„Es soll darauf geachtet werden, Ostdeutsche zu berücksichtigen“

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Staatsminister Carsten Schneider bei einer Veranstaltung

Staatsminister Carsten Schneider bei einer Veranstaltung

Foto: Marco Prosch

ZEIT: Herr Schneider, seit Jahren ist bekannt, dass es Ostdeutsche zu selten in die Führungspositionen der Republik schaffen. Sie sind das erste Mitglied einer Bundesregierung, das dieses Problem nun zu lösen versucht. Was haben Sie vor? 
Casten Schneider: Zunächst einmal haben wir ermittelt, wie viele Ostdeutsche die knapp 4000 Führungsjobs in den Bundesministerien und Bundesbehörden übernehmen. Heraus kam, dass Ostdeutsche hier mit 7,4 Prozent deutlich unterrepräsentiert sind. Einberechnet wurden alle, die auf dem Gebiet des heutigen Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern geboren sind. Rechnet man die Berliner dazu – wobei natürlich längst nicht alle Berliner Ostdeutsche sind – steigt die Quote immerhin auf 13,5 Prozent. Und je höher man in der Hierarchie der Bundesbehörden geht, umso seltener trifft man dort Ostdeutsche. Die Lage ist unbefriedigend. Deswegen geben wir als Bundesregierung nun eine Selbstverpflichtung ab. 


ZEIT: Wie sieht die aus? 
Schneider: Sowohl bei der Suche nach neuem Personal als auch bei der Beförderung soll künftig darauf geachtet werden, Ostdeutsche zu berücksichtigen. Bislang hat das Problem in der Bundesregierung überhaupt keine Rolle gespielt, obwohl es offensichtlich war. Wenn ich in die verschiedenen Ministerien komme, ist vielleicht die Sekretärin aus Brandenburg. Aber der Chef kommt mit großer Sicherheit aus Westdeutschland. Das muss sich ändern. 


ZEIT: Allerdings ist diese Selbstverpflichtung nicht mehr als eine freundliche Willenserklärung, oder? 
Schneider: Um eine Unterrepräsentanz zu beenden, müssen Sie als Erstes für das Problem sensibilisieren. Das ist in Deutschland bislang kaum geschehen. 


ZEIT: Aber Debatten darüber gab es doch einige. 
Schneider: In der Zeit im Osten ja, aber doch nicht in einer gesamtdeutschen Öffentlichkeit. Dass zum Beispiel fast keine der ostdeutschen Universitäten von ostdeutschen Rektorinnen oder Rektoren geführt werden? Weiß kaum einer. Ich hatte kürzlich die Personalverantwortlichen von einigen Dax-Konzernen hier im Kanzleramt zu Besuch. Die hatten es überhaupt nicht auf dem Schirm, dass Ostdeutsche in ihren Reihen fehlen. 


ZEIT: Gibt es eine Ost-Quote, die Sie in der Bundesverwaltung erreichen wollen? 
Schneider: Ich bin kein Fan einer starren Quote, aber ich kann Ihnen sagen, wie viele Ostdeutsche es im ganzen Land gibt: Etwa 20 Prozent. Jeder Fünfte. 


ZEIT: Also müsste jeder fünfte Führungsjob mit einem Ostdeutschen besetzt sein? 
Schneider: Das ist das Ziel. Ich wüsste auch nicht, warum Ostdeutsche dazu nicht fähig sein sollten. Die Bildungsabschlüsse sind vergleichbar. Nur die Netzwerke sind nicht vergleichbar. Wir haben nach wie vor westdeutsch geprägte Rekrutierungs-Strukturen, und die müssen wir durchbrechen. Gleichzeitig wollen wir kein Blame Game veranstalten, nicht bloß über vermeintlich westdeutsche Versäumnisse schimpfen. Dieser Beschluss der Bundesregierung ist auch eine Aufforderung an Ostdeutsche, sich etwas zuzutrauen. Von den Ministerien und den Behörden soll, wenn es nach mir geht, jetzt eine Vorreiterrolle ausgehen. 


ZEIT: Auch andere Studien haben schon nachgewiesen, dass Ostdeutsche selten in Topjobs kommen. Beim Militär lag die Quote 2020 bei null Prozent, in der Wissenschaft bei 1,5, in der Justiz bei drei, in den Medien bei 6,9 und der Wirtschaft bei 4,7 Prozent. Eine verbindliche oder freiwillige Ost-Quote wurde allerdings immer abmoderiert mit der Begründung, „ostdeutsch“ könne man heute kaum mehr definieren. Wie definieren Sie nun diese Herkunft? 
Schneider: Wir haben den Geburtsort zugrunde gelegt, weil das praktikabel und nachvollziehbar ist. Sie müssen ja mit Daten arbeiten, über die die Personalabteilungen verfügen. Aber natürlich hat dieses Verfahren eine gewisse Ungenauigkeit …


ZEIT: … Angela Merkel würde dann nicht als Ostdeutsche gelten, weil sie in Hamburg geboren ist. 
Schneider: Ja, und es gibt auch andere Fälle: Etwa Kinder ostdeutscher Eltern, die im Westen groß wurden. Auch die fallen aus der Statistik raus. Ich gehe von einer Ungenauigkeit von fünf Prozent aus. Damit müssen wir leben, können wir aber auch. Denn das eigentliche Problem ist ja nicht, dass es schwer fällt, zu definieren, wer ostdeutsch ist. Sondern dass wir ein gravierendes Elitenproblem haben. Und das wächst sich – anders als viele dachten – eben nicht im Laufe der Zeit raus. 


ZEIT: Wie haben die Ministerien und Bundesgerichte darauf reagiert, dass Sie wissen wollten, wer wo geboren ist? 
Schneider: Manche sehr gut. Im Arbeitsministerium hat die Leitung sogar die Gründung eines ostdeutschen Beschäftigtennetzwerkes unterstützt, auch um das Thema zu besprechen. Aber natürlich gibt es Institutionen, die nicht gleich den Sinn darin gesehen haben. Zum Beispiel wollten sich einige in der Justiz hinter der richterlichen Unabhängigkeit verstecken. Und ehrlich: Niemandem fällt es leicht, einzugestehen, dass die eigene Personalpolitik bestimmte Gruppen augenscheinlich bevorzugt – und sei es auch eher unbemerkt, unbewusst. Aber das, was ich hier mache, ist ein Großprojekt, das die Unterstützung des Kanzlers hat. Deswegen gab es kein Problem, die Daten zu erfassen. 


ZEIT: Warum finden Sie es überhaupt wichtig, darauf zu achten, wer Führungspositionen einnimmt? Ein weitläufiger Wunsch der Bevölkerung ist ja: Der Kompetenteste soll sich durchsetzen. 
Schneider: Wenn Sie einen Topjob neu besetzen, gibt es nie nur einen geeigneten Kandidaten oder eine geeignete Kandidatin. Es gibt immer mehrere. Wer es wird, hängt nicht nur von rationalen Kriterien ab, sondern auch von subjektiven. Das sind oft auch Bauchentscheidungen: Vertraut man einem Kandidaten? Und Vertrauen empfindet man meist gegenüber denen, die man kennt oder die einem ähnlich sind. Die zum Beispiel eine vergleichbare Ausbildung absolviert oder die gleichen Hobbys haben, die aus dem gleichen Milieu kommen. Manchmal frage ich mich, ob man mich befördern würde, wenn ich beispielsweise in einem Unternehmen oder einer Behörde arbeiten würde. 


ZEIT: Sie als ostdeutsches Arbeiterkind, meinen Sie?
Schneider: Ja, Ich habe die Polytechnische Oberschule Augusto César Sandino besucht, meine erste Fremdsprache war Russisch, ich habe Rad-Rennsport betrieben im Leistungsbereich. Wer das in einem Lebenslauf liest, könnte denken: Alles klar, der Mann hat wahrscheinlich gedopt, eine Affinität zu Russland, und er war Sozialist. Also nehme ich lieber jemand anderes. 


ZEIT: Hatten Sie persönlich den Eindruck, keine oder nur eine sehr kleine Aufstiegschance zu haben? 
Schneider: Nein, ich habe den großen Vorteil, dass ich sehr früh in den Bundestag gewählt worden bin und dort die gleichen Chancen hatte wie andere auch. Wir sehen, dass Ostdeutsche in politischen Ämtern, in die man gewählt werden muss, ganz gut vertreten sind. Und überall anders eher nicht. 


ZEIT: Sie haben vorhin gesagt, dass Westdeutsche gern Westdeutsche befördern. Reicht das schon als Erklärung für die merkwürdige Unterrepräsentanz in Elitepositionen?   
Schneider: Nein, dazu muss weiter geforscht werden, deswegen haben wir den „Elite-Monitor“ gegründet. Ich glaube, ein Grund liegt auch darin, dass sich die Lebenswege lange unterschieden haben. Ich zum Beispiel habe nach der Schule eine Banklehre gemacht – nicht, weil das mein sehnlichster Wunsch war. Ich brauchte einfach finanzielle Sicherheit, die einem ein Studium kurzfristig nicht bietet. Umwege zu gehen, das ist für Ostdeutsche lange üblich gewesen. Außerdem ist der Osten jahrelang tendenziell als zurückgebliebene, hilfsbedürftige Region stigmatisiert worden. Das hat denen, die von hier kommen, wahrscheinlich nicht genützt.


ZEIT: Dass Westdeutsche in Führungspositionen aufrücken, war nach 1990 ganz normal. Viele von diesen Aufbauhelfern empfinden den Osten inzwischen als ihre Heimat. Fragen Sie sich manchmal, ob es die gesellschaftliche Stimmung verschlechtert, wenn Sie nun wieder Herkunfts-Kriterien anlegen? 
Schneider: Die Dankbarkeit gegenüber den Aufbauhelfern ist groß. Aber leider beobachten wir auch, dass die Akzeptanz für unser politisches System im Osten geringer ist als im Westen. Das hat etwas damit zu tun, dass man sich hier als regierter Teil und weniger als mitregierender Teil des Landes empfindet. Nicht ganz zu Unrecht. Selbst in den Verwaltungen der Landesregierungen sind Ostdeutsche unterrepräsentiert. In der Justiz ist es noch krasser. Urteile werden in Deutschland in den allermeisten Fällen von gebürtigen Westdeutschen gefällt. 


ZEIT: Wie hoch ist denn die Ossi-Quote in ihrer Abteilung? 
Schneider: 33% Prozent. 


ZEIT: Und wie ist sie im Kanzleramt, in dem Sie arbeiten? 
Schneider: 16 Prozent. Höher als im Bundesschnitt, aber nicht brillant.  


ZEIT: Und bis wann wollen Sie diese freiwillige Ost-Quote von 20 Prozent in der Bundesverwaltung erreicht haben? 
Schneider: Ich kann Ihnen kein festgelegtes Zieldatum nennen. Wir werden jetzt jedes Jahr ermitteln, wie sich die Zahlen entwickeln. Und so dafür sorgen, dass das Thema nicht mehr verschwindet. Denn meine Erfahrung ist: Wenn etwas diskutiert wird, hat das eine Wirkung. Niemand will schlecht dastehen. 


ZEIT: Sie setzen auf „niedrigschwellige Maßnahmen“, wie es in Ihrem Bundeskonzept heißt, und auf „Problembewusstsein“. Was macht Sie zuversichtlich, dass das ausreichen wird?
Schneider: Politik ist auch manchmal das Gehen erster Schritte. Wenn einmal ein Pfad eingeschlagen ist, gibt es kein Zurück mehr. Übrigens wird die Bundesregierung ihre gesamte Einstellungs-Strategie überdenken. Wir sind in der Verwaltung insgesamt nicht gerade vielfältig aufgestellt. Auch Menschen mit Migrationshintergrund sind nicht genug repräsentiert. Auch das werden wir angehen. 


ZEIT: Und wenn Sie in einigen Jahren feststellen, dass sich an der Elitenzusammensetzung nichts oder nicht genug ändert – wollen Sie dann über harte Quoten nachdenken? 
Schneider: Erstmal bin ich froh, dass das Thema nicht weiter unter den Teppich gekehrt wird, sondern jetzt Priorität hat. Ich will Ostdeutsche ermutigen, die Chancen zu ergreifen, die es zuvor vielleicht nicht gegeben hat. 


ZEIT: Jetzt haben Sie sich um eine Antwort herumgedrückt: Wie denken Sie über verpflichtende Quoten? 
Schneider: Quoten müssten rechtssicher definiert sein. Wer ostdeutsch ist, müsste dann nicht ungefähr, sondern rechtssicher gesagt werden können. Und ich glaube, das geht nicht. Wir sprachen ja vorhin über die vielleicht fünf Prozent Ungenauigkeit, die auch in unserer Statistik stecken. Wenn jemand einen Vorschlag hat, wie eine Ost-Quote juristisch korrekt aussehen kann, höre ich mir den gerne an. Aber ich kenne bislang keinen. 


ZEIT: Im Grundgesetz, Artikel 36, steht, dass bei den obersten Bundesbehörden Beamte aus allen Ländern in angemessenem Verhältnis einzustellen sind. Bedeutet das nicht, dass sich die Bundesregierung viel früher um das hätte bemühen müsste, was Sie jetzt gerade tun? 
Schneider: Ja.


ZEIT: Warum hat es so lange gedauert? 
Schneider: Weil in den vergangenen Jahrzehnten der Aufbau Ost nicht genug hinterfragt wurde, sondern die jeweilige Regierung immer versucht hat, die positiven Aspekte und die Fortschritte in den Vordergrund zu stellen. Ein großer Teil der Ostdeutschen war anfangs auch nicht sonderlich rebellisch und auf eigene Interessen bedacht, sondern schlicht damit beschäftigt, durchs Leben zu kommen. Aber die gesellschaftliche Stimmung hat sich verändert. Inzwischen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass sich viele strukturelle Unterschiede seit der Wiedervereinigung nicht einfach auflösen werden. 


Das Interview erschien am 25. Januar 2023 in der Zeit. Interview: Anne Hähnig