Interview in der Freien Presse am 16. März 2023
Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Carsten Schneider, sieht Ostdeutschland als Innovationstreiber.
Freie Presse: Erfolg und Leid liegen bei der Elektromobilität nahe beieinander. Während Volkswagen Sachsen in Zwickau voll ausgelastet ist und täglich 1400
Autos vom Band rollen, soll das direkt daneben liegende Gelenkwellenwerk
geschlossen werden. Wie blicken Sie auf die Transformation der Automobilindustrie?
Carsten Schneider: Bei Volkswagen in Zwickau wurde die Transformation der Automobilindustrie rechtzeitig erkannt und gemeinsam von Geschäftsführung und Beschäftigten gestaltet. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren von Anfang
an einbezogen und der Betriebsrat hat klar gesagt: Wir wollen vorn dabei sein. Das war eine Entscheidung, die sich jetzt auszahlt.
Freie Presse: Heißt vorn dabei zu sein auch, sich von dem Konzept der verlängerten Werkbank zu verabschieden, welches die ostdeutsche Wirtschaft lange geprägt hat?
Carsten Schneider: Ja, was bei VW in Zwickau geleistet wird, ist beispielgebend für die Mobilitätswende im ganzen Land. Das Werk ist jetzt Vorbild für alle anderen Produktionsstätten im VWKonzern und auch für alle anderen, die sich hier informieren. Man ist nicht verlängerte Werkbank, sondern beherrscht auch die Konzeption der Transformation. Das sorgt für Selbstbewusstsein und gute Arbeitsplätze.
Freie Presse: Den Mitarbeitern im Gelenkwellenwerk wird das allerdings nicht helfen, selbst wenn noch die leise Chance auf einen neuen Investor
besteht.
Carsten Schneider: Der Eigentümer hat in den letzten Jahren gutes Geld mit dem Werk verdient und verdient weiterhin gutes Geld mit der Arbeitskraft der Beschäftigten. Sie haben Anspruch auf einen fairen Ausgleich. Darüber hinaus
bin ich sicher, dass dieser attraktive Standort mit den hoch qualifizierten Beschäftigten einen Investor finden wird.
Freie Presse: Das EU-Parlament hat das Aus des Verbrennungsmotors bis
2035 beschlossen. Noch ist die Entscheidung durch die Bedenken vor allem der FDP nicht endgültig. Bedeutet das nicht, dass gerade auch in der Region Südwestsachsen viel Kompetenz in dem Bereich verloren geht?
Carsten Schneider: Die Gespräche dazu laufen noch. Andere Länder wie Norwegen – schon 2025 – oder die Niederlande und Schweden 2030 haben sich
schon entschieden. Es ist wichtig, dass wir eine klare Planung und eine Übergangszeit haben, damit sich Unternehmen und Beschäftigte darauf
einstellen können.
Freie Presse: Aber die Kritik aus der Wirtschaft wegen der mangelnden Technologieoffenheit ist auch nicht zu überhören.
Carsten Schneider: Wir müssen den Stier bei den Hörnern
packen, dann können wir bei den neuen Technologien der Elektromobilität ganz vorne mit dabei sein.
Freie Presse: Ist die Transformation bei VW Sachsen dabei für Sie ein Vorbild?
Carsten Schneider: Ich finde, hier wurde der Stier bei den Hörnern gepackt. Darauf können die Kollegen stolz sein. Denn in dieser Region hat es in den vergangenen
30 Jahren permanent Veränderungen gegeben, da sehnt man sich
ein bisschen nach Ruhe. Die Menschen hier wissen deshalb aber auch, wie Veränderung funktioniert.
Freie Presse: Die Automobilindustrie in Ostdeutschland hat sich eine Spitzenposition erworben. Sehen Sie noch andere Wirtschaftsbereiche im Osten, die besonders gut aufgestellt sind?
Carsten Schneider: Neben der Automobilindustrie gibt es noch drei Bereiche, wo wir im Osten Weltspitze sind. Das ist in Sachsen die Halbleiterbranche, in die ja mit Infineon, Bosch und anderen noch weiter investiert wird. In Jena sind wir mit der optischen Industrie in der Spitze dabei. Das Chemiedreieck Bitterfeld-Leuna bis hoch nach Wittenberg-Piesteritz bekommt durch das geplante Großforschungszentrum in Delitzsch noch eine neue Qualität.
Freie Presse: Reichen diese vier gut positionierten Branchen aus, um die ostdeutsche Wirtschaft voranzubringen?
Carsten Schneider: Wir können im Osten nicht in allen Branchen einen Spitzenplatz belegen. Gemessen an 16 Millionen Einwohnern leisten diese vier zentralen Zukunftsbranchen einen hohen Beitrag für das gesamtdeutsche Wachstum. Inzwischen sind wir in einer Phase, wo unsere Wirtschaft endlich Boden unter den Füßen bekommt und ein Innovationstreiber ist. Wir kommen jetzt in eine Lage, bei der fast Vollbeschäftigung herrscht. Früher war das Kapital knapp, jetzt sind es die Arbeitskräfte.
Freie Presse: Der Fachkräftemangel verändert die Arbeitswelt. Die Löhne
steigen. Unternehmen müssen sich Gedanken darüber machen, wie sie effizienter werden. Ist das eine gute Entwicklung?
Carsten Schneider: Für den Osten ist das wichtig. Rückkehrer kommen nicht, wenn hier zwar die Heimat schön ist, sie aber deutlich weniger verdienen. Wir
brauchen qualitativ hochwertige Arbeit mit guter Bezahlung. Die Zeiten
von Lohndumping sind im Osten vorbei.
Freie Presse: Die geringeren Arbeitskosten im Osten waren für die Unternehmen
immer ein Standortvorteil. Müssen die Arbeitgeber jetzt umdenken?
Carsten Schneider: Wenn Arbeit zu billig ist, kommen wir bei den Produktivitätsfortschritten nicht voran. Oftmals war es doch auch so, dass die Wertschätzung gegenüber den Beschäftigten nicht so hoch war. Doch diese Zeiten ändern sich radikal. Wer das als Unternehmer nicht begreift, wird nicht mehr lange Unternehmer sein, weil er niemanden für seine Jobs findet.
Das Interview erschien am 16. März 2023 in der Freien Presse.