Mehr Ostdeutsche in Führungspositionen!

Zentrale gesellschaftliche und politische Herausforderung

Vielfalt und Chancengerechtigkeit berühren unsere demokratischen Grundwerte und sind für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft von zentraler Bedeutung. Vertrauen in Politik und staatliche Institutionen und in die soziale Marktwirtschaft ist auch daran geknüpft, dass sich alle Bevölkerungsgruppen mit ihren Bedürfnissen und Interessen bei relevanten Entscheidungsprozessen angemessen vertreten sehen. Zudem profitiert eine demokratische Gesellschaft dadurch vom vielfältigen Erfahrungswissen und den unterschiedlichen Perspektiven ihrer Bürgerinnen und Bürger. 

Menschen aus Ostdeutschland verfügen durch ihren Umgang mit den rasanten Veränderungen nach dem Mauerfall beim Wechsel von der Planwirtschaft zur Sozialen Marktwirtschaft und durch die gesellschaftlichen Veränderungen über einen großen Erfahrungsschatz bei der Bewältigung von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbruchprozessen. Dieses Potenzial in Führungsetagen zu nutzen ist also nicht nur Ausdruck unseres Demokratieverständnisses, sondern auch wichtig für die Bewältigung heutiger und künftiger Herausforderungen. 

Diverse Studien deuten jedoch darauf hin, dass einzelne gesellschaftliche Gruppen, bezogen auf ihren Bevölkerungsanteil, nicht angemessen in Führungspositionen von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft vertreten sind. Dies gilt auch für Menschen mit ostdeutscher Herkunft bzw. ostdeutscher Sozialisierung. Mehr als drei Jahrzehnte nach der Wiederherstellung der Deutschen Einheit ist das ein unbefriedigendes Ergebnis. Diese personelle Unterrepräsentation berührt das Gerechtigkeits- und Gleichheitsempfinden von Ostdeutschen im vereinten Deutschland und trägt die Gefahr in sich, dass Vertrauen in Staat und Gesellschaft abnimmt. Eine angemessene Vertretung von Ostdeutschen in Führungspositionen von Politik und Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft, Kultur und Medien und Zivilgesellschaft ist deshalb eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. 

Forschungsstand zum Ausmaß und zu möglichen Folgen der Unterrepräsentanz 
Valide empirische Daten über die Repräsentanz Ostdeutscher in Führungspositionen in den wichtigsten Organisationen, Unternehmen und Institutionen in Deutschland konnten bislang auf der Grundlage von drei Studien ermittelt werden (Potsdamer Elitestudie 1995; WZB-Elitestudie 2013; Elitestudie der Hochschulen Leipzig, Zittau/Görlitz und des DeZIM 2018). Aus diesen lassen sich folgende zentrale Befunde ableiten:

  1. Gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil besteht eine personelle Unterrepräsentation der Ostdeutschen in den Elitepositionen Deutschlands. Diese Unterrepräsentation Ostdeutscher besteht selbst in Ostdeutschland.
  2. Die personelle Unterrepräsentation hat sich zwischen 1995 und 2022 nicht substanziell verringert. 
  3. Die personelle Unterrepräsentation variiert erheblich zwischen den gesellschaftlichen Bereichen. 
PE 1995 WZB 2013
BJ 2016; SAJ 2022
ELS 2018
1995
2013
2004
2015/16
2022
2018/19
Gesamt
11,6
2,8
-
1,7
3,5
11,1
Politik
32
13,585
19,8
Kabinettsmitglieder 
8
19
12
Staatssekretäre
12
5
6
Wirtschaft
3,5
0
5,3
100 größte Unternehmen in Ostdt.
20
25
20
Vorstände Dax-Unternehmen
1,6
>0,1
Verwaltung
2,5
4,3
10,3
Wissenschaft
7,3
2,5
1,7
Rekt./Präs. 100 größte Hochschulen
0
1
Rekt./Präs. größte Hochschulen Ostdt.
22
ca. 16
17
Gewerkschaften/AN-Verbände
12,4
0
12,1
Justiz
0
0
1,5
Richter in Ostdt.
11,8
13,3
22
Vors. Richter in Ostdt
3,4
5,9
4,5
Militär
0
0
0
Generäle
0
1
-
Sicherheit
13,3
Medien
11,8
0
7,8
Vorsitz Rundfunkanst./Presse in Ostdt.
31,6
27,7
-
Kultur
12,9
9,3
Zivilgesellschaft 
0
14,1
Religion
16,7
5,6

Quellen: PE = Potsdamer Elitestudie 1995; WZB = WZB Elitestudie 2013; BJ = Bluhm/Jacobs (2016): Wer beherrscht den Osten?; SAJ = Schönherr/Antusch/Jacobs (2022): Der lange Weg nach oben; ELS = Elitestudie 2018 Universität Leipzig

Die Unterrepräsentation Ostdeutscher in Führungspositionen kann eine Reihe negativer Folgen nach sich ziehen, die bislang nur in Ansätzen für die Gruppe der Ostdeutschen untersucht wurden. In dem durch das BMFSFJ geförderte Forschungsprojekt „Soziale Integration ohne Eliten?“ wurde beispielsweise der Frage nachgegangen, ob die personelle Unterrepräsentation der Ostdeutschen zu der im Vergleich zu Westdeutschland geringeren Demokratiezufriedenheit beiträgt. Im Rahmen dieses Projekts konnte auf der Basis einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung gezeigt werden, dass die Bevölkerung sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland eine Unterrepräsentation der Ostdeutschen in den zentralen Führungspositionen wahrnimmt und negativ beurteilt. Der größte Teil der Bevölkerung betrachtet diese geringere Interessenrepräsentation als grundlegendes Problem. 

Am bedeutendsten ist aber, dass diejenigen Ostdeutschen, die ihre eigene Gruppe als unterrepräsentiert wahrnehmen, das Gefühl haben, als Bürger zweiter Klasse behandelt zu werden (Vogel/Zajak 2020). Auch die Zufriedenheit mit dem gesellschaftlichen Zusammenhalt, der Demokratie oder das Vertrauen in den Deutschen Bundestag sind tendenziell bei denjenigen geringer, die Unterrepräsentation wahrnehmen und negativ bewerten.

Politischer Auftrag

In der 19. Legislaturperiode hat die von der Vorgängerregierung eingesetzte Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“ in ihrem Abschlussbericht vom 7. Dezember 2020 konstatiert, dass Ostdeutsche auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung deutlich seltener in Spitzenpositionen vertreten sind als es ihrem Anteil an der Bevölkerung entspricht. Aufgrund der beobachtbaren Verstetigung dieses Ungleichgewichts besteht aus Sicht der Kommission dringender politischer Handlungsbedarf. Die Bundesregierung betonte in ihrer Stellungnahme zu den Handlungsempfehlungen der Kommission (Kabinettsbeschluss vom 7. Juli 2021), dass eine angemessene Repräsentation von Ostdeutschen in Führungspositionen im gesamtstaatlichen Interesse liegt. 

Die Ampelkoalition versteht diese Empfehlung der Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“ als politischen Auftrag und hat sich in ihrem Koalitionsvertrag darauf verständigt, (1) die Repräsentation Ostdeutscher in Führungspositionen und Entscheidungsgremien in allen Bereichen zu verbessern und (2) für die Ebene des Bundes bis Ende 2022 hierzu ein Konzept vorzulegen.

Geplante Maßnahmen und erste Schritte


  • Bekenntnis zur Vielfalt als Mehrwert für die Gesellschaft
    Chancengerechtigkeit und faire Aufstiegsmöglichkeiten in Führungspositionen für alle unterrepräsentierten Bevölkerungsgruppen als Leitbild einführen und in der Bundesverwaltung fest verankern. 
  • Transparenz schaffen und Ursachenforschung voranbringen
    Um zielgerichtete Maßnahmen und Handlungsoptionen zur Erhöhung des Anteils von Ostdeutschen in Führungspositionen in allen Bereichen ableiten zu können, bedarf es regelmäßiger Informationen, basierend auf einer empirischen Datengrundlage unter wissenschaftlicher Begleitforschung. 
    Dazu wurde am 1. August 2022 das Forschungsprojekt „Elitenmonitor. Personelle Unterrepräsentation der Ostdeutschen in zentralen Führungspositionen: Zeitliche Entwicklung, Mechanismen, Handlungsoptionen“ gestartet. Auf der Internetseite des Projekts werden regelmäßig über den gesamten Projektzeitraum (bis 06/2025) Zwischenergebnisse veröffentlicht.
  • Bundeskonzept zur Erhöhung des Anteils von Ostdeutschen in Führungspositionen
    Die Arbeiten am Bundeskonzept haben im Mai 2022 begonnen. Zukünftig ist eine proaktive, regelmäßige Datenerfassung zur Besetzung von Führungspositionen in der Bundesverwaltung geplant. Im Herbst 2023 erfolgt eine Projektbeteiligung an der zentralen Befragung der Bundesverwaltung in Bezug auf fördernde bzw. hemmende Maßnahmen für Karrierewege. Geplant ist darüber hinaus die Entwicklung geeigneter Maßnahmen, die auf eine Erhöhung des Anteils Ostdeutscher in Führungspositionen hinwirken können. 
  • Personalpolitik diversitätssensibel gestalten
    Zur Verbesserung von Vielfalt und Repräsentanz sieht der Koalitionsvertrag die Erarbeitung einer ganzheitlichen Diversity-Strategie mit konkreten Fördermaßnahmen und Zielvorgaben für die Personalstrategie der Bundesverwaltung vor. Errungenschaften bei der Gleichstellung der Geschlechter sollen im Rahmen einer ganzheitlichen Diversity-Strategie auch zur Förderung anderer bisher unterrepräsentierter Bevölkerungsgruppen in Führungspositionen, wie Menschen mit ostdeutscher Herkunft, genutzt werden. 
  • Ansiedlung von Bundesbehörden und Forschungseinrichtungen in den ostdeutschen Ländern für den Abbau von Repräsentationsdefiziten benachteiligter Bevölkerungsgruppen nutzen
    Bei der Besetzung von Führungspositionen und der Personalgewinnung strukturell benachteiligter Bevölkerungsgruppen sind diese in neu angesiedelten Bundesbehörden und Forschungseinrichtungen stärker in den Blick zu nehmen. 
  • Zusammenarbeit mit den ostdeutschen Ländern intensivieren
    Die Verbesserung der Repräsentanz von Ostdeutschen in Führungs- und Leitungspositionen ist eine Aufgabe, die ausschließlich gemeinsam von Bund und Ländern bewältigt werden kann. Bund und Länder haben sich deshalb in der Riemser Erklärung der gemeinsamen Konferenz der Regierungschefinnen und Regierungschefs der ostdeutschen Bundesländer mit dem Bundeskanzler am 13. Juni 2022 zum Ziel gesetzt, den anstehenden Generationswechsel in der öffentlichen Verwaltung, aber auch in Justiz und Wissenschaft, zum Abbau des Repräsentationsdefizits von Ostdeutschen bei der aktuellen Besetzung von Führungspositionen zu nutzen. Dazu erarbeiten Bund und Länder konkrete Maßnahmen, die auf eine Erhöhung des Anteils von Menschen mit ostdeutscher Herkunft in Führungspositionen hinwirken und Nachwuchskräfte fördern.
  • Entwicklung eines systematischen Kommunikationskonzepts durch interne und externe Kommunikationsinstrumente
    Das geplante Kommunikationskonzept verfolgt das Ziel, auf die Unterrepräsentation von Ostdeutschen in Führungspositionen in allen Bereichen öffentlich aufmerksam zu machen und Entscheidungsträger in Personalauswahlverfahren und Besetzungsverfahren für Gremien sowie Förderinstitutionen zu sensibilisieren. Hierbei sollen u. a. auf einer eigenen Projekt-Website die Ergebnisse kommuniziert werden, um unterschiedliche Zielgruppen sowie eine breite Öffentlichkeit zu erreichen.