Arbeits- und sozialpolitische Strategien für Ostdeutschland

Arbeitsmarkt

32 Jahre nach der Wiedervereinigung unseres Landes hat Ostdeutschland auf dem Arbeitsmarkt erheblich aufgeholt. Vor der Corona-Krise sind die Arbeitslosenzahlen in Ostdeutschland Ende 2019 auf einen Tiefststand gesunken. Auch die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Arbeitsmarkt waren begrenzt. Waren die Arbeitslosigkeit und deren Bekämpfung viele Jahre lang das bestimmende Thema für Ostdeutschland, rückt in der letzten Zeit eine neue Herausforderung in den Vordergrund. Vermehrt fällt es Unternehmen schwer, neue Mitarbeiter zu finden, in manchen Branchen besteht bereits jetzt ein echter Fachkräftemangel.
Mit der Alterung der Bevölkerung schrumpft aber auch das Potenzial an Arbeitskräften. Ostdeutschland ist davon besonders stark betroffen. Das liegt an den niedrigen Geburtenzahlen in den ersten Jahren nach dem Mauerfall ebenso wie an der verstärkten Abwanderung der zwischen 1975 und 1989 geborenen Menschen. 
Der Anteil der jungen Menschen ist in Deutschland im Vergleich zu den europäischen Nachbarstaaten niedrig, in Ostdeutschland im Vergleich noch niedriger. Daher wird sich der Arbeits- und Fachkräftemangel in den kommenden Jahren noch verschärfen und es muss dringend umgesteuert werden, um den Wirtschaftsstandort zu sichern, aber auch um den Alltag vor Ort aufrechtzuerhalten. In vielen Regionen sind bereits jetzt zu wenige Pflegekräfte, Handwerker, Erzieher, aber auch Ärzte vorhanden. Daher arbeitet die Bundesregierung intensiv an der Weiterentwicklung der Fachkräftestrategie, um diesem Trend entgegenzuwirken.

Fachkräftestrategie

In ostdeutschen Betrieben übten im Jahr 2021 schätzungsweise 80 % aller Beschäftigten Tätigkeiten aus, die eine entsprechende Qualifikation erforderten. Davon setzten 64 % eine abgeschlossene berufliche Ausbildung und 16 % eine akademische Ausbildung voraus. In Ostdeutschland werden in mehr als der Hälfte aller Betriebe ausschließlich Tätigkeiten ausgeführt, die eine Berufsausbildung oder einen Hochschulabschluss erfordern. 
Die ostdeutschen Betriebe hängen damit in hohem Maße von der Verfügbarkeit qualifizierter Arbeitskräfte ab. 
Der Bedarf an Fachkräften ist in den Jahren vor der Corona-Pandemie stetig angestiegen. Dies wurde insbesondere auch bei ostdeutschen Betrieben deutlich. Eine aktuelle Studie des IAB-Betriebspanels Ostdeutschland 2021 zeigt, dass die Anzahl der unbesetzten Fachkräftestellen in den letzten Vorkrisenjahren stetig wuchs. Dies weist auf einen Fachkräftemangel hin, der sich in Zukunft verschärfen wird. So führt etwa der demografische Wandel dazu, dass jedes Jahr mehr Menschen aus dem Erwerbsleben austreten als hinzukommen, sodass die Zahl der dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehenden Erwerbspersonen stetig weiter sinkt.
Was ist also zu tun? Zunächst müssen vorhandene Potenziale ausgeschöpft werden. Das bedeutet einerseits, dass die Erwerbsbeteiligung von Frauen erhöht werden muss, die derzeit oftmals nicht in Vollzeit arbeiten, andererseits, dass Arbeitslose qualifiziert und für den Arbeitsmarkt fit gemacht werden müssen. Darüber hinaus müssen die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber auch ihre Anstrengung bei der Ausbildung verstärken und somit jungen Menschen die Möglichkeit zur Qualifizierung geben. Im Jahr 2021 beteiligten sich nur 53 % aller ostdeutschen Betriebe an der Ausbildung. Genügend Ausbildungsplätze sind aber eine wesentliche Grundvoraussetzung für ausreichende Fachkräfte. 
Wir werden es aber auch mit beiden Maßnahmen nicht schaffen, die vorhandene und immer größer werdende Lücke zu schließen. Daher brauchen wir vermehrt Zuwanderung in den Arbeitsmarkt. Um es deutlich zu sagen: Ohne ausländische Arbeitskräfte werden wir in Ostdeutschland längerfristig das öffentliche Leben nicht aufrechterhalten können. Das hätte erheblichen negativen Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung. Dies ist eine Herausforderung, die auch ein gesellschaftliches Umdenken hin zu mehr Offenheit erfordert. Es vollzieht sich bereits, aber es bleibt noch viel zu tun.

Gleichzeitig muss auch der ostdeutsche Arbeitsmarkt attraktiv sein. Die Schwierigkeiten, gut qualifiziertes Personal zu halten oder neue Fachkräfte zu gewinnen, werden insbesondere in Ostdeutschland Prognosen zufolge zunehmen. Es wird für die ostdeutschen Betrieben zukünftig immer wichtiger werden, den bundesweit gesuchten Fachkräften gute Arbeitskonditionen (Tariflöhne) anzubieten. Zudem werden traditionelle Wege der internen Fachkräftesicherung, wie etwa die Ausbildung oder die Qualifizierung der eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, genutzt werden müssen. Es muss insbesondere die Weiterbildungsbeteiligung für ostdeutsche Betriebe erhöht werden. So könnten beispielsweise Ausfallzeiten während der Kurzarbeit für Weiterbildungen genutzt werden. 
Im Jahr 2020 war pandemiebedingt ein drastischer Rückgang der betrieblichen Weiterbildung festzustellen. 2021 verharrte die Beteiligung an Weiterbildungsangeboten auf dem niedrigen Niveau des Vorjahrs: In Ostdeutschland beteiligten sich nur 33 % der Betriebe und 17 % der Beschäftigten an Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen. Mit Bildungsprämien unterstützt das Bundesministerium für Bildung und Forschung die Weiterbildungsbeteiligung von Erwerbstätigen, die sich bisher aus finanziellen Gründen nicht an Weiterbildungsaktivitäten beteiligt haben.

Gute Löhne für gute Arbeit

Die ostdeutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer arbeiten im Schnitt immer noch zu 89 % des Durchschnittslohns in Westdeutschland. Der Verdienstunterschied von Ostdeutschland und Westdeutschland verringerte sich zwar im Vergleich zum letzten Jahr um 5 %. Trotzdem gibt es eine Lohnlücke von durchschnittlich 619 Euro pro Monat. 
Viele Jahre wurden die im Vergleich niedrigeren Löhne in Ostdeutschland als ein Standortvorteil geradezu vermarktet mit der Konsequenz, dass der Anteil der Geringverdiener, die weniger als 2.248 Euro brutto monatlich verdienen, in Ostdeutschland im Jahr 2021 bei knapp 30 % und damit nahezu doppelt so hoch wie in Westdeutschland lag. Zwar ist die Zahl in den letzten 10 Jahren um 25 % gesunken, sie ist aber immer noch zu hoch. 

Die Karte zeigt den Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland

Foto: Bundesagentur für Arbeit (2021)

Betrachtet man die Abbildung zum unteren Entgeltbereich, so sind die Konturen der ehemaligen DDR sehr deutlich zu erkennen, und dies auch nach über 30 Jahren. Hier gibt es weiteren Handlungsbedarf.
Die Mindestlohnerhöhung auf 12 Euro pro Arbeitsstunde zum 1. Oktober dieses Jahres betrifft insgesamt rund 22 % aller Beschäftigungsverhältnisse bundesweit, ausgehend von der Entlohnung im Jahr 2021. Das sind etwa doppelt so viele wie bei der Mindestlohneinführung im Jahr 2015.
Von den insgesamt 6,2 Millionen Beschäftigten in Ostdeutschland werden rund 1,1 Millionen (ohne Berlin) profitieren. Somit werden rund 23 % der ostdeutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern (ohne Berlin) durch den höheren Mindestlohn Verbesserungen erfahren. Das sind überproportional viele. Diese konkrete Maßnahme hilft denjenigen, die bisher am unteren Rand der Einkommensverteilung stehen, und wird mittelbar auch die angrenzenden Lohngruppen beeinflussen und das Lohnniveau wird insgesamt steigen. Die Einkommensunterschiede von Ost und West gänzlich aufzuheben wird damit aber nicht gelingen. 
Ein wesentlicher Grund für die schlechtere Entlohnung in Ostdeutschland ist die geringe Tarifbindung. Tariflöhne sind ein wesentlicher Garant für die Verringerung des Niedriglohnsektors und gleichzeitig steigern sie die Attraktivität des Arbeitgebers für neue Mitarbeiter, gerade auch bei den industriellen Neuansiedlungen. Um dem Fachkräftemangel entgegenzutreten, ist es sicher auch notwendig, den zukünftigen Mitarbeitern eine anständige Entlohnung anzubieten, die zu mehr als nur dem Überleben reicht.

Die Bundesregierung möchte eine Tariftreueregelung auf Bundesebene einführen. Denn es ist nicht vermittelbar, wenn die öffentliche Hand Auftraggeber belohnt, die nicht nach Tarif zahlen. Mit der Umsetzung dieses Vorhabens soll noch 2022 begonnen werden. Neben der Unterstützung der Tariftreue sieht der Koalitionsvertrag noch weitere konkrete Maßnahmen zur Stärkung der Tarifbindung vor: Wir wollen ein zeitgemäßes Recht für Gewerkschaften auf digitalen Zugang in die Betriebe schaffen. Damit wollen wir sicherstellen, dass Gewerkschaften auch in Zeiten zunehmender mobiler Arbeit in die Lage versetzt werden, Mitglieder zu gewinnen und Solidarität zu organisieren. Ein weiteres Problem ist die „Tarifflucht“ insbesondere in Konzern- und Unternehmensverbünden. Die Bundesregierung prüft derzeit, mit welchen Maßnahmen Betriebsausgliederungen zwecks Tarifflucht verhindert werden können und der geltende Tarifvertrag gültig bleibt.
Aber auch die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sollten sich vermehrt ihrer eigenen Stärke bewusst werden und sich in Gewerkschaften organisieren. So können bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne durchgesetzt werden. Die Position der Arbeitnehmer ist durch den Fachkräftemangel stärker denn je.