Interview mit der Frankfurter Rundschau
Im Interview mit der Frankfurter Rundschau spricht Staatsminister Carsten Schneider vor dem Mauerfall-Jubiläum über aktuelle Debatten zwischen Ost und West, die Notwendigkeit von Zuwanderung und über die Umbruchserfahrungen nach 1990. Aber zunächst geht es um Fußball.
Wie wird ein Thüringer Fan vom Westverein Eintracht Frankfurt? Das ist doch Verrat am Osten!
Auf keinen Fall. Das kommt noch aus DDR-Zeiten. Da hatten viele einen Verein im Westen, den sie gut fanden. Außerdem sind wir Thüringer den Hessen nicht nur geografisch sehr nah. Bei mir war es so, dass ich die Torwartlegende Uli Stein immer gut fand. Der hat vorher beim Hamburger SV gespielt. Dann ist er Ende der 80er Jahre nach Frankfurt „gegangen worden“. Seitdem hat mich die Eintracht gepackt. Wenn ich in der Stadt bin, versuche ich immer ein Spiel zu sehen. Aber es gibt die Bewegung auch umgekehrt. Der Trainer von Rot-Weiß Erfurt zum Beispiel stammt aus Regensburg.
Alles klar, Sie sind Experte. Was fasziniert Sie am Fußball?
Für mich ist das echte Entspannung. Da lass ich mich emotional auch mitreißen, um gemeinsam mit anderen Fans im Stadion ein Fest zu feiern. Die Kurve ist einer der wenigen klassenübergreifenden Begegnungsorte in unserem Land. Wenn ich mit meinem Hasebe-Trikot irgendwo in Deutschland privat trainiere, werde ich immer mit „Gude“ gegrüßt.
Sie sagen, dass es viele aus Thüringen und auch aus den anderen neuen Bundesländern in den Westen gezogen hat. Da hat es also geklappt mit der deutschen Einheit, oder?
Auf der einen Seite hat Westdeutschland von denjenigen, die nach dem Mauerfall abgewandert sind, stark profitiert. Zum Beispiel als Fachkräfte. Aber diese Menschen fehlen uns auf der anderen Seite. Deshalb braucht Ostdeutschland Rück- und internationale Zuwanderung für den weiteren Aufschwung in der Region. In den letzten Jahren sind zum Beispiel auch weniger Studierende aus Westdeutschland gekommen.
Die jungen Leute gehen nicht mehr zum Studieren in den Osten?
Es scheint so. Ich habe verschiedene Rektorinnen und Rektoren gefragt. Das betrifft vor allem die kleineren Hochschulstandorte. Da sind im Augenblick tausende Studienplätze frei.
Woran liegt das?
Es ist liegt sicher auch an den vielen Vorurteilen und der Unkenntnis wie gut die Studienbedingungen und wie attraktiv die Städte sind. Teilweise schreckt aber auch die in Teilen schlechte Stimmung ab.
Stichwort schlechte Stimmung: Es wird oft beklagt, dass viele Westdeutsche noch nie in Ostdeutschland waren. Ich kenne aber ehrlich gesagt viele Leute, die in Ostdeutschland Urlaub gemacht und sich – mit Verlaub – nicht so richtig willkommen gefühlt haben. Ist das Problem also vielleicht auch ein bisschen hausgemacht?
Ich versuche generell, das Interesse und die Neugier auf die Region zu wecken und dabei die Denkschablonen aufzubrechen. Zu meinem Wahlkreis gehört Weimar, dorthin hatte ich kürzlich 30 Unternehmerinnen und Unternehmer eingeladen. Ein großer Teil von ihnen war noch nie in der Stadt gewesen. Wer aber herkommt, ist beeindruckt und kommt wieder. Mag sein, dass wir Thüringer irgendwie auch besonders nett sind. Aber es ist natürlich auch die Frage, wo man wohnt. Von Freiburg oder Saarbrücken aus ist Frankreich halt viel näher. Aber wir leben alle in einem gemeinsamen Land und es wäre schön, wenn wir alle ein bisschen offener füreinander wären.
Und die Westdeutschen sind das nicht?
Ich glaube, den meisten Westdeutschen ist der Osten grundsätzlich erst mal egal. Die Frage, ob es überhaupt noch Probleme bei der deutsch-deutschen Einheit gibt, bekomme ich als Ostbeauftragter wirklich nur von Westdeutschen gestellt. Sehr selten von Ostdeutschen. Wir haben im Umfeld von Wahlen immer eine erhöhte Aufmerksamkeit. Wahlergebnisse oder auch Umfragen mit besonderen Ausschlägen werden dann gern als ostdeutsches Phänomen relativiert. Dabei ist der Osten eher ein Seismograf für gesellschaftliche Entwicklungen, die das ganze Land betreffen.
Was können Sie da als Ostbeauftragter bewirken?
Ich versuche immer den Leuten zu vermitteln, dass sie sich keinen Opfermythos einreden lassen. Ich sage Ihnen: Ihr seid stark, ihr habt es hingekriegt, dass dieses Land jetzt anders aussieht, als es vor 1989 war. Und Ostdeutschland hat viel eingebracht: erneuerbare Energien, gut ausgebildete Arbeitskräfte oder ein modernes Frauenbild. Dass jetzt viele andere europäische Länder auf Deutschland gucken, uns vertrauen und erwarten, dass wir international mehr Verantwortung übernehmen, ist ja kein Zufall. Wir sind nach 1989/90 ist ein neues Land geworden, und daran haben die Ostdeutschen entscheidend mitgewirkt.
Also ist Mut machen ihre Aufgabe?
Ich finde auch, dass wir im Osten noch mehr Weltoffenheit brauchen. Da sind mir einige Leute ein bisschen zu muffelig. Das resultiert aus den Jahrzehnten von Abwertungserfahrungen, die auch mit Heimatverlust einherging. Ganz viele Eltern haben ihre Kinder in den Westen verloren. Davon ist in Ostdeutschland seit den neunziger Jahren fast jede Familie betroffen. Ganz viele sind nicht mehr da. Und die Alten fühlen sich einsam.
Wie erklären Sie sich, dass sich immer noch viele Menschen im Osten als Deutsche zweiter Klasse fühlen – 35 Jahre nach dem Mauerfall?
Die jetzige politische Situation in Ostdeutschland ist das Ergebnis der letzten 35 Jahre. Da hat sich vieles aufgestaut und bricht sich nun Bahn.
Wie können sich gerade Junge, die die DDR nie erlebt haben, so fühlen?
Das tun sie auch aus einem Gefühl des Trotzes heraus. Sie haben erlebt oder zumindest gehört, wie es ihren Eltern ergangen ist. Das Elternhaus ist immer eine starke Prägung. Und natürlich sammeln sie auch eigene Erfahrungen. Viele Jüngere nehmen sich in Westdeutschland das erste Mal als Ostdeutsche wahr.
Also ist der Osten eine westdeutsche Erfindung, wie es Dirk Oschmann in seinem ja schon sehr larmoyanten Bestseller formuliert?
Das sehe ich nicht so. Ich kümmere mich nicht um Literaturwissenschaftler, sondern um echte Literaten, die Ostdeutschland treffender beschreiben. Und da fallen mir Anne Rabe, Lukas Rietzschel, aber auch Clemens Meyer ein. Oder nehmen Sie Peter Richter, der ein tolles Buch über das Lebensgefühl 1989/90 geschrieben hat. Und die machen das nicht larmoyant, im Gegenteil. Das Ostgefühl kommt auch aus den Fußballkurven.
Der Schlachtruf „Ost-, Ost-, Ostdeutschland“.
Ja, das ist auch ironisierend gemeint. Wenn jahrzehntelang über dich gelacht wurde und du als Ostdeutscher eine negative Zuschreibung erfahren hast, dann reagierst du so. In Deutschland dürfen sie über nichts mehr Witze machen, aber über Ostdeutsche schon.
Das widerspreche ich heftig. Man darf über Ostdeutsche keine Witze machen und als Wessi darf man über Ostdeutschland schon gar nichts mehr sagen. Weil man das nicht erlebt hat und sich sowieso nicht auskennt. Deswegen sagen viele Wessis gar nichts mehr. Vielleicht aus Gleichgültigkeit, wie Sie vorhin sagten. Vielleicht auch, weil man mit der Ostalgie von Oschmann oder der Autorin Katja Hoyer nicht anfangen kann.
Also, dass Westdeutsche nichts über Ostdeutschland sagen dürfen, ist Quatsch. Die Zeiten von Ostalgie sind lange vorbei und einem neuen Selbstbewusstsein gewichen. Aber die alten Verletzungen nach Zurückweisungen oder Abwertungen sind immer noch präsent. Und Ossis, die in den Westen gehen, geben sich entweder nicht zu erkennen, oder müssen immer noch mit Bananen-Witzen leben. Das sitzt tief.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Die Westdeutschen dürfen sich gern stärker zu Wort melden und sollten nicht mit ihrer eigenen Meinung hinter dem Berg halten. Wir können mehr Streit aushalten. Sonst erstarken nur die Vorurteile.
Sie würden dafür plädieren, dass wir einfach mal wieder ein bisschen mehr Streitkultur brauchen zwischen Ost und West, dass wir ein bisschen mehr diskutieren?
Ja, denn Streit zeigt, dass gegenseitiges Interesse vorhanden ist. Jetzt scheint es ja so, dass Einheitsfragen eher eine ostdeutsche Angelegenheit sind. Wenn im Bundestag Debatten zu Ost, West und zur Einheit anstehen, dann sage ich immer, es muss mal ein westdeutscher Abgeordneter zu diesem Thema sprechen und nicht immer nur Ostdeutsche. Und wir Ostdeutschen müssen dann auch aushalten, wenn Gegenwind kommt.
Das Interview erschien am 8. November 2024 in der Frankfurter Rundschau.