„Lasst endlich mal ein paar Ostdeutsche durch!“

Interview mit der Rheinischen Post „Lasst endlich mal ein paar Ostdeutsche durch!“

Im Interview mit der Rheinischen Post spricht Staatsminister Carsten Schneider über die Ergebnisse der Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen, den Unterschied zwischen Meinungsfreiheit und Meinungsklima und fehlender Repräsentation von Ostdeutschen in Führungspositionen.

Staatsminister Carsten Schneider im Gespräch

Staatsminister Carsten Schneider

Foto: Bundesfoto/Bernd Lammel

Herr Schneider, machen Sie sich Sorgen um Ostdeutschland?
Nein.

Warum nicht?
Sie spielen auf die Wahlergebnisse in Thüringen und Sachsen an. Dass mir das Ergebnis nicht gefällt, ist klar. Aber es haben seit 1990 selten so viele Menschen an den Wahlen teilgenommen. Die hohe Wahlbeteiligung zeigt, unsere Demokratie ist lebendig.

Sind die Wahlergebnisse mit hohen Werten für die AfD nicht auch ein Zeichen von Politikverdrossenheit?
Nein, eher Unzufriedenheit und politischer Neuverortung. Ich finde den Begriff von der Politikverdrossenheit nicht passend. Es geht um Unzufriedenheit mit politischen Entscheidungen, auch um die fehlende Repräsentation von Ostdeutschen in Wirtschaft, Medien, Wissenschaft, Justiz und Politik. Hinzu kommt eine Stimmung, mehr das Dunkle als das Helle zu sehen. In Ost und West.

Was sind die Gründe, weshalb Sie sich keine Sorgen um Ostdeutschland machen?
Mir ist wichtig, gegen das Denken in Schwarz-Weiß anzugehen. Im Westen glauben manche, der gesamte Osten sei braun. Das ist falsch. Der Osten ist vielfältig. Man darf deshalb nicht pauschal urteilen, davon profitieren die Populisten. Wir müssen die stille Mitte stärken. Die Wahlen fanden in einer extrem aufgewühlten gesellschaftlichen Stimmung statt, die es auch im Westen gibt.

Was meinen Sie?
Es gab in den letzten Jahren große Veränderungen: 2015 die Flüchtlingssituation, dann Corona, dann der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Alle drei Krisen haben nicht nur die Menschen verunsichert, sondern auch den politischen Diskurs unübersichtlicher und aufgeregter gemacht. Das war so in Ost wie West. Mit ein paar wesentlichen Unterschieden: Im Osten treffen diese Entwicklungen auf ganz persönliche Erfahrungen mit gesellschaftlichen Umbrüchen und biografischen Entwertungen. Die Menschen hier sind rein finanziell deutlich schlechter für unsichere Zeiten gerüstet und die Parteien der demokratischen Mitte sind weniger verwurzelt.

Das klingt, als hätten Sie solche Wahlergebnisse schon eingepreist.
Die Ergebnisse in Sachsen und Thüringen haben mich nicht überrascht. In den vergangenen fünf Jahren hat die AfD zum Beispiel in Thüringen ihre vielen Mandate genutzt, um sich in der Gesellschaft stärker zu verankern. Dort gab es außerdem eine Minderheitsregierung, die nicht nur keine Parlamentsmehrheit hatte, sondern die in dem kleinstädtisch und ländlich geprägten Bundesland zu stark identitätspolitische Themen bearbeitet hat.

Haben Sie ein Beispiel für diese Identitätspolitik?
Fragen der politischen Kultur oder Sprache sind für die übergroße Mehrheit der Menschen im Osten – und im Westen ¬– weniger relevant als konkrete Probleme wie zum Beispiel Lehrermangel oder fehlende soziale Infrastruktur vor Ort.

Müssen wir uns damit abfinden, dass Thüringen auf absehbare Zeit von der AfD geprägt bleibt?
Nach Revolution ist den Leuten in Thüringen jedenfalls nicht zumute. Wenn die jetzt gewählten Leute, außer der AfD, vernünftig zusammenarbeiten, kann das Land wieder zur Ruhe kommen. Das geht aber nur, wenn sie in Thüringen nicht versuchen, Außenpolitik zu machen, sondern sich um Bildung und Infrastruktur kümmern.

In Ostdeutschland hat sich aber auch schon viel getan, viel wurde aufgebaut, Universitäten und Unternehmen. Wo kommt dieser Hang zu extremistischen Parteien her?
Ein relevanter Teil der Bevölkerung wählt die AfD aufgrund ihrer extremistischen Positionen, viele aber nach wie vor aus Protest. Der Diskurs unter den Leuten ist teilweise weiter rechts als in anderen Regionen. Gleichzeitig halten sich die meisten Menschen in der Öffentlichkeit mit politischen Positionen zurück, das macht es von außen sehr schwer einschätzbar.

Ein Relikt aus alten Zeiten, weil in der DDR politischer Widerspruch bestraft wurde?
Viele verwechseln Meinungsfreiheit mit Meinungsklima.

Was meinen Sie mit Meinungsklima?
Mit Meinungsklima meine ich die bundesweit veröffentlichte Meinung zum Beispiel zu Flüchtlingen. Die deckt sich nicht mit den Erfahrungen und der Lebensrealität im Thüringer Wald. Die Leute haben den Eindruck, sie kommen mit ihrer Wahrnehmung im öffentlichen Diskurs gar nicht vor. Auch das gilt nicht nur im Osten.

Kann das Bündnis Sahra Wagenknecht eine bleibende Kraft werden?
Ich vermute eher ein One-Hit-Wonder. Sahra Wagenknecht ist eine Polarisierungsunternehmerin, der die Fähigkeit fehlt, Menschen für den Fortschritt zu begeistern und pragmatisch konkrete Probleme zu lösen. Das BSW ist keine Zukunftspartei. Es ist eine zentralistisch geführte Privatpartei mit wenigen Mitgliedern, die nun zeigen muss, ob sie den Vertrauensvorschuss der Wähler für verantwortliche Landespolitik rechtfertigen kann.

Thüringens AfD-Landeschef Björn Höcke ist mit faschistischen Positionen nicht nur ganz rechts, er ist auch Westdeutscher. Warum konnte er so viele Stimmen bekommen?
Die Frage ist interessant. Im Westen könnte man sie gar nicht stellen, da es kaum Ostdeutsche gibt, die in Westdeutschland beispielsweise Minister geworden sind. Die AfD versucht schon länger, die Stimmung in Ostdeutschland populistisch auszubeuten. In den anderen Parteien hat die besondere Lage im Osten zu lange keine Rolle gespielt. Das müssen alle anderen Parteien selbstkritisch zur Kenntnis nehmen. Wie die AfD versucht, den Stolz auf die Friedliche Revolution vor 35 Jahren für ihre Propaganda zu nutzen ist gefährlich. Das dürfen wir nicht zulassen.

Hängt die von Ihnen beschriebene Wahrnehmungslücke ostdeutscher Positionen auch damit zusammen, dass wenige Ostdeutsche in den Chef-Etagen von Unternehmen und Parteien vertreten sind?
Auch. Und wenn sie nicht gehört werden, ziehen sie sich zurück. Ich vergleiche das immer mit der Regional-Liga Nordost im Fußball. Die ist heute bis auf wenige Ausnahmen mit der DDR-Oberliga fast identisch.  Wir spielen jetzt wieder untereinander. Mit Blick auf den deutsch-deutschen Dialog ist es aber saugefährlich, wenn sich die Leute in ihren eigenen Raum zurückziehen und kein Interesse mehr am Austausch haben. Im Westen herrscht ja auch eher ein ausgeprägtes Desinteresse am Osten.

Brauchen wir eine Ost-Quote?
Nein. Wir haben schließlich etwas einzubringen. Eine Quote wirkt so, als müsse man jemandem helfen.

Aber wenn der westdeutsche Markus den westdeutschen Markus einstellt, hat der Ostdeutsche keine Chance.
Deswegen spreche ich das Thema an, wo es so ist und sage ihnen, lasst endlich mal ein paar Ostdeutsche durch! Es hat nämlich einen großen Mehrwert, wenn ostdeutsche Sichtweisen vorkommen. Die Bundesregierung hat das erstmals zum Thema gemacht und ein Konzept beschlossen, mit dem wir den Anteil von Ostdeutschen in Führungspositionen des Bundes maßgeblich erhöhen wollen. Eine aktuelle Auswertung zeigt: mit ersten Erfolgen.  

Was ist Ihr Rezept, um die großen politischen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland anzugleichen und Rechtsextremen den Wind aus den Segeln zu nehmen?
Ich mache mir keine Illusionen, dass insbesondere die AfD mit ihren Erfolgen bei jungen Menschen auf absehbare Zeit einen gewissen Rückhalt haben wird. Mit der Ansiedlung von Unternehmen, exzellenter Forschung und anderen Maßnahmen der Standortpolitik kommt man dagegen kurzfristig nur bedingt an.

Das klingt düster.
Es wird vermutlich mindestens ein Jahrzehnt dauern, bis eine Partei wie die AfD wieder von der Bildfläche verschwindet. Entscheidend wird sein, ob die Parteien der demokratischen Mitte die großen politischen Herausforderungen wie den Strukturwandel bewältigen – und wie sie strategisch mit der AfD umgehen.

War es vor dem Hintergrund so klug, dass der Bundeskanzler die Stationierung von US-Raketen einfach mit den USA beschlossen hat und es keine Debatte darüber gab?
Der Bundeskanzler hat diese Entscheidungen gründlich abgewogen. Und die Debatte findet ja jetzt statt.

Im Ernst, braucht es da nicht mehr Aufklärung drüber, um die Menschen mitzunehmen?
Unbedingt, denn es fehlt an einer gesellschaftlichen Debatte über unsere Rolle in der Welt. Aber die Sorgen vor einer Eskalation mit Russland und einem Krieg haben die Menschen in Ost- und Westdeutschland gleichermaßen.

An diesem Sonntag wird in Brandenburg ein neuer Landtag gewählt, für SPD-Ministerpräsident Dietmar Woidke kann es knapp werden.
Ich bin sehr zuversichtlich, dass Dietmar Woidke mit der SPD wieder stärkste Kraft wird.
Sollte die AfD vor ihm liegen, will er aufhören.

Wird es dann auch Auswirkungen für den Bund geben?
Das sehe ich nicht.

Sie stehen hinter Bundeskanzler Olaf Scholz, egal wie die Wahl in Brandenburg ausgeht?
Absolut.

Und Sie wünschen sich Scholz auch wieder als Kanzlerkandidat?
Ja, mit ihm haben wir die besten Chancen. Olaf Scholz agiert besonnen mit langjähriger Regierungserfahrung, Friedrich Merz ist das Gegenteil.

Im letzten Bundestagswahlkampf konnte Scholz gerade in Ostdeutschland punkten, jetzt wird er dort teils ausgepfiffen. Wie soll er das noch einmal drehen?
Ich bin zuversichtlich, dass das gelingen kann. Es ist die Koalition, die wegen der öffentlichen Streitereien keine guten Zustimmungswerte hat. Die Bilanz des Kanzlers kann sich aber sehen lassen und das wird sich im Wahlkampf auch in Ostdeutschland ganz deutlich zeigen.

Das Interview erschien am 20.09.2024 in der Rheinischen Post .