„Gibt es hier eigentlich auch Ostdeutsche?“

Interview mit DIE ZEIT „Gibt es hier eigentlich auch Ostdeutsche?“

Im Interview mit der Wochenzeitung ZEIT spricht Staatsminister Carsten Schneider über die Landtagswahlen in Brandenburg, fehlende Repräsentation von Ostdeutschen in Führungspositionen und die Notwendigkeit von mehr Zuzug in die Region.

Staatsminister Carsten schneider während einer Veranstaltung

Staatsminister Carsten Schneider während einer Veranstaltung

Foto: Bundesfoto/Czybik

DIE ZEIT: Herr Schneider, die SPD hat mit Dietmar Woidke in Brandenburg die Wahl gewonnen, war das eine Belohnung oder eine Bestrafung für Ihre Partei?
Carsten Schneider: Wieso Bestrafung?

ZEIT: Weil es so aussah, als habe Woidke auch deshalb gewonnen, weil er sich gegen die Ampel gestellt hat.
Schneider: Das sind doch mediale Debatten. Das gilt auch für Diskussionen um Olaf Scholz als Bundeskanzler. Woidke hat nicht gegen Berlin, sondern für Brandenburg Wahlkampf gemacht. Was soll daran falsch sein?

ZEIT: Die drei ostdeutschen Landtagswahlen waren alle von Frust und Wut auf die Bundesregierung geprägt. Wie erklären Sie Ihrem Kanzler, was im Osten los ist?
Schneider: Das weiß er ganz genau. Olaf Scholz hat seinen Wahlkreis in Potsdam, er ist wahrscheinlich mehr im Osten unterwegs als im Westen. Für die schlechte Stimmung gibt es unterschiedliche Gründe. Viel hat damit zu tun, was in den letzten 35 Jahren nach der Wende passiert ist, aber auch mit dem Krieg in der Ukraine. Wenn mir da jemand sagt, die Ukraine soll nicht mit Waffen unterstützt werden, ich aber fest überzeugt davon bin, dass das richtig ist, werden wir da einfach nicht übereinkommen.

ZEIT: Gibt es andere Themen, bei denen Sie mehr Geduld aufbringen?
Schneider: Migration und Demografie, weil diese Themen die Gesellschaft im Ganzen und damit die Lebensrealität vieler Menschen gerade am stärksten verändern. Aber auch hier ist das eine das Verstehen, das andere das Fühlen.

ZEIT: Wie meinen Sie das?
Schneider: Zu verstehen, dass wir Zuwanderung brauchen, ist etwas anderes als mitzuerleben, wenn sich im eigenen Wohnumfeld vieles verändert. Zum Beispiel in den Plattenbauten, da sind nach der Wende scharenweise Leute weggezogen, und jetzt leben in deren Wohnungen häufig Migranten. Sie sprechen anders, sie kochen anders. Es ist lauter. Durch die dünnen Wände und dem engen Aufeinanderleben ist das eine spürbare Veränderung, die erst einmal verunsichert.

ZEIT: Gibt es Teile dieser ostdeutschen Wut, die Sie nicht mehr verstehen?
Schneider: Es gibt keine ostdeutsche Wut, genau wie es die Ostdeutschen nicht gibt.

ZEIT: Das sagen Sie ausgerechnet nach den Wahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg, wo sich nach den AfD-Erfolgen so viele fragen: Spinnt der Osten?
Schneider: Das Wahlergebnis ist erstmal demokratisch und sehr viele haben gewählt. Das ist die gute Nachricht. Aber man sieht an den Wahlergebnissen, wie es um bestimmte Regionen steht. Ob es Zuzug und damit eine Zukunft gibt, weil dort Arbeitsplätze und eine intakte Infrastruktur geschaffen wurden. In Gegenden dagegen, wo viele abgewandert sind, der letzte Konsum dichtgemacht hat und es einen hohen Männerüberschuss gibt, färbt sich die Karte AfD-blau.

ZEIT: Auf diese Männer zielt die AfD. „Echte Männer sind rechts“, sagt Maximilian Krah. Welche Antworten haben denn die anderen Parteien im Angebot?
Schneider: Ich nehme das Thema sehr ernst. Viele Männer sind zutiefst verunsichert in ihrem Rollenverständnis, es geht um ihre Stellung in der Gesellschaft, um ihre Reputation. Sie fragen sich, kann ich mich abends in der Bar noch selbstbewusst als Malermeister vorstellen, oder brauche ich eine Visitenkarte, auf der mindestens „Consultant“ steht.

ZEIT: In Ostdeutschland folgt also auf Abwanderung eine starke AfD, eine starke AfD könnte zu noch mehr Abwanderung führen, was die Zustimmung zur AfD unter den jungen Wählern stärkt …
Schneider: Genau in dieser Negativspirale sind wir drin. Aber von mir werden Sie nie hören, dass die AfD-Wähler alle Nazis sind. Mir haben junge Männer gesagt, sie überlegen, ob sie entweder AfD oder SPD wählen sollen. Und das in Regionen, wo die SPD gar keine Mitglieder hat. Also gehe ich dorthin, wo man diese Männer stärken kann, in die Berufsschulen zum Beispiel. Weil ich hoffe, dort die zu erreichen, die bleiben wollen.

ZEIT: Dass die jungen Wähler in hohem Maße rechts wählen, bleibt alarmierend. Rächt sich jetzt, dass man die Jugend politisch zu lange ignoriert hat?
Schneider: Auch die Folgen der Corona-Pandemie spielen eine Rolle, die Erfahrung von Isolation in viel zu engen Wohnungen. Wir haben zu spät begriffen, was das mit den Leuten gemacht hat.

ZEIT: Davon fängt man, an Rechtsextremisten zu wählen?
Schneider: Wenn ich in meiner Heimat Erfurt manchmal bei Jugendweihen Reden halte und Urkunden verteile, erkenne ich Eltern wieder, die in den Neunzigerjahren als Neonazis mit dem Baseballschläger durch die Straßen gerannt sind. Die befanden sich in den letzten Jahren bestenfalls in einer Art politischen Apathie, sind aber keine Demokraten geworden. Und deren Kinder lehnen sich nicht gegen ihre Eltern auf, sondern tragen diese politischen Haltungen und das Weltbild weiter. Da hat auch die politische Bildung in der Schule nicht geholfen.

ZEIT: Warum nicht?
Schneider: Sicher auch, weil manche Lehrer nach der DDR-Erfahrung auch zu dem politischen System der Bundesrepublik eher die Distanz gesucht haben. Ich hatte einen sehr guten jungen Gemeinschaftskundelehrer, der hat mich geprägt. Andere haben ihre Schüler das politische System auswendig lernen lassen und das wars.

ZEIT: Spätestens seit der Wahl in Thüringen reagiert der Westen zunehmend genervt auf die Entwicklung im Osten. Es gibt Leute, die sagen: Dann wählt doch den Höcke zum Ministerpräsidenten und seht, was ihr davon habt!
Schneider: Genervt sein heißt ja erst mal: Man nimmt den Osten wahr. Und das ist gut. Die letzten Jahrzehnte waren eher ein großes Nebeneinander zwischen Ost und West, ohne viel Interesse an Ostdeutschland. Ich hoffe nicht, dass die aktuelle Entwicklung zu einer noch tieferen innerdeutschen Spaltung führt. Aber manchmal, wenn ich im Westen unterwegs bin, erschrecke ich, wie weit weg man da von Ostdeutschland ist.

ZEIT: Inwiefern?
Schneider: Ich beobachte, dass der Osten für viele Westdeutsche immer noch eine Terra incognita ist. Das Interesse an dieser Region ist nicht wirklich gewachsen. In München ist man Mailand näher als Magdeburg. Wenn heute jemand entscheidet, zum Studieren von Köln nach Ilmenau zu gehen, muss er das seiner Familie und seinen Freunden wirklich gut begründen. Das finde ich saugefährlich!

ZEIT: Warum?
Schneider: Wenn von West nach Ost keine Binnenmigration mehr stattfindet, ist das ein Risiko für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung. An der Uni Ilmenau gab es mal 7000 Studierende, jetzt sind es noch 4400. Es wird zunehmend schwerer, Stellen im akademischen Mittelbau zu besetzen oder Professorinnen und Professoren zu bekommen. Für manche Westdeutsche kommt es gar nicht in Frage, ostdeutsche Regionen in Erwägung zu ziehen. Die kennen noch nicht einmal Weimar!

ZEIT: Umgekehrt zeigt eine von Ihrem Haus herausgegebene Untersuchung ganz aktuell, dass Ostdeutsche auf Führungspositionen in Bundesbehörden nach wie vor selten vorkommen. Liegt das daran, dass es entsprechende Posten vorwiegend im Westen gibt?
Schneider: Es liegt jedenfalls nicht daran, dass im Westen keine Ostdeutschen leben. Sie profitieren aber nicht von entsprechenden Netzwerken. Von ihren Elternhäusern haben sie nicht die nötige finanzielle Sicherheit mitbekommen oder kommen auch weniger in die Stipendienwerke. Da war oft niemand, der sagte: Du kannst das, geh dahin, probiere das aus.

ZEIT: Diese Analyse ist lange bekannt, sind wir da nicht schon weiter?
Schneider: So viel weiter sind wir nicht. Die meisten im Westen haben doch nie gefragt: Gibt es hier eigentlich auch Ostdeutsche? Für die war es nie ein Problem, dass der Osten an vielen Stellen nicht repräsentiert ist. Wenn ich Spitzenverbände oder Vorstände treffe, stelle ich häufig die Frage, wer im Raum aus Ostdeutschland kommt. Da bin ich schon froh, wenn sich überhaupt jemand meldet.

ZEIT: Die Zahl der ostdeutschen Führungskräfte in den obersten Bundesbehörden ist im Vergleich zum vergangenen Jahr um einen Punkt auf 15 Prozent gestiegen, bei einem Bevölkerungsanteil der Ostdeutschen von 19 Prozent. Ist das eine für den Ostbeauftragten zufriedenstellende Entwicklung?
Schneider: Sagen wir, ich bin damit einverstanden. Durch die Zahlen ist jetzt Aufmerksamkeit da, mehr Sensibilisierung.

ZEIT: Sie sorgen eher für leise Aufmerksamkeit. Wäre die Lage im Osten nicht Anlass, dass der Ostbeauftragte ein Jahr vor der Bundestagswahl mal ordentlich auf den Tisch haut?
Schneider: Mir war es in diesem Amt immer wichtig, keine Äußerungen zu machen, die man mir ein Jahr später noch vorhalten kann. Ich bin ein ausgleichender Politiker, Krawallmacher gibt es genug.

ZEIT: Hat sich ihr Blick auf den Osten durch das Amt verändert?
Schneider: Ich war 22 Jahre alt, als ich in den Bundestag kam. Dort war ich nie der Ostdeutsche, sondern Sozialdemokrat, Mitglied im Seeheimer Kreis, Finanzpolitiker. So konnte ich das Amt ohne Minderwertigkeitskomplex angehen. Heute denke ich, dass sich Deutschland etwas nimmt, wenn man die Erfahrungen und Besonderheiten des Ostens verkennt oder missinterpretiert. Man muss aber auch die Unterschiede aushalten. Unser Land ist föderal und vielfältig. Das gilt auch innerhalb Ostdeutschlands. Wichtig ist, dass wir am Ziel festhalten, gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen. Man muss überall gut leben können. In Ost und West.

ZEIT: Nächstes Jahr wird der Bundestag gewählt, 2026 folgen die Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern. Macht Ihnen das Angst?
Schneider: Nein, aber ich habe immer vor allen Wahlen großen Respekt. Und ich gehe davon aus, dass die AfD noch eine Weile eine markante Kraft in Ostdeutschland bleiben wird. Die nicht so schnell weggeht. Wenn ich nur daran denke, wie viele AfD-Abgeordnete in den Thüringer Landtag einziehen, von der SPD werden es nur noch sechs sein. Die AfD wird im öffentlichen Raum nicht mehr zu übersehen sein, die halten Grußworte, kommen zu Volksfesten. Die politische Situation wird schwierig bleiben. Und umkämpft.

Das Interview erschien am 26. September 2024 in der ZEIT.