Ein neuer Blick auf den Osten

Namensbeitrag Neue Osnabrücker Zeitung Ein neuer Blick auf den Osten

Staatsminister Carsten Schneider über die wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland,  Populismus und gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Staatsminister Carsten Schneider im Kreis mit anderen Teilnehmern

Staatsminister Carsten Schneider während der Sommerreise

Foto: Bundesfoto/Christina Czybik

Meine diesjährige Sommerreise führte mich unter anderem nach Schwedt in Brandenburg. Der wichtigste Wirtschaftszweig im Ort ist die Erdölindustrie. Die PCK-Raffinerie ist größter Arbeitgeber der Region und Auftraggeber für viele Dienstleister. Vor 2022 verarbeitete die Raffinerie Rohöl aus Russland, das über die Druschba-Pipeline in Schwedt anlandete. Diese Leitung symbolisierte einst die deutsch-sowjetische Freundschaft. Sie wurde gemeinsam von sowjetischen und DDR-Arbeitern gebaut. Wer auf „der Trasse“ war, hatte harte Arbeit, Papirossa und Wodka kennengelernt und eine Stange Geld verdient. Ein Mythos umwehte diese Männer. Sie galten etwas.

Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine war Schluss mit dem Erdölbezug. 3000 Arbeitsplätze standen auf der Kippe. Für die Kleinstadt wäre das einer Katastrophe gleichgekommen.

Mittlerweile bietet sich ein anderes Bild: Die Raffinerie produziert mit guter Auslastung. In einer gemeinsamen Kraftanstrengung ist es gelungen, Öl aus alternativen Quellen zu erwerben. Die Arbeitsplätze blieben erhalten und die Raffinerie ist weiterhin ein beliebter Ausbildungsbetrieb. Ein finanziell stark unterlegtes Zukunftsprogramm von Bund und Land soll für neue Perspektiven jenseits der Monostruktur sorgen. Dennoch merke ich bei allen Gesprächen, dass eine Unsicherheit bleibt. Die Menschen sind stolz auf das, was sie für Schwedt erreicht haben. Aber sie wissen auch, dass die Zukunft weitere Veränderungen bringt. Das verunsichert, macht auch wütend oder verzweifelt. Wenn im Bundestag vom Segen der erneuerbaren Energien geschwärmt wird, fühlen sich Viele in Schwedt übersehen.

Diese Entwicklungen sind charakteristisch für die gegenwärtige Gesamtlage, nicht nur in Ostdeutschland. Egal ob Pandemie, Klimawandel oder Kriege – die Herausforderungen sind so gewaltig, dass wir sie nicht einfach aussitzen können. Sie erfordern politische Gestaltung und gesellschaftliche Anpassungsprozesse.

Grundsätzlich ist Ostdeutschland darauf gut vorbereitet. Denn wer kennt sich besser mit Anpassungen aus als die Ostdeutschen? Nach der Wiedervereinigung haben wir innerhalb weniger Jahre einen so tiefgreifenden Wandel durchlebt wie kaum eine Gesellschaft zuvor. Quasi über Nacht sind wir von einer Diktatur zur Demokratie, von der Plan- zur Marktwirtschaft und von den östlichen Bündnisstrukturen in die EU und die NATO gewechselt.

In diesem Prozess mussten sich die Ostdeutschen neu orientieren. 75 Prozent arbeiteten wenige Jahre nach der Wende nicht mehr in demselben Betrieb wie noch 1989. Da im Osten zunächst kaum neue Jobs entstanden, zogen Viele der Arbeit in Richtung Westen hinterher. Familien brachen auseinander, Menschen fühlten sich entwurzelt und oft auch gedemütigt, wenn sie sich im neuen Westbetrieb als „Ossis“ trotz solider Ausbildung und langjähriger Berufserfahrung hintenanstellen mussten.
Solche Brüche, Neuerungen und Entwertungen sind eigentlich typisch für Migrationsbiografien. Und tatsächlich mussten die Ostdeutschen sich gewissermaßen in einem neuen Land zurechtfinden, während für die Westdeutschen das Allermeiste blieb wie gehabt.

Ostdeutsche haben Transformationserfahrung


Diese Erlebnisse bewirken, dass die Ostdeutschen zwar sehr transformationserfahren, zugleich aber besonders transformationsmüde sind. Jede Aussicht auf neue Umbrüche ruft Abwehrreflexe hervor. Das gilt generationenübergreifend. Denn bis heute sind die damaligen Demütigungen und Verlusterfahrungen, die Sorgen und Ängste regelmäßig Thema an ostdeutschen Abendbrottischen. Die Erfahrungen der 1990er Jahre gehören längst auch zum kollektiven Gedächtnis der Nachwende-Generation.
Das führt zu einer Ambivalenz zwischen ostdeutschen Erfolgen auf der einen und der Gefühlslage auf der anderen Seite. Oder anders ausgedrückt: Die ökonomische Lage in Ostdeutschland ist besser als jemals zuvor, die Stimmung aber so mies wie schon lange nicht mehr.

Seit zehn Jahren wächst die ostdeutsche Wirtschaft schneller als die westdeutsche. Unter Investoren hat sich herumgesprochen, dass Ostdeutschland ein attraktiver Standort ist. Große Firmen haben sich in jüngster Zeit hier angesiedelt. Die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie nie, Fachkräfte werden händeringend gesucht. Befragt nach den ökonomischen Zukunftsaussichten geben sich Ostdeutsche trotzdem viel pessimistischer als Westdeutsche und vor allem: pessimistischer als vor einigen Jahren.
In diese komplexe Gefühls- und Gemengelage stoßen populistische Parteien. Sie locken mit einfachen Antworten auf komplizierte Sachverhalte und dem Versprechen, dass wir uns nicht ändern müssen, sondern in die vermeintlich bessere Vergangenheit zurückkehren können. Ein Gestern, das es so nie gab.

In Wirklichkeit ist es genau dieser Populismus, der die Zukunft gefährdet: Als Boomregion und Innovationsstandort sind wir auf qualifizierte Fachkräfte, mutige Investitionen und kluge Ideengeber angewiesen. Doch kein Mensch von außerhalb will in einer Gegend arbeiten, in der Fremde nicht willkommen sind. Kein Investor wird sein Geld in einer Region lassen, in der unberechenbare Extremisten die Politik mitgestalten. Und bahnbrechende Erfindungen gelingen nur selten in einem Klima der Engstirnigkeit.

Die Wahlergebnisse der AfD bei den vergangenen Kommunal- und Europawahlen sind alarmierend. Was mir dennoch Hoffnung macht ist die zunehmende Politisierung der gesellschaftlichen Mitte und die Demonstrationen gegen rechts. Sie fanden 2024 in nahezu allen Städten Ostdeutschlands statt, mit großem Zulauf. Was für ein starkes Signal: Wir Demokratinnen und Demokraten sind klar in der Überzahl. Wir müssen nur lauter werden und gegen die rechtsextreme Gefahr zusammenstehen.

Stärker politisch einbringen


Deshalb werbe ich für mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt und dafür, dass sich die Menschen stärker politisch einbringen. Die Ostdeutschen haben Demokratie und Freiheit vor 35 Jahren mutig erkämpft. Jetzt müssen wir diese Demokratie verteidigen und mit neuem Leben füllen. Das geht nur, wenn mehr von uns in Parteien oder Gewerkschaften mitwirken – und politischen Einfluss nehmen.

Gesellschaftlicher Zusammenhalt bedeutet aber auch: Der Osten muss im gesamtdeutschen Kontext mehr Gehör finden. Egal ob in der medialen Berichterstattung oder in öffentlichen Äußerungen: Ostdeutschland kommt im öffentlichen Diskurs zu wenig vor – und wenn, dann meistens negativ umschrieben. Selten sind Wortmeldungen, die sich empathisch mit der Situation vor Ort auseinandersetzen.

Diese ist weiterhin in vielen Lebensbereichen schlechter als im Westen – trotz der genannten Errungenschaften. Der Gleichwertigkeitsbericht der Bundesregierung analysiert die Differenzen detailliert. Im Osten verdienen die Menschen durchschnittlich noch immer weniger, sie sind öfter auf Sozialleistungen angewiesen und sterben auch früher als im Westen. Wer die Nöte und auch den Frust vieler Menschen in Ostdeutschland verstehen will, muss diese Fakten kennen. Und darauf hinarbeiten, dass sie sich ändern. Zugleich gibt es Bereiche, in denen Ostdeutschland vorne liegt. Bei der Inanspruchnahme der Kindertagesbetreuung zum Beispiel. Oder beim Ausbau der erneuerbaren Energien. Auch solche Erfolgsgeschichten müssen viel öfter erzählt werden.

Kurzum, es fehlt häufig ein differenzierter Blick auf den Osten. Das liegt auch daran, dass zu wenige Ostdeutsche Führungspositionen innehaben. In Medien, Wirtschaft oder Rechtsprechung werden die Chefetagen weit überdurchschnittlich von Westdeutschen besetzt. Ostdeutsche machen 20 Prozent der deutschen Bevölkerung aus. Aber nur 8 Prozent der führenden Medienmacher und nur 4 Prozent der Wirtschaftsbosse sind in Ostdeutschland geboren. Die Bundesgerichte sind sogar nur zu 2 Prozent mit Ostdeutschen besetzt.

Die Landtagswahlen im September sind eine Bewährungsprobe für unsere ganze Gesellschaft. Wenn wir Ostdeutschlands Erfolge der vergangenen Jahre nicht gefährden wollen, müssen wir Allen den Rücken stärken, die sich im Osten für Demokratie und Freiheit einsetzen. Wir müssen ostdeutschen Sichtweisen mehr Raum geben. Und wir müssen weiter dafür kämpfen, dass man überall gut leben kann.

Der Artikel erschien zuerst am 8. August 2024 in der Neuen Osnabrücker Zeitung.