Rede im Bundestag
Staatsminister Carsten Schneider spricht für die Bundesregierung im Deutschen Bundestag am 8. November 2024 zum Gedenken an 35 Jahre Mauerfall.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der 9. November ist der deutscheste Tag in der deutschen Geschichte mit all seinen Sonnen- wie Schattenseiten; Frau Präsidentin Bas hat zu Beginn der Debatte darauf hingewiesen. Wir gedenken heute in dieser Debatte einer der positiven Seiten, nämlich des 35. Jahrestags des Mauerfalls. Die Mauer ist Symbol der Abschottung, des Einsperrens der DDR-Bürger und auch des Versagens des Staatssozialismus; denn er musste seine Bürger einsperren, damit sie nicht davonlaufen. Und er hat sie nicht nur eingesperrt, sondern er hat sie bedroht, gebrochen und erschossen.
Auch der Mauertoten gedenken wir heute. Die Friedliche Revolution hatte einen Höhepunkt: Der Kulminationspunkt war der 9. November. Aber die Revolution hatte eine längere Vorgeschichte; die Kolleginnen Göring-Eckardt und Budde haben darauf hingewiesen. Diese begann bereits 1953 mit der Niederschlagung des Aufstandes. Sie begann in der Tschechoslowakei mit dem Prager Frühling. Sie begann in Ungarn. Und sie begann insbesondere mit der Solidarność-Bewegung in Polen in den 1980er-Jahren – mit über 10 Millionen Polinnen und Polen, die sich dieser Gewerkschaftsbewegung gegen den Stalinismus und das Sowjetregime angeschlossen und den Widerstandsakt vollbracht haben. Das hat viele Bürgerinnen und Bürger in der ehemaligen DDR ermutigt, in der Oppositionsbewegung – auch wenn diese in der Tat nur, Frau Göring-Eckardt, eine Minderheit waren – tätig zu werden, selbstbestimmt zu arbeiten, nach Freiheit zu streben: erst in den Umweltgruppen Mitte/Ende der 80er-Jahre, in den Kirchen, die Orte der Freiheit und Bühne für Punkkonzerte wurden. Ich erinnere an die Band Schleimkeim aus Erfurt, eine der berühmtesten Punkbands, die es in der DDR gab, und empfehle auch den Film dazu.
Es folgte die Öffnung des Eisernen Vorhangs dank Perestroika und Glasnost sowie durch die Ungarn, die in Sopron – der Bundespräsident war in diesem Jahr da – den Eisernen Vorhang geöffnet und vielen DDR-Bürgern die Freiheit ermöglicht haben. Das hat dazu geführt, dass es den Mut gab, sich zu erheben. Am 7. Oktober 1989 – Frau Präsidentin weiß das – gab es in Plauen zum 40. Jahrestag der DDR eine große Feier – und trotzdem subversive Elemente. Es gab Menschen, die sich dagegengestellt haben und kleine Zettel, auf der Schreibmaschine geschrieben, in Telefonzellen – wir hatten keine Telefone – gesteckt haben: Trefft euch um 15 Uhr in Plauen zum Widerstand. – Es sind 15 000 Menschen aus Plauen, dieser schönen mittelgroßen Stadt im Vogtland, gekommen und haben sich der DDR widersetzt. Und sie haben gezeigt: Sie wollen Freiheit. Zwei Tage später ein ähnliches Bild in Leipzig; wir waren dieses Jahr da. Über 75 000 Menschen aus vielen Orten der Republik kamen nach Leipzig, um sich der Staatsmacht entgegenzustellen. Die bewaffneten Truppen – Kollegin Göring-Eckardt hat auf die Militarisierung des DDR-Staates hingewiesen – standen bereit, um zu schießen. Zum Glück haben die Waffen geschwiegen.
Zum Glück sind die Menschen in Leipzig friedlich mit der Kerze in der Hand dem System entgegengetreten und haben es zu Fall gebracht.
Das war der Moment, in dem die Freiheit gesiegt hat. Und dann natürlich der Mauerfall am 9. November und die schnelle Wiedervereinigung. Markus Meckel ist heute da. Ich bin der Volkskammer sehr dankbar, dass sie in einem günstigen Zeitmoment die Wiedervereinigung in einem zügigen Prozess vollendet hat und wir am 3. Oktober 1990 ein Staat wurden. Ich bin dankbar, dass 1994 die letzten Soldaten der Roten Armee die DDR bzw. die Bundesrepublik verlassen haben, sodass wir heute eigenständig und frei sind. Denn das haben die Bürgerinnen und Bürger der DDR dieser Bundesrepublik, diesem neuen Deutschland eingebracht: die Freiheit und die volle Souveränität sowie ein Europa, das im Ganzen vom Atlantik bis nach Polen und Litauen reicht. Dieses Europa ist nicht nur das Ergebnis vom Ende des Eisernen Vorhangs, sondern auch des Wunsches der Menschen nach Demokratie, nach Freiheit und nach Rechtsstaatlichkeit.
Ich darf noch etwas Verbindendes sagen; Herr Kollege Merz, ich weiß, dass Ihnen und der Unionsfraktion das auch wichtig ist. Frau Zupke ist hier. Frau Schenderlein hat die Opferrenten und die Wiedergutmachung seitens dieses Landes gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern, die in der DDR Opfer waren, angesprochen.
Wir haben einen Gesetzentwurf vorliegen. Es gab eine Anhörung dazu. Frau Zupke ist es gelungen, diesen Gesetzentwurf breit abzusichern. Sie hat einige kluge Vorschläge gemacht, die wir gern mit einbringen wollen. Es ist gelungen, dass sich mit Ikea ein erstes Unternehmen bereit erklärt hat, denjenigen, die in den Gefängnissen der DDR für Ikea Zwangsarbeit geleistet haben, 6 Millionen Euro als Entschädigung zur Verfügung zu stellen. Ich finde, wir sollten kurz nachdenken und – das wäre mein Angebot und meine Bitte – dieses wichtige Gesetz noch in dieser Legislatur beschließen.
Es braucht nur noch eine Lesung, dann wäre dieser wichtige Punkt geschafft. Ich glaube, das wäre auch angesichts des Jubiläums, das wir heute feiern, und insbesondere der Minderheit, die die Freiheit erkämpft hat, ein würdiger Abschluss.
Vielen Dank.