„Ich trete dafür ein, sich nicht als Opfer zu verstehen“

Ostbeauftragter Carsten Schneider bei einer Rede

Ostbeauftragter Carsten Schneider bei einer Rede

Foto: Henning Schacht

DIE ZEIT: Herr Oschmann, Sie haben ein Buch geschrieben namens „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“. Sie wehren sich darin gegen die Zuschreibung, ein „Ostdeutscher“ zu sein – und den Ostbeauftragten der Bundesregierung wollen Sie auch abschaffen. Ihr Buch war so erfolgreich, dass der Ostbeauftragte Ihnen jetzt hier persönlich gegenüber sitzt. Fühlt sich das komisch an?
Dirk Oschmann: Nein, komisch finde ich das nicht. Und ich habe ja nur etwas gegen das Amt, nicht gegen Herrn Schneider. Aber mir hat neulich ein Freund, der seit 30 Jahren in den USA lebt, berichtet, dass es dort ein Bureau of Indian Affairs gibt. Also quasi einen, wenn man so sagen darf, „Indianerbeauftragten“. Na, und Deutschland hat eben einen Ostbeauftragten. 
Carsten Schneider: Oh weh, das ist sehr zugespitzt. Ich nehme Ihr Buch, Herr Oschmann, als eine wütende Replik auf Ihre Lebenserfahrung wahr. Ich kann mir vorstellen, dass Sie, wie viele, Erfahrungen von Erniedrigung und Ungerechtigkeit gemacht haben. Aber ich würde als Ostdeutscher sagen: So klein mache ich mich nicht, dass ich meine Herkunft als Makel empfinde.
Oschmann: Ich sehe nicht, dass wir uns klein machen – ich sehe, dass wir klein gemacht werden. Was mich persönlich angeht: Ich bin in Thüringen aufgewachsen und Professor geworden. Ich könnte sagen: So what? Was gehen mich die Probleme des sogenannten Ostens an, die schlechteren Aufstiegschancen von Menschen in Thüringen oder Sachsen? Oder die geringe Eigentumsquote? Aber ich empfinde einen unglaublichen Zorn über diese Ungerechtigkeiten. Zorn, der sich über Jahrzehnte aufgestaut hat. Deshalb mein Buch.


ZEIT: Warum ist der Osten in Ihren Augen eine westdeutsche Erfindung?
Oschmann: Weil er durch die politischen und medialen Eliten immer als das Abwegige, das Abnormale, das Kleine, das Unzureichende konstruiert wird. Letzte Woche habe ich die Meldung gelesen, dass der Osten beim Netzausbau „hinterherhinkt“. Da wird er schon in der Wortwahl als krank dargestellt. Das sind Sprachmuster der Herabstufung. Ich sehe einen unglaublichen Widerwillen des Westens, auf uns zuzugehen. Etwa wenn mir Journalisten begegnen, die gar nicht wissen, dass auch im Osten Solidaritätszuschlag bezahlt wird. Oder dass Björn Höcke aus dem Westen kommt. 
Schneider: Natürlich kenne ich diesen ablehnenden, herablassenden Blick des Westens, den Sie beschreiben. Aber ich ziehe daraus andere Schlüsse. Ich trete dafür ein, sich nicht als Opfer zu verstehen, nicht als homo sovjeticus. Sondern sich selbst zu ermächtigen.
Oschmann: Ich bin sehr für Selbstermächtigung. Aber dann sollten wir bei den Begriffen anfangen. Ich würde mich nie als Ostdeutscher bezeichnen, und ich hasse es, wenn ich dazu gemacht werde. Der Osten wird von außen als monolithischer Block wahrgenommen. Und nicht in seiner Heterogenität. Es wird gesagt: in Sachsen ist was passiert, immer dieser Osten. Thüringen, also Osten. Aus meiner Sicht muss es ein Ankämpfen gegen diese Art von Diskurs geben. Und, da haben Sie recht, dieses Ankämpfen muss vom Osten ausgehen.
Schneider:  Ich sage stolz: Ich bin Ostdeutscher. Ich habe es immer als bereichernd empfunden, zwei Systeme zu kennen. Es stimmt schon: Ich habe eine Welt zusammenbrechen sehen – aber auch eine neue mitgestaltet. Wir haben aus eigener Kraft viel geschafft. Deshalb will ich einem Hamburger oder Münchner nicht wehklagend gegenübertreten, sondern selbstbewusst.


ZEIT: Ist es denn aus Ihrer Sicht das größte Problem des Ostens, wie der Westen über ihn spricht, Herr Oschmann?
Oschmann: Nein. Das Problem ist, dass der Osten die Gesellschaft, in der er lebt, nicht mitgestalten kann. Ostdeutsche finden sich in den Eliten des Landes praktisch nicht wieder. Es gibt zahlreiche Studien darüber. In der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Justiz, nirgendwo sind Ostdeutsche in Führungspositionen angemessen vertreten. Zwischen 2016 und 2022 stagnierte ihr Anteil sogar, oder er sank.


ZEIT: Herr Schneider, Sie haben als Ostbeauftragter selbst auszählen lassen, wie viele Ostdeutsche es in die Führungspositionen der Bundesministerien und Bundesbehörden geschafft haben. Es sind 7,4 Prozent – obwohl Ostdeutsche 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Was fangen Sie mit Ihrer Erkenntnis an?
Schneider: Ich fördere Ostdeutsche, und ich rufe Verantwortungsträger in der Gesellschaft  auf, das auch zu tun. Im Kabinett haben wir Anfang des Jahres beschlossen, den Anteil von ostdeutschen Führungspersönlichkeiten in der Bundesverwaltung zu steigern. Dass es dieses Problem gibt, wurde bisher viel zu wenig thematisiert.
Oschmann: Meine Kinder machen bald Abitur. Denen kann ich nicht empfehlen, im Osten zu studieren, die müssen ins Ausland, oder nach Konstanz oder Köln. Denn erst kürzlich hat eine Studie der Uni Leipzig gezeigt, dass man als Ostdeutscher nur Karriere macht, wenn man in den Westen geht – oder wenigstens Stationen im Westen einlegt. Ich finde das nicht in Ordnung. Wäre ich nicht für mehrere Jahre in den USA gewesen, wäre ich sicher nicht auf eine Professur berufen worden.
Schneider: Das hat aber nicht nur etwas mit Ost und West zu tun. Es ist klar, dass ein Professor mit Auslandserfahrung bessere Chancen hat.
Oschmann: Vielen meiner germanistischen Professorenkollegen in Leipzig, die aus dem Westen kommen, reichten ein, zwei Stationen im Inland.
Schneider: Beim Befund sind wir uns einig: An den ostdeutschen Universitäten gibt es ein eklatantes Missverhältnis, es gibt zu wenige ostdeutsche Professoren, und kaum eine Universität wird von Ostdeutschen geleitet. Wir waren Anfang der Neunziger zu radikal bei der politischen Bewertung der Biografien ostdeutscher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Dafür kamen Westdeutsche in diese Positionen. Doch diese Generation tritt jetzt langsam ab. Das bietet Chancen für Jüngere.
Oschmann: Glauben Sie wirklich, dass jetzt viele Ostdeutsche auf Professorenstellen nachrücken, obwohl das 30 Jahre lang nicht geschehen ist? Die Berufungskommissionen sind westdeutsch dominiert, und es ist breit erforscht, dass man eher Leute aus dem eigenen Stall befördert. Ich saß selbst in solchen Kommissionen und war dann der Einzige, der für den ostdeutschen Kandidaten gestimmt hat. Das will ich durchaus skandalisieren.
Schneider: Sicher. Mir reicht es nur nicht, anzuklagen. Ich verstehe Ihre Zuspitzung. Je größer die Zuspitzung, desto größer ist die Welle, die Sie erzeugen. Nur muss meine Frage sein, wie ich das Thema politisch lösen kann. Ein Grund übrigens, warum es noch einen Ostbeauftragten braucht. Diese Position bedeutet ja eine Bevorzugung Ostdeutschlands. Bei jeder großen Investition fragen wir: Können wir das im Osten machen? Ich sitze im Kabinett, um jedes Gesetz und jede Ansiedlung darauf zu prüfen, ob die Interessen des Ostens gewahrt sind.


ZEIT: Herr Oschmann, was würden Sie denn politisch ändern, wenn man Sie zum Ostbeauftragten küren würde? Sich sofort selbst abschaffen?
Oschmann: Nein, ich würde das Amt hochstufen, zum Ministerium für Chancengleichheit. Selbstermächtigung durch Selbstaufstufung!


ZEIT: Lange Zeit hielt sich die Hoffnung, dass sich Ost-West-Unterschiede einfach auswachsen im Laufe der Generationen. Wird das passieren?
Oschmann: Das ist eine ganz beliebte Frage. Allerdings ist es ganz klar so – und ich sehe das auch bei meinen Studierenden – dass sich überhaupt nichts verwächst. Sobald ein junger Mensch aus Ostdeutschland in den Westen geht, macht er bestimmte Fremdheitserfahrungen. Und andersherum ist es auch so. Die jungen Leute tragen das Problem weiter.
Schneider: Man darf nicht darauf warten, dass sich Unterschiede einfach auswachsen. Sonst wartet man im Zweifel Jahrzehnte oder vergeblich. Die neue Ost-Identität in der Literatur stimmt mich hoffnungsvoll. Es entsteht daraus aber leider kein Dialog mit dem Westen, weil die Antwort oder auch schlicht das Interesse fehlt. Trotzdem gibt es mittlerweile eine ganze Reihe von jungen Schriftstellern, die sich mit ihrer Herkunft auseinandersetzen – allerdings nicht so defätistisch wie Sie das tun, Herr Oschmann. 
Oschmann: Ich beobachte andere Phänomene. Ich beobachte unter den Studierenden zum Beispiel, dass sich viel zu wenige Ostdeutsche um Stipendien bewerben. Weil sie glauben: Das ist gar nicht für uns gedacht, wir sind damit nicht gemeint. Eine Katastrophe.
Schneider: Aber auch dagegen hilft doch ein neuer Geist, der sagt: Wir stehen zu unserer Herkunft, unserer Identität, und wir fordern ein, was uns zusteht. Dazu gehört übrigens, sich den Problemen im Osten zu stellen. Sich auch zu fragen: Wie kommt es, dass so viele Thüringer den rechtsextremen westdeutschen Björn Höcke wählen?
Oschmann: Meine These wäre, dass der Zuspruch für die AfD teilweise auch zu tun hat mit dem Gefühl, nicht gehört zu werden.


ZEIT: Herr Schneider, Sie haben von jungen Autoren gesprochen, die Stolz und Selbstbewusstsein ausstrahlen wollen. Aber ändern konnten diese Autoren bislang wenig, oder?
Schneider: Sie tragen erst einmal dazu bei, dass sich das Bewusstsein ändert. Sie stellen sich hin und sagen: Hallo Westdeutsche, der Osten ist großartig, und ich finde mich gut so, wie ich bin. Wenn ihr das nicht seht, dann seid ihr ganz schön arm. 


ZEIT: Zu behaupten, die eigene Herkunft sei eigentlich ein Vorteil, obwohl sie ausweislich aller Statistiken eher ein Nachteil ist: Ist das nicht magisches Denken?
Schneider: Man kann Zuschreibungen verändern. Das passiert ständig. In der DDR habe ich mich nie als Thüringer empfunden, weil es Bundesländer damals gar nicht gab. Wir hatten nur Bezirke. In den Neunzigern bildete sich dann eine Thüringer Identität. Auch ein echtes Ost-Bewusstsein entstand bei meiner Generation eher erst in den 2010er Jahren. Heute haben wir sogar in der Bundestagsfraktion eine Landesgruppe Ost.
Oschmann: Dieses Ostbewusstsein, das Gründen einer Landesgruppe: All das sind Effekte in der Wirklichkeit, die die sprachliche Ausgrenzung des Ostens erzeugt hat. Ich weiß nicht, ob sie wirklich Grund für Stolz sind.
Schneider: Ich sehe das anders: Das ist kluges politisches Handeln, um die eigenen Interessen durchzusetzen.
Oschmann: Vielleicht bin ich auch zu einfallslos, aber ich sehe nicht, wie ein bisschen Selbstbewusstsein plötzlich alles ändern soll. Es ist wichtig, dass man sich die Diskriminierung nicht mehr bieten lässt, natürlich. Aber wir haben noch viel Strecke vor uns. Ich bekomme unheimlich viel Post. Auch aus dem Westen. Mir hat ein gleichaltriger Westdeutscher geschrieben, dass seine Söhne vom Osten vielleicht ein paar Quadratmeter in Berlin kennen. Die kennen keinen Film, kein Buch, nichts vom Osten! Das interessiert die auch nicht! Ich finde, diese Zustände sind im Jahre 2023 nicht mehr hinnehmbar. Und viele Ostdeutsche sehen das ähnlich.


ZEIT: Sie unterstellen, der mediale Diskurs sei komplett westdeutsch geprägt. Aber die Journalisten, die Ihr Buch besprochen haben, waren in der Mehrzahl Ostdeutsche.
Oschmann: Das ist eine sehr interessante Tatsache.


ZEIT: Was wollen Sie damit sagen?
Oschmann:  Dass das Thema für Westdeutsche vielleicht ein zu heißes Eisen ist oder dass es sie schlicht nicht kümmert.
Schneider: Es könnte auch sein, dass in den Redaktionen inzwischen ein paar Ostdeutsche sitzen – und das Thema einfach wichtig fanden.
Oschmann: Schauen Sie sich an, was die Süddeutsche Zeitung zu meinem Buch geschrieben hat. Schon mit der Überschrift wurde genau jenes herabwürdigende Sprachmuster bedient, das ich in meinem Buch anprangere. Sie lautete: „Los Wochos in Lostdeutschland“.


ZEIT: Ist das nicht einfach ein Witz?
Oschmann: Das kann man lustig finden. Aber vielleicht nicht angesichts einer Redeweise, die seit 1945 existiert. Einer Redeweise, mittels der der Osten, wie gesagt, als das Defizitäre, des Abwegige, Kuriose, das Unnormale dargestellt wird.


ZEIT: Ihre Kinder, Herr Oschmann, dürfen nicht sächseln, schreiben Sie. Stimmt das?
Oschmann: Ich habe ihnen angedroht, das Taschengeld zu entziehen, wenn sie damit anfangen.


ZEIT: Im Ernst?
Oschmann: Das ist natürlich ein Witz, aber mit todernstem Hintergrund. Ich kenne mehrere Leute, die unter wirklichen Schmerzen Schulungen belegt haben, um den sächsischen Dialekt loszuwerden, um nicht mehr diskriminiert zu werden im öffentlichen Raum.
Schneider: Das gibt es allerdings auch zwischen Ostdeutschen. Fragen sie mal, wie Sachsen das Berlinern empfinden und umgekehrt. 


ZEIT: Vielleicht ist der Dialekt gar nicht so schön, wie die Sachsen glauben.
Schneider: Wir Thüringer glauben ja, wir sprächen hochdeutsch. Dem ist dann doch nicht ganz so. Dialekte sind Ausdruck der regionalen Kultur, die ganz Deutschland so vielfältig macht. Vielleicht sollten wir uns die Schwaben zum Vorbild nehmen und uns nicht einreden lassen, dass unsere Herkunft ein Makel ist. 

Der Artikel erschien am 30. März 2023 in der Zeit.