Wie kann zusammengehören, was gewachsen ist?

Alexanderplatz in Berlin, Blick auf das Berolinahaus

Jahrestag der Friedlichen Revolution

Foto: Ostkreuz (Frank Schirrmeister)

  1. Im Transformationsprozess seit 1990 kam es zu einem grundlegenden Kulturwandel in den neuen Bundesländern. Es trafen in diesem Prozess zwei verschiedene gesellschaftliche Kulturen aufeinander, von denen sich die eine, westdeutsche, als die ökonomisch effizientere erwies. Sie stellte sich selbst auch in einer Vielzahl von Werten als die tatsächlich oder auch vermeintlich überlegene dar. Zwangsläufig wurden dabei alte Ideale der Ostkultur in Frage gestellt und es kam zu einer Konfrontation der Kulturen. Sie war zunächst wenig transparent und wurde von der Ostseite nicht zugespitzt ausgetragen. Zunehmend wird diese Konfrontation aber benannt, anerkannt und auf verschiedene Art auch diskutiert.
  2. Was anstünde, wäre, die beiden lange getrennten und jetzt vereinten Kulturen wieder zu einem gemeinsamen Gebilde mit gemeinsamen Idealen zu formen. Da sind im Vereinigungsprozess, der eben ein Beitritt war und keine Vereinigung auf Augenhöhe, grundsätzliche Dinge nicht zur Gestaltung gekommen. Es wurde keine neue gemeinsame Verfassung geschaffen und es wurden keine neuen gemeinsamen Symbole gesucht. (z. B. Feiertage, Nationalhymne usw.). Es könnten aber auch jetzt noch neue, gemeinsame Symbole gesucht und geschaffen werden. So könnte z.B. der 3. Oktober zu einem Feiertag der Demokratie gemacht werden. 
    Die Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“ hat im Dezember 2020 dazu sehr differenzierte und brauchbare Vorschläge erarbeitet und veröffentlicht. Es geht um eine Identifikation mit der Bundesrepublik, mit Deutschland als Demokratie, die ihre Verschiedenheit akzeptiert. Die Frage ist dabei nicht die des Zusammenwachsens. Es geht vielmehr darum, wie zusammengehören kann, was gewachsen ist?
  3. Die deutsche Geschichte hält in der jüngsten Vergangenheit dazu gute Identifikationsmöglichkeiten bereit: 

    - die Entwicklung der demokratischen Kultur der Bundesrepublik bis 1989;
    - die Oppositionsbewegung und die Friedliche Revolution in der DDR 1989;
    - die bisher geleistete geschichtliche und inzwischen auch seelisch-moralische Aufarbeitung des Nationalsozialismus, die sich in der Welt sehen lassen kann;
    - die Bereitschaft zur Aufnahme von Migranten, die besonders bei der Aufnahme der Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine einen neuen solidarischen Höhepunkt erreicht hat.

    Diese positiven Identifikationsmöglichkeiten mit unserer gemeinsamen Geschichte sollten verstärkt sowie lebendiger und zur Identifikation einladender vermittelt werden – durch Eltern und Lehrerinnen und Lehrer, durch die öffentlichen und gesellschaftlichen Institutionen.
  4. Ohne Zweifel unterliegen inzwischen alle Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik auf Grund von Globalisierung und Digitalisierung einem hohen kulturellen Druck: Durchorganisiertheit, ständige Erreichbarkeit, dauernde Präsenz im Arbeitsprozess, aber auch in Familie und Freundeskreisen, sowie ein Überdruck durch Dauerinformiertheit – dies sind Merkmale des kapitalistischen Gegenwartsalltags. Hinzu kommen in letzter Zeit die besonderen Herausforderungen der Pandemie, der Klimakrise und des Krieges in der Ukraine.
    Die meisten begegnen diesem Druck mit individuellen Strategien, mitunter durch Vereinzelung. Gerade hier wären „analoge“ Identifikationsangebote im Kleinen wichtig: Gruppen, denen man sich zugehörig fühlen kann und die das Bedürfnis nach Kommunikation und gemeinsamen Zielen befriedigen.
    Da gibt es in den alten Bundesländern seit Jahren gewachsene Strukturen: Sportvereine, Chöre, Kirchengemeinden, zivile Bürgervereine und vieles mehr. Aber gerade diese Strukturen sind teilweise im Osten weggebrochen und müssen neu gestaltet und intensiv gefördert werden.
  5. Wie kann zweifelnden Deutschen in Ost und West vermittelt werden, dass wir den oben genannten Herausforderungen der Zukunft nur mit demokratischen Strukturen begegnen können? Dass nur die Demokratie die Vielfalt und das Spiel der Kräfte ermöglicht, und dass eine ihrer Grundkonstanten die Akzeptanz von Verschiedenheit und Anderssein ist?

    Da wir alle erleben, wie unter den Bedrohungen der Gegenwart und Zukunft zu primitiven psychischen Abwehrmechanismen wie Spaltung, Abwertung des Anderen und Verbreitung von paranoiden Verschwörungstheorien gegriffen wird, ist meines Erachtens zunächst die Anerkennung der tatsächlichen Bedrohung wichtig. Das Gefühl der Bedrohung eint uns. Danach müsste es aber um etwas gehen, was wir in der Psychoanalyse das Erreichen der depressiven Position nennen. Damit ist keineswegs eine Depression gemeint. Die bessere Bezeichnung wäre „realistische oder schöpferische Trauer“, d.h. die Fähigkeit trauern zu können, um sich dann mit Hoffnung zu verbinden. Es geht dabei um die wirkliche Anerkennung von realen Verlusten wie z.B. des Alltaglebens in der DDR oder des Verlusts von Sicherheit und Geborgenheit in der heutigen Welt. Es geht um Trauer statt Wut. Dazu gehört außerdem, sich von unrealistischen Fantasien verabschieden zu können und auch die eigene Aggressivität und Feindseligkeit anzuerkennen, um sie nicht im anderen zu verorten. Das alles bedeutet das Zulassen von seelischem Schmerz, um ihn in einem zweiten Schritt überwinden zu können. Wenn man sich in diesem Prozess mit anderen verbinden könnte, wäre das besonders hilfreich.
  6. Auf welche Weise man gesamtgesellschaftlich seelischen Schmerz eher anerkennen und zulassen könnte, als ihn zu bekämpfen, ist eine wichtige Frage. Beispielhaft erscheinen mir hier die Reden von Frank-Walter Steinmeier zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, die er am 23. Januar 2020 in Yad Vashem und am 29. Januar 2020 im Deutschen Bundestag gehalten hat. Zum gemeinsamen Ansehen, Anerkennen und Bewältigen von Schmerz und Trauer fallen mir nur das weitere Fördern einer Diskussions- und Gesprächskultur ein, in der man sich in der Bedrohung miteinander verbindet. Dazu wären auch die Medien und die Anstalten des öffentlichen Rechts mehr als bisher – und eventuell auch anders – gefordert.  

    Und – last but not least – das Fördern und die Anerkennung des hohen Stellenwerts von Kunst, die uns in all ihren Facetten immer wieder Modelle zur Anerkennung und Überwindung seelischen Schmerzes zur Verfügung stellt.
  7. Im Bewusstwerden, dass unsere nationale Zukunft im vereinten Europa eine gemeinsam zu gestaltende Ressource sein kann, könnte sich auch mehr gemeinsames Handeln herausbilden. Dabei geht es auch um das Erleben von Selbstwirksamkeit, dass viele DDR-Bürger im Herbst 1989 hatten und dass sich auch in der extrem hohen Wahlbeteiligung am 18. März 1990 ausdrückte. Dieses Bewusstsein der eigenen Gestaltungkraft ist einem Teil der DDR-Bürger im vereinten Deutschland verloren gegangen, während ein anderer Teil es in hohem Maß ausgestaltet oder neu erworben hat. 

    Politik könnte und sollte vermitteln, dass es in der Gesellschaft auf das Handeln jedes Einzelnen ankommt und dass dieses Engagement dann auch gesehen und gewürdigt wird. Hier erscheint die von der Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“ vorgesehene besondere Würdigung des Ehrenamtes herausragend wichtig zu sein.

Literatur:

Freud, Sigmund: Die Zukunft einer Illusion (1927)
Mitscherlich, Alexander und Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern (1967)
Abschlussbericht der Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“ (2020)
Simon, Annette: Wut schlägt Scham: 1989 und die AfD (2019)
Simon, Annette: Die sozialpsychologische Seite der Zukunft, in: Kowalczuk / Ebert / Kulick (Hrsg.): (Ost)Deutschlands Weg (2021 S. 509) 

Annette Simon,
Psychologin, Psychoanalytikerin. In den 70er und 80er Jahren aktiv in oppositionellen Gruppen in der DDR, 1989 im Neuen Forum. Publiziert zu den psychosozialen Prozessen der deutschen Vereinigung. Mitglied der Regierungskommission „30 Jahre Friedliche Revolution und deutsche Einheit“