Kohle allein schafft noch keinen Wandel der Strukturen

Torsten Pötzsch Kohle allein schafft noch keinen Wandel der Strukturen

Am Ende sind es die Menschen vor Ort, welche eine Region prägen. Ihnen respektvoll zu begegnen, Politik transparent zu betreiben und die Chancen im Miteinander zu sehen, ist der größte Wert in der Kommunalpolitik und dem Strukturwandel.

Person steht am Rand einer Braunkohlegrube eines Tagesbaus

Braunkohlengrube

Foto: Ostkreuz (Heinrich Völkel)

Die Zukunft selbst zu gestalten funktioniert nur mit Struktur und Wandel. Gute Strukturen ermöglichen Orientierung. Sie sind die Basis für Belastbarkeit, Verlässlichkeit und eine klare Zielverfolgung. Der Wandel ist nötig, um nicht im Stillstand zu verharren. Ebenso verhält es sich mit dem viel beschworenen Strukturwandel. Das Kunstwort beschreibt aus meiner Sicht etwas, was eine Gemeinschaft auszeichnet, die nicht nur an das Hier und Jetzt denkt, sondern für die kommenden Generationen aktiv ist. 

Mit dem beschlossenen Atom- und späteren Braunkohleausstieg auf Bundesebene war für mich als kommunalen Bürgermeister der Auftrag klar, dass in den betroffenen Regionen neue Lebens- und Zukunftsstrukturen geschaffen werden müssen, damit es Perspektiven und städtische Attraktivität geben kann. Die Fehler der Vergangenheit – Wegzug als einzige Perspektive, da keine alternativen Arbeitsplätze geschaffen worden sind – dürfen nicht noch einmal gemacht werden. 

Auf der philosophischen Ebene mag darüber diskutiert werden können, welche Bedeutung die Arbeitsstelle und der Lohn im Leben eines Menschen haben sollten. Fakt ist: ohne guten Job und guten Lohn gibt es keine Perspektiven für Eltern und Kinder und keine Perspektive für eine Kommune oder Region. Deshalb muss Strukturwandel neben vielen Dingen vor allem eines leisten: gut bezahlte Arbeit schaffen. Denn die hat es in der Kohle immer gegeben. 

Zudem geht es nicht allein nur um die Energiebranche, die jetzt auf fossile Brennstoffe ausgerichtet ist und künftig auf nachhaltige. Sondern es geht auch darum, dass die neuen und nachhaltigen Unternehmen die gleiche Wirkmächtigkeit entwickeln. Es genügt also nicht, nur Energie anders zu erzeugen. Es ist auch wichtig, gleich vielen Menschen oder sogar mehr Menschen ein ebenso gutes Einkommen zu sichern. Benötigen die alternativen Energieerzeuger weniger Personal, muss das in angedockten Unternehmen, bei Zulieferern oder weiteren Standbeinen der Wirtschaft aufgefangen werden. Das bedeutet, es müssen für einen gelingenden Strukturwandel eben tatsächlich die Strukturen auch gewandelt werden. Sind es zur Boomzeit der Kohle einige wenige Firmen gewesen, welche für viele Menschen Jobs und Einkommen gesichert haben, müssen es jetzt vielleicht eine Vielzahl an Unternehmen unterschiedlichster Branchen sein, die hier zusammen ebenjene Perspektive bieten.

Viele kluge Menschen beschäftigen sich mit dem komplexen Weg zu einem gelingenden und vor allem nachhaltigen Strukturwandel. Es sind richtigerweise Instanzen und Institutionen, Regeln und Normen, Gremien und Entscheidungsebenen installiert worden. Denn bei viel Geld geht es um eine gerechte und nachvollziehbare Förderung. In der Struktur und in den Mechanismen gibt es aus Sicht eines Ostbürgermeisters aber durchaus einzelne Fehlläufer – die bei neuen Prozessen vielleicht immer passieren können, aber hier eben nicht passieren dürfen. Denn es steht und fällt der Strukturwandel mit den Menschen vor Ort und den Menschen, die einen Bezug zur Region haben oder haben wollen – und der Zielvorgabe ebenso vertrauen, wie den Mechanismen der Umsetzung.

Obwohl ich mich von Anfang an den Tatsachen der Energiesituation der Welt und der Region gestellt habe, habe ich für manche Entscheidungen der Politik bei der Behandlung des Strukturwandels wenig Verständnis – und gegenüber meinen Mitbürgern auch keine Erklärung. Es braucht eine transparente, nachvollziehbare und an den Bedürfnissen der Menschen orientierte Entscheidungsfindung. Sonst kommt es zu (weiteren) Enttäuschungen und Resignation. Wenn es um viel Geld von vielen Steuerzahlern für eine kleine Zahl an Steuerzahlern geht, die in einer besonderen, aber gesamtgesellschaftlich relevanten Situation sind, müssen die Entscheidungen nicht zwingend populär, aber doch nachvollziehbar sein. Wenn also der Braunkohleausstieg vor allem die Regionen und ihre Lebensstrukturen auf den Kopf stellt, die von der Kohle gelebt und mit ihrer Arbeit Wärme und Energie für alle anderen in der Gesellschaft geschaffen haben – dann muss der Ausgleich für die politische Entscheidung der Beendigung der Kohleverstromung auch dort ankommen, wo die Folgen der Entscheidung massiv sind. 

Denn hier sind die Wunden in der Landschaft noch präsent. Hier sind u.a. die Belastungen der Grundwasserabsenkung für Mensch und Natur, Lärm- und Staubemissionen, Abbaggerung von Fernstraßen (und damit längere Wege und Mehrkosten, um zur Autobahn zu kommen) sowie der Abriss von Dörfern allgegenwärtig. 

Millionen in Projekte fernab der Kohlereviere zu lenken und Entscheidungen über die Förderung von Ansiedlung nach Kriterien von Wählerschaften und Interessengruppen auszurichten, ist nicht nur nach meinem Verständnis falsch – sondern auch für die meisten Menschen in der kernbetroffenen Region. Es steht außer Frage, dass die Kohlegelder Gutes tun, überall, wo sie ankommen. Aber ein Verfahren, welches Misstrauen schafft in so einer Dimension, bedeutet auch Vertrauensverlust für Politik grundsätzlich. Denn selbst bei jenen, die gar nicht in den Prozess involviert sind, drängt sich die Frage auf, ob die Politik auch so lebensfern und selbstherrlich bei anderen Förderkulissen, Investitionen und Strukturmaßnahmen agiert. 

Ich mache es mir nicht einfach und spreche von „denen“ oder „die da oben“ oder „die anderen“. Ich  bin ja selbst Politiker. Ich fordere transparente Prozesse, nachvollziehbare Entscheidungen – ganz wichtig im Einklang mit gesetzten Normen und idealerweise im Einklang mit dem gesunden Menschenverstand. Wenn der Strukturwandel gelingen soll, braucht es Motivation und Respekt vor den Menschen in ihrer gewachsenen Gemeinschaft sowie die Anerkennung der Leistungen der Menschen hier, die dieses Land über Jahrzehnte verlässlich mit Strom versorgt haben und die sich jetzt oft zu Sündenböcken abgestempelt oder als Verursacher der Klimaproblematik gebrandmarkt sehen. 

Hier im tiefen Osten der Republik hat es eine Erfolgsgeschichte des Wandels noch nicht gegeben. Ohne die Schuldfrage zu stellen, bleibt zu bilanzieren: Da ist nicht alles so gekommen, wie erhofft, gewünscht, erträumt oder geglaubt. Das prägte und prägt die Menschen in meiner Heimatregion. Oft wird die Frage gestellt: „Warum sollte es jetzt anders kommen?“. Beim Strukturbruch in den 1990er Jahren wurden tausende Arbeitsplätze in der Kohle- und in der Glasindustrie vernichtet. Städte wie Weißwasser/O.L. wurden ihrem Schicksal überlassen. Ostmentalität? So einfach ist es nicht. Aus den Erfahrungen resultiert eine tendenziell kritische Haltung gegenüber Versprechungen. Das muss nicht schlecht sein, weil dem Hinterfragen auch der Wunsch innewohnt, etwas weiterzuentwickeln. Es bedarf aber seitens der Politik eines besonders hohen Maßes an Transparenz, Beteiligung, Offenheit, Respekt und Ehrlichkeit, um Gemeinschaften zu formen, Motivation freizusetzen, Missverständnisse auszuräumen und Engagement zu fördern. 

In der Kommunalpolitik ist das für uns Bürgermeisterinnen und Bürgermeister im ländlichen Raum bei allen Sorgen, Nöten und Herausforderungen teilweise noch umsetzbar. Aus diesem Wissen heraus habe ich zum Beispiel das Format der „Gerüchteküche“ ins Leben gerufen. Da stelle ich mich alle 6 bis 8 Wochen für 3 oder 4 Stunden bei uns auf den Marktplatz während des Wochenmarktes, und alle, die mögen, können mit mir diskutieren, ihre Kritik oder ihr Lob anbringen, Vorschläge unterbreiten und Themen setzen. Das ist alles ohne doppelten Boden, ohne Absicherung, ohne politisches Kalkül. Das ist Bürgerbeteiligung im Urformat – von Mensch zu Mensch, nur dass der eine dabei Oberbürgermeister ist und die Erkenntnisse und Fragen dieser Gespräche mitnimmt. 

Das Prinzip wird derzeit bei uns in Weißwasser/O.L. weiterentwickelt. Es wird also die Gerüchteküche 2.0 geben, wobei dann zu Themen auch Fachleute dazu geholt werden, mit denen dann bestimmte Themen besprochen werden. Wir sind auch dabei, andere Zielgruppen stärker abzuholen, etwa Bürgermeisterkollegen, welche mit persönlichen Blogs, YouTube-Videos und Social Media-Posts die Menschen an der Politik vor Ort teilhaben lassen. 

Alleine würde so etwas aber trotzdem nicht ausreichen. Deshalb haben wir in Weißwasser/O.L. mit der TU-Dresden im Wissenschaftsjahr 2022 einen Pop-up-Laden eröffnet, in dem alle Fragen von Energiewirtschaft bis Wahlprinzipien gestellt und bearbeitet werden. Aktuell läuft auch das Verfahren des Integrierten Stadtentwicklungskonzepts (INSEK), um die Ziele und Bedürfnisse der Menschen mit der Stadtplanung und -entwicklung überein zu bekommen. Denn schlimm wird es, wenn es Entscheider gut meinen, jedoch an den Menschen vorbei entscheiden. Angesichts der Kommunikationsgesellschaft ist das weder wünschenswert noch zielführend und schon gar nicht tragbar. Es geht nur miteinander. 

Und dort schließt sich auch der Kreis zum Strukturwandel. Ohne die Menschen vor Ort, ohne die Betroffenen aus der Kernregion der Kohleverstromung lässt sich der Wandel der Strukturen nicht schaffen. Das kann nicht vom grünen Tisch aus entschieden und für gut befunden werden. Es muss ein Prozess mit den Menschen vor Ort sein. Das verlangt die Fähigkeit, einander zuzuhören und natürlich ebenfalls das Gehörte mit in die Beteiligungsprozesse einfließen zu lassen.

Eigentlich bietet das alles schon unsere repräsentative Demokratie. Eine Regierungsform, die auf Vertrauen basiert: Der Wähler vertraut den Aussagen der Kandidatinnen und Kandidaten. Die Politiker vertrauen den Aussagen der Fachleute. Alle vertrauen darauf, dass die Gemeinschaft als höchstes Gut über dem Eigeninteresse steht. Doch der Alltag lässt die vielen guten Regularien und Prinzipien ganz offenbar etwas in Vergessenheit geraten. Demzufolge wissen alle, wie es geht – aber die Sorgen, Nöte, Pflichten und Lasten des Alltags stellen dann doch immer wieder das Ich vor das Wir. 

In Weißwasser/O.L. versuchen wir, diesem Egozentrismus-Trend mit Gemeinsinn und der Anerkennung des Wir zu begegnen. Das sind die Förderung und die Wertschätzung des Ehrenamtes, der Vereinsarbeit und der Kulturaktivitäten. Es ist die Willkommenskultur gegenüber Touristen und Zuziehwilligen. Es ist das gelebte Credo der Familienfreundlichkeit – und zwar vom Kleinkind bis zur Seniorin. Und wir haben uns entschieden, angesichts der neuen Herausforderungen unserer Zeit mit der massiv beschleunigten und zugleich inhaltsreduzierten Dauerkommunikation eine wertebasierte Förderstelle einzurichten. Im Rahmen des Projekts “Demokratie leben!“ des Bundes sind wir eine der anerkannten Partnerschaften für Demokratie geworden – um ebenjene Werte mit der geförderten Basisarbeit zu untersetzen, die offenbar nötig ist, obwohl eigentlich alle wissen müssten, wie Demokratie erfolgreich funktioniert.

Hier vor Ort ist die Kommunalpolitik eine mit vielen Facetten. Obwohl Weißwasser/O.L. als Ankerstadt im Norden des Landkreises Görlitz zu den größeren Städten der Ostregion in Sachsen gehört, sind bei den Entscheidern, Machern und Aktiven im Stadtrat wie im Verein immer Menschen, die bekannt sind. Das generiert Vertrauen. Das macht Kommunalpolitik auf Augenhöhe möglich. Jedoch ist auffällig, dass wir alle in der Politik daran arbeiten müssen, dass die Menschen Politik als Dienstleister ihrer Interessen verstehen. Dieses Vertrauen gibt es nur in der Gegenleistung zu der angesprochenen Ehrlichkeit, Offenheit und Transparenz. Die müssen permanent gelebt werden, um in kleinen Schritten das Vertrauen aufzubauen. 

Der Strukturwandel hat in Ostdeutschland einen schlechten Start gehabt. Die Entscheidungen zu Atom- und Kohleausstieg haben die Menschen überrascht und vor den Kopf gestoßen. Die angebotene Lösung des Strukturwandels muss mit Leben und Inhalt gefüllt werden – also eine logische Kette der Notwendigkeiten und Ziele mit Maßnahmen untersetzt werden. 

Doch leider leert sich der millionenschwere Fördertopf für den Strukturwandel zusehends, ohne in der kernbetroffenen Ostregion fassbare Strukturen für jedermann verständlich und nachvollziehbar aufzubauen, die den Wandel der Strukturen in die richtige Richtung bringen. Das wissen die Menschen vor Ort bei einigen Entscheidungen, bei anderen fühlen sie, dass etwas nicht stimmt. Die Menschen haben es satt, immer wieder von Strahlkraft zu hören, die dann auch bis zu ihnen strahlen soll. Warum kann die Strahlkraft nicht von der Kernregion des Braunkohleausstiegs ausgehen? 

Es braucht mehr Solidarität für die wirklich betroffenen Menschen und Orte und keine neuen Leuchttürme, weil es unter einem Leuchtturm immer dunkel ist. Festzuhalten bleibt bei aller Kritik und bei allen Wünschen der Bürgernähe seitens der großen Politik, dass der derzeitige Wandlungsprozess in der Lausitz eine riesige Chance für meine Heimatregion ist. Aus dem gemeinsamen Machen heraus werden Hoffnung, Zuversicht und Stolz generiert. Und diese positive Grundstimmung wird dann ihre Wirkmächtigkeit entfalten können, die Menschen in die Region lockt, anstatt sie zu vergraulen. Die Menschen der vom Braunkohleausstieg und der Energiewende kernbetroffenen Region sind längst an dem Punkt, den Wandel als Chance für eine enkeltaugliche, liebens- und lebenswerten Region zu akzeptieren. Sie benötigen aber für neue Strukturen des Wandels Vertrauen in die Politik. Das funktioniert nur mit Offenheit, Transparenz und Respekt vor den Menschen der Lausitz.

Torsten Pötzsch, 
geb. 1971 in Forst (Lausitz), Oberbürgermeister von Weißwasser/O.L., Mitglied des Kreistages, 2. Stellvertretender Landrat sowie Vorstandsmitglied des Kreisverbandes Görlitz des Sächsischen Städte- und Gemeindetages. Den Strukturwandel vertritt er als sächsischer Sprecher der „Lausitzrunde".