„Die ‚Ost-Scham‘ ist einem ‚Ost-Stolz‘ gewichen“

Staatsminister Carsten Schneider während der Tagesspiegel-Konferenz

Staatsminister Carsten Schneider während der Tagesspiegel-Konferenz

Foto: Bundeskanzleramt

Sehr geehrte Frau Teschke,
sehr geehrter Herr Tretbar,
sehr geehrter Herr Casdorff,
sehr geehrte Frau Birthler,
sehr geehrte Damen und Herren,

vielen Dank für die Einladung und die Gelegenheit, am 4. November zu Ihnen sprechen zu dürfen. Genau 35 Jahre nach der wichtigen Demonstration am Alexanderplatz.
Damals kamen in Berlin Hunderttausende Menschen zusammen – zur größten, nicht-staatlich organisierten Demonstration der DDR-Geschichte.

Diese Demonstration war genehmigt. Auch das war ein Novum. Möglich war das nur, weil in den Wochen zuvor immer wieder mutige Menschen auf die Straßen gegangen sind.
Zum Beispiel in Plauen. Ich war in Plauen in diesem Jahr. Am 7. Oktober 1989 gingen dort über 15.000 Menschen auf die Straße am Tag der Republik. Mit einer subtilen Aktion ging das los. Ein 22-Jähriger in Plauen hatte in die Telefonzellen Zettel mit dem Demoaufruf reingelegt, mit Schreibmaschine beschrieben: „Kommt am 7. Oktober, 15 Uhr Demonstration in Plauen!“ Das war ein ganz normaler Mitarbeiter in einem Betrieb in Plauen und es kamen 15.000 Menschen.
Erst danach, zwei Tage später, kam es zur Demonstration in Leipzig, wo 75.000 Menschen demonstriert haben, die letztendlich den entscheidenden Stein umgestoßen haben. Das war die Ermutigung. Leipzig stand für den Beginn eines anderen Zeitalters. Es war klar, die DDR ist im Abgang. Die Demonstration hier in Berlin hat das Regime grundsätzlich ins Wanken gebracht, das endete mit dem Fall der Mauer am 9. November.

Ich will es aber denjenigen überlassen, über den 4. November 1989 zu sprechen, die auch dabei waren. Ich freue mich sehr, dass Sie da sind und auch darüber berichten werden. Mir ist das wichtig, weil Geschichte eine wichtige gesellschaftliche Ressource ist. Sie stiftet Identität und kann in schwierigen Zeiten Orientierung geben.

Unsere Gegenwartspläne und unsere Zukunftsbilder – sie richten sich auch immer an den Erfahrungen der Vergangenheit aus.
Deshalb dürfen wir die Interpretation der Geschichte nicht denjenigen überlassen, die sie als Extremisten und Populisten missbrauchen wollen. Sie behaupten – ich zitiere einige der Wahlplakate, die ich so im Laufe dieses Jahres in Brandenburg, Thüringen oder Sachsen sehen durfte oder musste – sie behaupten, die Wende vollenden zu wollen. In Wirklichkeit aber, stehen sie für das Gegenteil von dem, wofür die Menschen 1989 auf die Straße gegangen sind:
Statt Weltoffenheit wollen sie Abschottung; statt Aufbruch, die Rückkehr in eine vermeintlich bessere Vergangenheit, die so nie da war. Sie bezeichnen unsere Gesellschaftsordnung heute als Unrechtsstaat. Und verhöhnen damit all jene, die 1989 ohne irgendeinen rechtsstaatlichen Schutz auf die Straße gegangen sind.

Die Friedliche Revolution – sie war ein Akt der Selbstermächtigung. Menschen aus allen Teilen der DDR, Junge und Alte, mit verschiedenen beruflichen Hintergründen, nahmen ihr Schicksal, ihr Leben selbst in die Hand. Sie wurden, wie es Friedrich Schorlemmer bei seiner Ansprache am 4. November ausdrückte: „von Objekten zu Subjekten des politischen Handelns“. Mit friedlichem Widerstand zwangen sie das alte System in die Knie.

Das erforderte viel Mut. Mut, sich gegen ein System zu stellen, das in den Jahrzehnten zuvor, jeglichen Widerspruch auf brutale Weise bestraft hatte. Aber auch Mut zum Aufbruch ins Unbekannte.
Die Redebeiträge auf der Alexanderplatz-Demonstration zeugen davon: Die Menschen hatten im Herbst 1989 ganz unterschiedliche Erwartungen an eine Zukunft nach der SED-Diktatur. Freiheit war das Wort der Stunde. Sie forderten Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, freie Wahlen, Reisefreiheit – das war für viele ganz wichtig. Nur der Weg dorthin war nicht vorgezeichnet. Er musste erst ausgehandelt werden.

Das machte den besonderen Geist des Herbstes 1989 aus. Die Menschen waren nicht einfach nur GEGEN etwas. Sie wollten die Zukunft gestalten, sich einbringen, mitwirken an der „Demokratie von unten“.
Zur Wahrheit gehört aber: Getragen wurde dieser Diskurs, getragen wurde die friedliche Revolution von einer mutigen Minderheit. Zwar bewegten sich bei den Montagsdemonstrationen Menschenmassen durch die ostdeutschen Städte – doch die Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger blieb in den Oktobertagen 1989 abwartend zu Hause. Schmälert das die Bedeutung der Ereignisse? Ich meine: nein. Denn so geht es nun mal bei Revolutionen zu. Nicht jeder taugt zum Helden; nicht jeder will radikale Veränderung.

Und mit der Volkskammerwahl im März 1990 bezog tatsächlich eine Mehrheit klare Position – bei den ersten freien Wahlen der DDR: Die Wahl der CDU, die damals diese Wahl gewonnen hatte, war zugleich die Entscheidung für eine zügige Einführung der D-Mark und für eine schnelle Wiedervereinigung. Es war eine bewusste, freie Wahl. Jeder wusste was er tat, auch meine Eltern.

Diese Entscheidung führte zu dem, was der Soziologe Steffen Mau heute als „ausgebremste Demokratisierung“ bezeichnet: In dem Moment, in dem Menschen nach Jahren des Schweigens ihre Sprache wiederfanden, und sie öffentlich kundtaten und nicht nur im privaten, geschützten Raum, in dem Moment kam all das direkt wieder zum Erliegen. Mit der Wiedervereinigung übernahm der Osten das, was im Westen bewährt war. Politisch, rechtlich und ökonomisch. Auf die atemberaubende Politisierung im Herbst 1989 folgte eine ebenso schnelle Entpolitisierung.
Für die Menschen, die sich in den Monaten davor so engagiert eingebracht hatten, muss das eine Ernüchterung gewesen sein. Ich denke insbesondere an die Wahlergebnisse der Bürgerbewegung und des Neuen Forums. Dennoch: Die schnelle Eingliederung in die Strukturen der alten Bundesrepublik war das Ergebnis der freien Willensbildung der Ostdeutschen.

Sehr geehrte Damen und Herren,
Die Bilanz unserer Wiedervereinigung – sie ist aus meiner Sicht beeindruckend. Insbesondere, wenn man auf den Zeitraum von nur 35 Jahren schaut.
Da ist zunächst einmal der massive Freiheitsgewinn für jeden einzelnen Ostdeutschen.
Lassen Sie mich ein persönliches Beispiel bringen: Im September 1989 wurde ich in der Schule aus dem Staatsbürgerkundeunterricht rausgeholt und ins Direktorenzimmer gebeten. Dort saßen zwei NVA-Offiziere. Die haben mich gefragt, ob ich mich verpflichten wolle für die NVA-Laufbahn als Offizier. Das war eine ziemlich unangenehme Situation. Ich war damals 13 Jahre alt. Ich habe mich an dem Tag um eine Antwort herumgedrückt und gesagt, dass müsste ich erst mit meinen Eltern besprechen. Zum Glück ist es zu einer zweiten Begegnung nie gekommen. Der Lauf der Geschichte hat mich vor einer schwierigen Entscheidung bewahrt. Ich weiß nicht, wie ich sie gefällt hätte.

Als ich volljährig wurde, lebte ich bereits in einem freien Land. Ich konnte mich gegen den Militärdienst entscheiden und tat das auch. Ich konnte das, ohne Konsequenzen zu fürchten. Ich konnte meinen Lebensweg ganz nach meinen Vorstellungen gestalten. Das empfinde ich heute als „Gnade der späten Geburt“.

Aber auch das Erscheinungsbild Ostdeutschlands hat sich grundlegend geändert:
Die Wirtschaft wächst schneller als im Westen des Landes. Auch wenn sie im Gesamtkontext zu langsam wächst.

Investoren wissen, dass Ostdeutschland ein attraktiver Standort ist. Nichts ist mehr zu sehen von der bröckelnden Bausubstanz oder dem Grau der DDR wie Sergej Lochthofen das in einem bemerkenswerten Buch beschrieben hat. Die Umwelt hat sich nicht nur erholt, sie ist wieder da.
Dieser Wandel macht etwas mit den Leuten: Wenn ich in Ostdeutschland unterwegs bin, erlebe ich Menschen, die stolz auf das Erreichte sind.
Denn sie haben ihren Wohlstand nicht geerbt. Sie haben ihn hart erarbeitet. Mit viel Fleiß und Entbehrungen in den Nachwendejahren.

Die „Ostscham“ von früher, sie ist in gewisser Weise einem „Oststolz“ gewichen.
Der Weg dorthin war steinig. In Westdeutschland wurde die Zeit der Demokratisierung vom Wirtschaftswunder begleitet. Ganz anders in Ostdeutschland: Die 90er Jahre waren für fast alle ostdeutschen Familien traumatisch. Kein einziger aus meiner Familie hat seinen Beruf behalten, jede und jeder musste sich etwas Neues suchen. In meiner Schulklasse, in meinem Freundeskreis – da hatte jede einzelne Familie einen Jobverlust oder eine berufliche Degradierung zu verkraften.

Und es war eine Zeit der gefühlten Entstaatlichung. Das erinnert mich an die Situation bei Spielen von Rot-Weiß Erfurt in den frühen Neunziger Jahren. Was ich da an Konflikten zwischen den rivalisierenden Fangruppen erlebt habe und wie die anwesende Volkspolizei dem nichts mehr entgegensetzen konnte oder wollte, das war ein Beispiel für Entstaatlichung in einer Brutalität wie sie damals häufiger vorgekommen sind. Dass diese Gewalt im öffentlichen Raum besonders gefährlich für junge Menschen ist, ist klar.

Das hat ein Trauma mitgebracht, das sitzt tief. Und zwar generationenübergreifend. Die Demütigungen und Sorgen der Nachwendejahre sind längst auch ins kollektive Gedächtnis der Nachwende-Generation eingedrungen. Sie sind bis heute regelmäßiges Thema an den ostdeutschen Abendbrottischen.
Noch immer fühlen sich viele Ostdeutsche als Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse. Und dieses Gefühl kommt nicht von ungefähr.

Im Gleichwertigkeitsbericht der Bundesregierung steht: Im Osten verdienen die Menschen weniger, sie sind öfter auf Sozialleistungen angewiesen und – das ist besonders bitter – sie sterben sogar früher als im Westen. Auch die Vermögensunterschiede sind enorm.
Und der Elitenmonitor zeigt: Nur 8 Prozent der führenden Medienmacher und nur 4 Prozent der Wirtschaftsbosse dieser Republik sind tatsächlich in Ostdeutschland geboren und das bei 20 Prozent Bevölkerungsanteil. Die Gerichte sind sogar nur zu 2 Prozent mit Ostdeutschen besetzt.
Das sind Aufregerthemen in Ostdeutschland. Sie sind nicht künstlich, sondern echt. Und es ist eine gesamtdeutsche Aufgabe, dieses Ungleichgewicht zu überwinden.

Denn auch Westdeutschland verdankt der Wiedervereinigung viel: Es gibt den Westen so nicht mehr seit der Wiedervereinigung. Seit 1990 ist Deutschland ein neues Land in einem vereinten Europa. Und auch der Westen hat von Ostdeutschland immens profitiert, zum Beispiel bei den Themen Emanzipation und Gleichstellung. Bei der Betreuungsinfrastruktur hat Ostdeutschland ganz neue Maßstäbe gesetzt. Das zeigt, welche Chancen und Vorteile die Wiedervereinigung mit sich gebracht hat. Und das Allerwichtigste, auch weil darüber viel Falschmeldungen kursieren, z.B. in der Reichsbürgerszene: Erst mit der Wiedervereinigung, konkret mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag, erlangte die Bundesrepublik ihre Souveränität wieder. Nach 1990 hat sich ganz Deutschland neu erfunden. Und zwar zum Besseren. Als ein friedliches Land, das von seinen Nachbarn nicht länger gefürchtet wird. Ein Land, das Brücken baut zwischen West und Ost.

Sehr geehrte Damen und Herren,
was ebenfalls oft in Vergessenheit gerät: Die Ostdeutschen waren in ihrem Freiheitskampf 1989 nicht allein. Im Gegenteil – es gab Viele, die waren uns voraus. Der Mauerfall 1989, er wäre nicht möglich gewesen ohne die zehn Millionen Polinnen und Polen, die sich in den achtziger Jahren in der Solidarność-Bewegung engagiert haben. Und ihre Freiheit und ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben. Er wäre auch nicht möglich gewesen ohne das Einreißen des Eisernen Vorhangs in Ungarn und ohne die Solidarität der Menschen in der Tschechoslowakei.
Diese europäische Dimension der friedlichen Transformation müssen wir stärker würdigen. Ein guter Ort dafür entsteht gerade in Halle. Dort errichten wir das Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und europäische Transformation. Dort wollen wir mit Menschen aus ganz Europa in den Dialog kommen. Darüber, wie unsere Gesellschaften den Weg in Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft beschritten haben. Und darüber, wie wir unsere europäische Zukunft gemeinsam gestalten wollen.

Sehr geehrte Damen und Herren,
Einen weiteren Punkt möchte ich ansprechen. Ostdeutschland wurde mit der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 direkt Teil der NATO und der EU. Die übrigen Länder Ostmitteleuropas, die ihr Verlangen nach Freiheit und Demokratie ebenso mutig unter Beweis gestellt hatten, mussten hingegen wesentlich länger auf die Aufnahme in die westlichen Bündnisstrukturen warten.
Hier haben die Ostdeutschen ein riesiges Privileg genossen. Und zwar ganz automatisch, ohne jahrelang darauf hinarbeiten zu müssen. Ich habe das Gefühl, dass dieses Geschenk in weiten Teilen unseres Landes zu wenig geschätzt wird.
Wir haben uns Freiheit und Demokratie hart erkämpft. Heute erleben wir, dass diese Freiheit keine Ewigkeitsgarantie hat, sondern immer wieder verteidigt werden muss. Gegen Angriffe von innen wie von außen.

In dem Zusammenhang entsetzt es mich, wie teilweise über die Ukraine und ihren Verteidigungskampf gegen Russland gesprochen wird. Das passiert in Ost und West. Aber gerade in den zurückliegenden drei Landtagswahlkämpfen war ich irritiert und erbost über die Empathielosigkeit, mit der das BSW oder AfD über das Schicksal der Ukraine gesprochen haben. Und das unter lautem Applaus! Und ich frage mich, ob es daran liegt, dass wir in den 1990er Jahren in Ostdeutschland keine außenpolitische Debatte geführt haben. In Gesprächen mit Menschen aus Polen oder den Baltischen Staaten, also Ländern, die sich sehr bewusst für die EU und Nato entschieden haben, höre ich jedenfalls entschiedenere Solidaritätsbekundungen für die Ukraine.

Aber nicht nur die russische Aggression, auch Demagogen und Populisten im eigenen Land gefährden unsere Freiheit und Demokratie. Sie hören es vielleicht ein bisschen, ich komme aus Thüringen und habe im schönsten Teil, in Weimar und Erfurt, meinen Wahlkreis. In Thüringen hat der Alterspräsident der AfD gleich in der konstituierenden Sitzung des neuen Landtags seine Position missbraucht, um demokratische Verfahren und Institutionen zu diskreditieren. Es wird nicht der letzte Versuch dieser Art gewesen sein.

Demokratie ist keine elitäre Veranstaltung für Mandatsträger. Sie ist eine Gemeinschaftsleistung, die von uns allen erbracht werden muss. Jeden Tag aufs Neue.
Wie das geht, das haben uns die Protestierenden vom 4. November, das haben auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Runden Tisches vorgemacht.

Sehr geehrte Damen und Herren,
Ich wünsche mir, dass uns der Herbst 1989 in diesen Tagen wieder inspiriert: Zu einem klaren Bekenntnis zu Demokratie und Freiheit. Zu Lust auf Zukunft, auch wenn sie voller Ungewissheit und voller Herausforderungen ist. Und für die Bereitschaft, diese Zukunft aktiv mitzugestalten – egal ob in Kirche, Verein, in der Gewerkschaft, in einer Partei oder in Arbeitgeberorganisationen.
Wichtig ist, dass wir uns einmischen. Und zwar nicht nur als Individuen, sondern in Gemeinschaft. Ich weiß, viele Ostdeutsche betrachten Großorganisationen mit Unbehagen. Doch gegen die Organisationskraft der neuen Rechten braucht es starke, braucht es organisierte Gegenwehr.

Ich zitiere noch einmal Friedrich Schorlemmer in seiner Ansprache am 4. November: „Ohne die wache Solidarität aller demokratischen Kräfte wird es nicht gelingen, eine lebensfähige Demokratie aufzubauen. Die Zersplitterung der Demokraten ist stets die Stunde der Diktatoren.“
Auch diese Erkenntnis gehört zum Erbe der Friedlichen Revolution.
In diesem Sinne: Danke, dass Sie heute hier sind. Vielen Dank, dass Sie alle sich an den unterschiedlichsten Stellen organisieren und den Osten mitgestalten. Mit Mut für Zukunft und als Macher.

Ich wünsche Ihnen eine gelungene Konferenz, mit vielen spannenden und inspirierenden Gesprächen!