Gleichwertige Lebensverhältnisse als Pfeiler unserer Demokratie

Was muss passieren, damit man überall in Deutschland gut leben kann?  Gleichwertige Lebensverhältnisse als Pfeiler unserer Demokratie

Der Gleichwertigkeitsbericht der Bundesregierung (2024) hat eine Debatte über regionale Unterschiede entfacht. In einem Folgeprozess wurden Ideen für neue regionalpolitische Maßnahmen gesammelt. Denn Befragungen wie der Deutschland-Monitor zeigen, dass insbesondere in strukturschwachen Regionen Zukunftsängste und demokratieskeptische Einstellungen verbreitet sind. Gleichwertige Lebensverhältnisse sind die Grundlage für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Fünf Handlungsvorschläge für die Diskussion.

Staatsminister Carsten Schneider

Staatsminister Carsten Schneider

Foto: Bundesfoto/Christina Czybik

Viele Menschen in Deutschland befürchten, dass sich die Gesellschaft spalten und der politische Extremismus zunehmen könnte. Diese Sorgen sind ohne Zweifel berechtigt. Doch zeigt der diesjährige Deutschland-Monitor, dass das gemeinsame Wertefundament in unserer Gesellschaft bisher stabil ist. Dafür wurden landesweit 8.000 Menschen gefragt, in was für einer Gesellschaft sie leben wollen. Die gute Botschaft: Die Menschen teilen zentrale gesellschaftliche Zielvorstellungen und die Werte und Normen des Grundgesetzes. 
Beispielsweise wünschen sich nahezu alle Befragten, dass in Deutschland die Gleichberechtigung der Geschlechter, individuelle Freiheitsrechte, Chancengleichheit oder die friedliche Koexistenz von Religionen garantiert werden. 

Natürlich misst der Deutschland-Monitor auch Dissonanzen. So wollen nicht alle Menschen in einer Gesellschaft leben, die „Zuwanderung als Chance“ begreift oder „in der wir klimaneutral leben“. Aber divergierende gesellschaftliche Zielvorstellungen sind in einer pluralen Demokratie selbstverständlich. Gefährlich wird es nur, wenn politische Polarisierungsunternehmer kontroverse Themen gezielt aufbauschen und dabei auch Fake News verbreiten. 

Beunruhigen muss jedoch, dass rund vierzig Prozent der Bevölkerung unzufrieden damit sind, wie unsere Demokratie funktioniert. Etwa ebenso viele sind skeptisch, ob zentrale Freiheitsrechte des Grundgesetzes in der Praxis gewährleistet sind, besonders die Meinungs- und Pressefreiheit. Die Einschätzung der Befragten zum gesellschaftlichen Miteinander fällt noch düsterer aus: Nur zwölf Prozent bewerten den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt positiv. Gerade mal ein Drittel gibt an, den Mitmenschen in Deutschland zu vertrauen. Die Diagnose der Studienautoren: „In Deutschland existiert aktuell kein ‚Wir-Gefühl‘“. Das gesellschaftliche Fundament hat also tiefe Risse bekommen. Wo es an Demokratievertrauen und Zusammenhalt fehlt, sind Stabilität und Wohlstand langfristig in Gefahr. 

Menschen müssen überall in Deutschland  gut leben können


Der Deutschland-Monitor belegt zudem, dass insbesondere in strukturschwachen Regionen Zukunftsängste, populistische Haltungen und demokratieskeptische Einstellungen verbreitet sind - übrigens in Ost- wie in Westdeutschland. Auch sehen Menschen in diesen Gegenden ihre Vorstellungen von einer gerechten Gesellschaft seltener als verwirklicht an.
Aus diesen Beobachtungen leitet sich ein klarer politischer Handlungsauftrag ab: Wir müssen uns viel stärker dafür einsetzen, dass die Menschen überall in Deutschland gut leben können. Nicht nur in München und Münster, sondern auch im Erzgebirge und Ruhrgebiet. In allen Regionen brauchen wir wirtschaftliche Perspektiven, einen funktionierenden ÖPNV, gute Schulen, lebendige Vereine und Räume für Begegnung. Das im Grundgesetz verbriefte Ziel, gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen, wird damit zur zentralen Staatsaufgabe. Die Änderungen des Grundgesetzes für das neue Sondervermögen und die strukturellen Verschuldungsmöglichkeiten in den Ländern bilden dafür eine gute Grundlage.

Mit dem im vergangenen Jahr vorgelegten Gleichwertigkeitsbericht  hat die Bundesregierung für dieses Thema eine hervorragende analytische Grundlage geschaffen. Nun müssen konkrete Maßnahmen folgen. Es folgen fünf Vorschläge für die Diskussion, über die die Politik in der neuen Wahlperiode beraten und entscheiden könnte: 

Erstens benötigen strukturschwache Kommunen mehr finanzielle Mittel. Nur dann haben sie die Möglichkeit, ihre Handlungsspielräume zu nutzen und ihre Ausgangsbedingungen zu verbessern. Derzeit gelten fast 60 Prozent der Kommunen als steuer- und damit investitionsschwach. Das muss im bundesstaatlichen Finanzausgleich besser abgebildet werden. Dass die reale Finanzlage nur teilweise berücksichtigt wird, bevorteilt Länder mit steuerstarken Kommunen wie zum Beispiel Bayern. Darüber hinaus sollte sich die Verteilung des kommunalen Umsatzsteueranteils zwischen den Kommunen in den Ländern stärker an der Einwohnerzahl orientieren. So hätten bislang strukturschwache Kommunen mehr Geld zur Verfügung. Damit könnten sie sich übrigens auch leichter für Förderprogramme bewerben, da endlich mehr Geld für die erforderlichen Eigenanteile vorhanden wäre. Wenn einige Ländervertreter eine Neuverhandlung des Finanzausgleichs fordern, müssen diese Themen mit auf dem Tisch landen.

Zweitens sollten einige Bundesprogramme auf den Prüfstand. Die bestehenden Mittel sollten künftig effektiver, d. h. nicht nach starren Schlüsseln (z. B. Königsteiner Schlüssel) verteilt werden, sondern nach zielgenauen und bedarfsgerechten Kriterien, ähnlich wie das neue Bund-Länder-„Startchancenprogramm“ für Schulen. Das wird zu regionalen Verteilungskonflikten führen, aber gleichwertige Lebensverhältnisse sind eine Voraussetzung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt im ganzen Land.

Drittens: Wir müssen erreichen, dass mehr Menschen – vor allem Familien – in strukturschwachen Räumen bleiben oder neu hierhinziehen. Dazu gehört ein Angebot an Infrastruktur zur Daseinsvorsorge durch ein neues Investitionsprogramm, etwa als Finanzhilfe an die Länder. In diesem Rahmen könnten dünn besiedelte und strukturschwache Regionen zusätzliche Mittel für die Bereitstellung öffentlicher Infrastruktur bekommen. Denn wo wenige Menschen wohnen, sind die Grundkosten höher. Dabei werden gerade dort gute Schienen- und Straßenverbindungen, schnelles Internet oder gut erreichbare Schulen gebraucht. Auch könnten Regionen mit überdurchschnittlich vielen älteren Bürgerinnen und Bürgern einen Bonus erhalten. Dasselbe gilt für Regionen mit hoher Armut und hoher Arbeitslosigkeit.

Viertens: In ländlichen Regionen sind Kleinstädte oft Ankerorte für das Umland. Deshalb ist es wichtig, dass die Ortskerne dieser Kleinstädte attraktiv bleiben. Dieses Ziel verfolgt zum Beispiel das vom Bauministerium aufgelegte Programm „Jung kauft Alt“, mit dem Familien selbstgenutztes Eigentum erwerben können. Mittelfristig könnte die Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küstenschutz“ so weiterentwickelt werden, dass nicht nur die Land- und Forstwirtschaft gefördert wird, sondern auch die Entwicklung von Ortskernen in ländlichen Räumen.  

Strukturstärkung für gesellschaftlichen Zusammenhalt


Fünftens haben entlegene Regionen einen entscheidenden Vorteil: verfügbare Flächen. Die Neuausrichtung der weltweiten Arbeitsteilung macht es erforderlich, vormals ausgelagerte Schlüsselindustrien wieder in Deutschland anzusiedeln. Nur so kann etwa die Versorgung mit Medizinprodukten oder mit Halbleitern sichergestellt werden. Es ist wichtig, diese Flächen schon jetzt so vorzubereiten, dass später schnelle Ansiedlungen gelingen können.

Wie groß das Potenzial gleichwertiger Lebensverhältnisse für eine nachhaltige und solidarische Gesellschaft ist, zeigt eine andere Zahl aus dem Deutschland-Monitor: Während das gesamtgesellschaftliche Wir-Gefühl gering ist, hat das Gefühl von Zusammenhalt auf lokaler Ebene im Laufe des letzten Jahrzehnts zugenommen. Fast zwei Drittel stimmen der Aussage zu „Die Leute helfen sich hier gegenseitig“ und „den Leuten hier“ könne man vertrauen. Allerdings ist der lokale gesellschaftliche Zusammenhalt umso ausgeprägter, je strukturstärker eine Region ist. Ihn müssen wir weiter stärken, indem wir die Lebensqualität vor Ort verbessern. Denn klar ist: Gesellschaftlicher Zusammenhalt kommt nicht von allein. Er hat Voraussetzungen.

Die Unterstützung der Bürger dafür ist jedenfalls da: 83 Prozent der Befragten des Deutschland-Monitors sagen, dass der Staat für die Stärkung strukturschwacher Regionen mehr Geld ausgeben sollte. Höchste Zeit also, hier mutig voranzugehen – und gesellschaftliche Spaltungen auch in Zukunft zu verhindern.