Rede Ostdeutschland 2030 – Gemeinsam auf dem Weg
Bei der Veranstaltung „Ostdeutschland 2030 – Gemeinsam auf dem Weg“ in Halle / Saale spricht Staatsminister Carsten Schneider über die Zukunftsregion Ostdeutschland aber auch über die Herausforderungen.
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, Dr. Reiner Haseloff, Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt)
sehr geehrter Herr Bürgermeister, (Egbert Geier, Bürgermeister der Stadt Halle),
sehr geehrter Herr Prof. Ruchniewicz, das ist der Beauftragte der polnischen Regierung für die deutsch-polnische Zusammenarbeit)
meine sehr verehrten Abgeordnete aus dem Bundestag, aus den Landtagen, aus den kommunalen Parlamenten, meine Damen und Herren der überwiegend ostdeutschen Zivilgesellschaft!
Ganz herzlich willkommen! Es ist toll, dass wir gemeinsam diesen schönen Samstagsvormittag und den Nachmittag bespielen dürfen. Ich freue mich!
Ostdeutschland 230 – unter diesem Titel habe ich schon letztes Jahr nach Leipzig eingeladen.
Wir haben über „Heimat und Zukunft“ diskutiert und waren uns einig: Ostdeutschland ist eine Bereicherung für ganz Deutschland. Und eine Zukunftsregion mit ungeheurem Potenzial.
Es war schön zu sehen, wie viele Menschen sich für unsere Region einsetzen: In der Stadt und im Dorf, in der Politik ebenso wie in der Wirtschaft, Kultur oder im Sport. Ich begrüße Sie heute hier alle. Letztes Jahr in Leipzig konnten Sie, konnte ich ein neues ostdeutsches Selbstbewusstsein erleben. Die Begegnungen und Diskussionen - sie haben mir Mut gemacht.
Heute, kaum ein Jahr später: „Ostdeutschland 2030 reloaded“. Eine Frage soll dabei im Mittelpunkt stehen, die uns mehr denn je umtreibt: Wie gelingt es uns, als Gesellschaft zusammenzubleiben? Wie können wir die ostdeutsche Geschichte GEMEINSAM weiterschreiben?
Liebe Gäste,
die Landtagswahlen der letzten Wochen – in Thüringen, Sachsen und Brandenburg – sie waren eine Zäsur. Erstmals ist eine rechtsextremistische Partei stärkste Kraft in einem – in meinem! – Bundesland geworden. Sie verfügt jetzt über Sperrminoritäten in den Landtagen von Brandenburg und Thüringen. Fast jede zweite Wählerstimme ist an eine populistische Partei gegangen, während die Parteien der politischen Mitte herbe Verluste eingefahren haben.
Was sich aus den Wahlen positiv ableiten lässt, ist: Die Wahlbeteiligung war hoch. In Sachsen und Brandenburg lag sie sogar auf dem höchsten Stand seit der Wiedervereinigung.
Will heißen: Die Demokratie, sie ist lebendig. Die Menschen in Ostdeutschland wollen sich einbringen, sie wollen gehört werden. Und dafür haben sie das Königsrecht der Demokratie genutzt. Dennoch lassen mich die Wahlergebnisse, und auch die Erfahrungen des Wahlkampfes mit einer Ambivalenz zurück.
Als Beauftragter der Bundesregierung bin ich ständig in den ostdeutschen Ländern unterwegs. Und Vieles von dem, was ich sehe, erfüllt mich mit Stolz und vor allem: mit ganz viel Zuversicht. Wir haben eine gute wirtschaftliche Entwicklung in den vergangenen Jahren genommen: Die Wirtschaft wächst schneller als im Westen des Landes. Und in- und ausländische Investoren wissen, dass hier Ostdeutschland ein attraktiver Standort ist. Auf der Höhe der Zeit; als Spitzenreiter beim Ausbau der erneuerbaren Energien. Mit gut qualifizierten und hoch motivierten Arbeitskräften. Mit exzellenten Forschungseinrichtungen. Mit hervorragender Infrastruktur, und: Emanzipation! Gleichstellung! Mit exzellenten Voraussetzungen durch Schulen und Kitaplätze. All das sind Pfründe. Und Arbeitslosigkeit ist nicht mehr das Thema, sondern ArbeitsKRÄFTElosigkeit ist das Kernthema. Auch die Lebensumstände haben sich seit der Wiedervereinigung massiv verbessert. Massiv! Nichts ist mehr zu sehen von der bröckelnden Bausubstanz und der maroden Infrastruktur der DDR. Die Umwelt – sie hat sich erholt. 1989 betrug die Schwefeldioxid-Belastung in Bitterfeld 272 Mikrogramm pro Kubikmeter. Heute: Tagesmittelwert 2 Mikrogramm. Die Saale, dieser wunderschöne Fluss – man kann ihn auch wieder riechen. Und so boomt im Osten der Tourismus. Menschen kommen gerne hierher, um die schöne Natur und die frische Luft zu genießen, oder um durch historische Städte zu flanieren wie Halle eine ist. Wir haben nächstes Jahr 2025 Chemnitz als Europäische Kulturhauptstadt!
Dieser Wandel, er macht etwas mit den Leuten: Wenn ich in Ostdeutschland unterwegs bin, erlebe ich Menschen, die stolz sind auf das, was sie erreicht und aufgebaut haben. Und ich sage: Sie können auch verdammt stolz darauf sein!
Denn sie haben ihren Wohlstand nicht geerbt. Alles das, was wir heute bewundern können, haben sich die Menschen in den vergangenen drei Jahrzehnten hart erarbeitet. Wir haben das mit viel Fleiß und Entbehrungen in den Nachwendejahren aufgebaut.
Die „Ostscham“ von früher, sie ist in gewisser Weise einem „Oststolz“ gewichen. Gerade junge Menschen fühlen eine große Verbundenheit zu ihrer Herkunftsregion. Sie wollen ihrer Heimat die Treue halten und sich dort eine berufliche und familiäre Existenz aufbauen. Das ist die eine Seite der Medaille. Das Ostdeutschland, das ich liebe und bewundere und in dem ich gern lebe. Das das ganze Land, die ganze Bundesrepublik nach vorn bringt. Doch es gibt auch das andere: das Ostdeutschland, von dem allerorten derzeit berichtet wird. Nicht als ein Ort der Chance und des Aufbruchs. Sondern als eine Gegend der Wut, der Abschottung und der Empathielosigkeit.
Jedes Jahr zeichne ich im Wettbewerb „machen!“ gemeinnützige Organisationen und Vereine aus, die in ihrer Nachbarschaft tolle Projekte durchführen. Sie kommen alle aus dem ländlichen Raum. Sie bringen Lebensqualität in die Dörfer und die Kleinstädte. Sie stärken den Zusammenhalt und füllen so unsere Demokratie. Aus Gesprächen mit vielen Preisträgerinnen und Preisträgern weiß ich: Der Druck auf Menschen, die sich für die Gemeinschaft und eine tolerante Gesellschaft einsetzen, hat in den letzten Jahren massiv zugenommen. Sie müssen gegen Widerstände kämpfen, werden immer öfter bedroht, verbal und manchmal gar physisch. Diese Attacken sind auch Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitikern nicht fremd, die ich heute hier alle begrüße. Wir haben bereits vereinzelte Fälle, in denen profilierte Politikerinnen oder Politiker ihre Ämter niederlegen und sich aus der Politik zurückziehen, um sich und ihre Familien zu schützen. Besonders erschüttert hat mich ein Gespräch mit ostdeutschen Schülerräten, die ich vor einigen Monaten ins Kanzleramt eingeladen hatte. Sie haben mir davon berichtet, dass in den Schulen rechte Parolen längst eine Selbstverständlichkeit, manchmal gar Mainstream geworden sind. Hakenkreuze auf Toiletten, Hitlergrüße auf dem Pausenhof oder fremdenfeindliche Verkleidungen im Karneval. Stellen Sie sich vor, wie viel Mut und Kraft es einen jungen Menschen kostet, sich diesen Parolen entgegenzustellen. Wenn er damit ganz alleine ist, da selbst das pädagogische Personal oder Schulleitungen lieber wegschauen, um Konflikte zu vermeiden. Diese jungen Menschen verdienen unser aller Respekt und unsere Rückendeckung.
Liebe Gäste,
in Thüringen erleben wir gerade, wie die AfD ihre Position missbraucht hat, um das Parlament lahmzulegen und demokratische Verfahren und Institutionen zu diskreditieren. Ich bin nun heute nicht in Erfurt, sondern hier in Halle. Und Sie haben das Urteil des Landesverfassungsgerichts von gestern gehört, dass diesem Missbrauch der Institutionen einen Riegel vorgeschoben hat. Ich bin nicht bereit, Ostdeutschland rechtsextremem Machtstreben und populistischem Chaos zu überlassen!
Ich möchte stattdessen die Menschen stärken, die sich für eine tolerante und eine vielfältige Heimat einsetzen. Diese Menschen sind in der Mehrheit. Die Wahlergebnisse sind klar: Die übergroße Mehrheit der Ostdeutschen hat sich NICHT für eine rechtsextreme Politikoption entschieden. Auch wenn sie stärker geworden sind. Doch diese Mehrheit – sie ist viel zu leise. Sie wird übertönt von dem, Getöse der rechten Demagogen.
Deshalb will ich heute mit Ihnen darüber reden, wie wir denjenigen, die die Gesellschaft zusammenhalten, wieder mehr Gehör und Durchschlagskraft verschaffen können. Wie stärken wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt? Das erwarten auch die Bürgerinnen und Bürger von uns. Gerade erst hat der neue Deutschland-Monitor gezeigt, dass viele Menschen den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Gefahr sehen und sich ein stärkeres Wir-Gefühl wünschen.
Wir bieten heute Dialogforen an, die sich verschiedenen Schlüsselfragen widmen. Wir schauen auf das Verhältnis von Ost- und Westdeutschland und darauf, inwieweit es bereits zu einer Angleichung der Lebensverhältnisse gekommen ist. Wir wollen darüber diskutieren, wie Ostdeutschland im Spiegel der Medien gesehen wird. Und wir werfen einen Blick auf die Sichtbarkeit und Repräsentation von Ostdeutschen in wichtigen Ämtern und Positionen. Da, wo es um Macht und Teilhabe geht. Das sind entscheidende Themen. Denn auch 35 Jahre nach der Friedlichen Revolution fühlen sich viele Ostdeutsche als Bürger zweiter Klasse - fast zwei Drittel. Das ist kein Zufall. Im Gleichwertigkeitsbericht der Bundesregierung steht es schwarz auf weiß: Im Osten verdienen die Menschen durchschnittlich noch immer weniger, sie sind öfter auf Sozialleistungen angewiesen und sterben auch früher als im Westen. Auch die Vermögensunterschiede sind enorm. Und der Elitenmonitor zeigt: Nur 8 Prozent der führenden Medienmacher – bei 20% Bevölkerungsanteil der Ostdeutschen – und nur 4 Prozent der Wirtschaftsbosse dieser Republik sind tatsächlich in Ostdeutschland geboren. Die Gerichte sind sogar nur zu 2 Prozent mit Ostdeutschen besetzt. Das sind Aufregerthemen im Osten. Und es sind Herausforderungen, die wir von der demokratischen Mitte aus schnell und glaubhaft angehen müssen. Wir dürfen es nicht den Populisten überlassen, diese Ungerechtigkeiten zu adressieren und auszuschlachten.
In einem weiteren Dialogforum diskutieren wir darüber, wie robust unsere Demokratie ist und welche Erwartungen die Menschen an unsere Staatsform haben. Demokratie lebt von Beteiligung. Davon, dass sich Menschen auf allen Ebenen einbringen, mitdiskutieren und Verantwortung übernehmen. Doch viele Menschen in Ostdeutschland haben mit politischen Großorganisationen immer noch Berührungsängste. Und viele tragen ihren Protest lieber direkt auf die Straße. Das hat historische Gründe. Schließlich haben die Massendemonstrationen im Jahr 1989 geradezu historische Veränderungen ausgelöst. Wir werden die Feierlichkeiten rund um das 35. Jubiläum der Friedlichen Revolution zum Anlass nehmen, uns an diesen wichtigen Moment der Selbstermächtigung zu erinnern. Allerdings: Die Umstände heute sind gänzlich andere als 1989. Auch in einer Demokratie ist Protest gut und wichtig. Doch wenn er erfolgreich sein will, muss er über kurz oder lang auch in Engagement münden. Sonst geraten wir in einen Zustand, den der Soziologe Steffen Mau als „Einforderungsdemokratie“ bezeichnet.
In einer Einforderungsdemokratie geht es nicht um demokratischen Interessenausgleich und Kompromisse. Stattdessen erheben die Einzelnen ihre eignen Interessen zum Maß aller Dinge. Werden diese Interessen von der Politik dann nicht eins zu eins umgesetzt, ist die Enttäuschung programmiert. Aus der Enttäuschung wird Verbitterung und Entfremdung, Vertrauen geht verloren. Genau das ist der Nährboden für Populisten unterschiedlicher Couleur. Wir müssen also Vertrauen in demokratische Prozesse wiederherstellen. Indem wir die drängenden Sorgen der Menschen vor Migration, vor Krieg, vor wirtschaftlichem Abstieg ernst nehmen. Indem wir diese Sorgen adressieren und gute, tragfähige Lösungen entwickeln. Aber auch: Indem wir alles daransetzen, die Bürgerinnen und Bürger wieder stärker zu aktivieren. Für ein konstruktives Engagement in der Gemeinschaft – im Verein, in der Gewerkschaft, in einer Partei, in Arbeitgeberorganisationen. An einem Ort also, an dem die Menschen Selbstwirksamkeit erfahren und Zusammenhalt praktizieren.
Diese Diskussion – das ist mir ganz wichtig – sollte keine rein ostdeutsche Debatte bleiben. Denn der Vertrauensverlust der Bürgerinnen und Bürger trifft die Parteien der Mitte in GANZ Deutschland. Ostdeutschland ist hier kein Sonderfall, sondern eher ein Seismograf für Entwicklungen, die es auch in anderen Teilen des Landes gibt. Und die wir in anderen europäischen Ländern zum Teil drastischer erleben. Deshalb haben wir ein weiteres Dialogforum eingerichtet, bei dem wir zu unseren östlichen Nachbarn schauen wollen. Ich freue mich, dass wir den neuen polnischen Regierungsbeauftragten für die deutsch-polnischen Beziehungen, Professor Ruchniewicz, als einen der Impulsgeber für dieses Forum gewinnen konnten. Ein herzliches Willkommen für Sie!
Der Mauerfall 1989, er wäre ohne die zehn Millionen Polinnen und Polen, die sich in der Solidarnosc-Bewegung engagiert und ihr Leben riskiert haben, in den achtziger Jahren, nicht möglich gewesen. Und er wäre auch nicht möglich gewesen ohne den Schnitt durch den eisernen Vorhang durch die Ungarinnen und Ungarn und die Solidarität auch der Tschechinnen und Tschechen. Vielen herzlichen Dank dafür! Und wir haben in Polen bei den letzten Parlamentswahlen beobachtet, wie es gelingen kann, einer dominanten national-populistischen Bewegung demokratisch entschlossen entgegen zu treten. Ich freue mich auf den Dialog darüber, wie dies in der Gesellschaft passiert ist und welche Auswirkungen es gibt.
Liebe Gäste,
als Ort für diesen wichtigen Austausch ist Halle prädestiniert. Wir sind hier in der Stadt, die das Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation beherbergen wird. Im Zukunftszentrum wollen wir Debatten über die Wiedervereinigung und die Herausforderungen der Transformation GEMEINSAM führen. Nicht nur unter Ostdeutschen, sondern mit Deutschen aus allen Landesteilen und mit den Bürgerinnen und Bürgern unserer Nachbarstaaten.
Lieber Reiner Haseloff, es ist gut zu wissen, dass wir das Land Sachsen-Anhalt im Gründungsprozess so eng an unserer Seite haben. So wie wir überhaupt in vielen Fragen eng zusammenarbeiten. Pragmatisch, lösungsorientiert, für ein modernes Sachsen-Anhalt. Und ich danke der Stadt Halle, lieber Egbert Geier. Dafür, dass sich Verwaltung und Stadtgesellschaft mit so viel Enthusiasmus und Verve für dieses Zentrum einsetzt.
Ich bin sicher: Es wird den europäischen und den deutschen Diskurs bereichern.
Und ich lade Sie ein, liebe Gäste, sich in die Arbeit des Zukunftszentrums einzubringen.
Für ein selbstbewusstes Ostdeutschland.
Für ein selbstbewusstes Deutschland.
Für eine starke Europäische Union.
Vielen Dank.