es geht hier um mehr als um Russland selbst. Es geht um ostdeutsche Identität und die Abgrenzung gegen den Westen und die Westdeutschen.

Die ostdeutschen Affinitäten zu Russland werden in den Medien oft pauschal als Problem betrachtet. Das wiederum halte ich für ein Problem!

Weil es einmal mehr dazu beiträgt, dass Ostdeutsche sich in den Medien nicht repräsentiert fühlen. Eine grundsätzlich zugewandte Haltung und ein Interesse an Russland sind ja an sich nichts Schlechtes – solange der verbrecherische Wesenskern des russischen Regimes und der aggressive Nationalismus nicht relativiert werden.

Die erwähnte 8. Gardearmee kämpft heute übrigens gegen die Ukraine.   

Aber auch ein weiterer Punkt ist mir wichtig: Nie wieder darf der Eindruck entstehen, dass Deutschland über die Köpfe der Ukraine und der übrigen Länder Mittel- und Osteuropas hinweg agiert! Diese Urangst der Ukrainer und Polen kann ich sehr gut nachvollziehen.

Auf der deutsch-ukrainischen Schriftstellertagung „Eine Brücke aus Papier“ Ende 2022, genau hier an dieser Stelle, hat der Historiker Karl Schlögel darauf hingewiesen, dass die Ukraine für die meisten Deutschen lange gar nicht existiert hat. Sie sei nur als Peripherie und „riesiges Durchreiseland auf dem Weg nach Moskau“ behandelt worden. Erst der Krieg habe die Landkarte in unseren Köpfen verändert. Schlögel spricht von „Arroganz gepaart mit Unkenntnis“ und einer „imperialen Fixierung auf Russland“.

Starke Worte. Doch ich muss durchaus selbstkritisch einräumen, dass Professor Schlögel vermutlich recht hat.

Dabei haben nicht nur die Russen Berlin befreit, sondern auch die übrigen Völker der Sowjetunion. Nicht nur Russen waren in der DDR stationiert, sondern auch viele Ukrainer, Weißrussen, Balten und viele mehr.

Die historische Schuld Deutschlands gilt nicht nur gegenüber den Russen, sondern auch den Polen, Ukrainern, Balten und Weißrussen.

Es wäre deshalb zu begrüßen, wenn die Klassik Stiftung sich nicht nur bemüht, die ausgetrockneten Verbindungslinien nach Russland am Leben zu erhalten, sondern zugleich und mit ganzer Kraft Brücken nach Mittel- und Osteuropa zu bewahren, auszubauen und neu zu errichten.

Das geschieht auch bereits. Zum Beispiel hat die Stiftung ukrainischen Schriftstellerinnen Unterschlupf gewährt und andere eingeladen, Beiträge für die Website zu schreiben.

Die Herzogin Anna Amalia Bibliothek stellt ukrainische Literatur im Studienzentrum vor und organisiert Tagungen, die den Blick nach Osten richten. Ein Engagement der Bibliothek, für das auch ihrem Direktor Dr. Reinhard Laube zu danken ist.

Dass Weimar nach dem Weltkrieg und der Brandkatastrophe von 2004 ein lebendiges Bewusstsein dafür hat, wie furchtbar die Zerstörung von Kulturgütern ist, könnte ein wichtiger Anknüpfungspunkt sein.

Ein weiterer Anknüpfungspunkt könnte das „Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“ werden, für das ich als Ostbeauftragter die inhaltliche Federführung habe. Vorgestern hat eine Jury entschieden, dass es in Halle (Saale) entstehen soll. Das Ziel: Einen „Hub“ zu schaffen auch für den differenzierten Austausch mit Menschen aus den Ländern Mittel- und Osteuropas. 

Wir müssen alles dafür tun, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnt!

Und ich glaube, dass Putin ihn mit Blick auf die eigenen Kriegsziele eigentlich schon verloren hat:

Die Ukraine ist nicht russifiziert, sie ist als eigenständige Nation gewachsen.

Die Nato ist nicht gespalten, sie ist geschlossen und steht vor ihrer Erweiterung – ein Schritt übrigens, den weder Schweden noch Finnland ohne den Überfall auf die Ukraine gegangen wären.

Der Westen ist nicht wankelmütig, er handelt konsequent und souverän.

Das paradoxe Trauerspiel besteht darin, dass Putin gerade Russland zugrunde richtet. Er hat sich komplett verkalkuliert.

Von Maria Pawlowna stammte die Idee, den Weimarer Dichtern jeweils ein eigenes Dichterzimmer im Stadtschloss zu widmen.

Im Raum von Schiller steht unter seiner Büste dieses wunderschön hoffnungsvolle Zitat:

„Mich hält kein Band, mich fesselt keine Schranke,

frei schwing ich mich durch alle Räume fort.

Mein unermeßlich Reich ist der Gedanke,

und mein geflügelt Werkzeug ist das Wort.“

Oder um es mit den Worten eines der bekanntesten deutschen Volkslieder zu sagen: „Die Gedanken sind frei!“

Der Text von Schiller lässt unweigerlich an die Repressionen in Russland und den besetzten Gebieten und an die Fake-News von Russia Today denken.

Doch wie Weimar zeigt, gibt es eben auch die andere russische Seite. Pawlowna, Tolstoi, heutige Intellektuelle wie eben Irina Scherbakowa. Sie sind und waren Freigeister und Vermittler zwischen den Kulturen. Sie geben uns Hoffnung.

Die Klassik Stiftung ist der Ort all dieser Verbindungslinien, die es zu vergrößern gilt – mit den Möglichkeiten einer großen Kultureinrichtung.

Dafür wünsche ich allen Verantwortlichen auch für 2023 nur das Beste!