Gründen im Osten – Machen statt Posen: „Optical Valley“ Jena und mehr

Zwei Personen stehen vor einer Illumination während des Chaos Computer Capms

Chaos Computer Club Camp

Foto: Ostkreuz (Maurice Weiss)

Gründungen: ihre Unternehmer und Unternehmerinnen – mehr als Statistiken

Wer nach „Gründen im Osten“ im Internet sucht, findet zunächst wenig Erbauliches: zu wenige Gründungswillige, die Überalterung etc. Zudem gibt es generell eine niedrige Gründungsneigung, im Osten ist sie aber noch geringer. Statistisch mag das sein, jedoch verdecken die Zahlen viel. Denn in meinem Alltag erlebe ich anderes, nämlich: Gründerinnen und Gründer, die klare Vorstellungen entwickeln und sie sehr erfolgreich umsetzen. Fangen wir mit der Stadt an, die mir nahe ist und die als eine der zehn wichtigsten deutschen Start-up-Zentren gilt: Jena. Dann ziehen wir noch ein paar Stationen weiter, um den Blick in Thüringen zu weiten.

Optical Valley Jena: Unternehmertum im Saaletal seit 175 Jahren

Der Erfolg Jenas basiert gemeinhin auf dem Mut, dem Tatendrang und dem Engagement von drei Gründern und Unternehmern: dem Weimarer Feinmechaniker Carl Zeiss, dem Chemiker und Glastechniker Otto Schott und dem Physiker Ernst Abbe, einem herausragenden Wissenschaftler, der als weitsichtiger Unternehmer zum Sozialreformer wurde. Es begann 1846, als Zeiss seine Werkstatt in Jena gründete.

Dieser unternehmerische Geist lebt bis heute fort, getragen von der heutigen Generation. Ihre Namen sind u.a. Reinlein, Rothleitner & Eckhardt, Beier. Auch sie stammen meist aus der Region. Auch sie verbinden wissenschaftliche Expertise mit der Kraft, diese in Produkt- und Servicelösungen am Markt umzusetzen. Dabei profitieren sie von der immensen Wissenstiefe aus über 175 Jahren Forschung und Anwendung in der Region.

Zudem erscheint Jena heute wie ein Katalysator. Das Tal zieht innovative Leute an, die das Wissen aufsaugen, weiterentwickeln und mit neuen Ideen als vielversprechende Start-ups in Jena oder in Thüringen Fuß fassen. 

Ein Streifzug: Da wäre die ROBUST AO GmbH, die den Zwobbel® baut, ein Bauteil, um die Effizienz in der Lasermaterialbearbeitung zu steigern. 2021 von Dr. Claudia Reinlein gegründet, die in Erfurt geboren wurde, an der TU Ilmenau Ingenieurwissenschaften studiert und später in Jena promoviert hat. Parallel war sie Mitarbeiterin und später Gruppenleiterin am Fraunhofer IOF , bevor sie mit dem EXIST-Gründerstipendium  an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (FSU) die Gründung vorbereitet. 2021: Gründerpreis Thüringen.

Die IDloop GmbH besteht aus einem vierköpfigen Gründerteam aus Physikern und Software-Entwicklern. Geschäftsführer und Antreiber ist Jörg Reinhold, der auch aus Jena stammt, dessen Vater bei ZEISS in Leitungsfunktionen tätig war und als Mentor fungiert. Ihre Firma hebt die 3D-Bildgebungstechnologie auf eine neue Stufe für eine berührungslose biometrische Identifizierung, die nicht nur sicher, sondern auch bequem ist. Dabei holten sie die Docter Optics SE aus Neustadt a. d. Orla als strategischen Ankerinvestor an Bord. Im ersten Jahr ihres Bestehens präsentieren sie ihre Lösungen auf Konferenzen in aller Welt.  

Das Ziel der SPACEOPTIX GmbH: ihren Teil zur Erschließung des Weltalls, im „New Space“-Markt beizutragen, indem sie die Technologie auf industrielle Maßstäbe skalieren und so langfristig in Thüringen halten. Dabei bauen sie auf 20 Jahren Forschung am Fraunhofer IOF auf. Start im März 2020, zu Beginn der Pandemie. Die Gründer – alle aus der Region: Dr. Matthias Beier, Ingenieur Marcel Hornaff sowie Maschinenbautechniker Mathias Schulz und Industriemeister André Urbich. Initiator und Geschäftsführer Beier stammt aus Sachsen-Anhalt und werkelte schon als Jugendlicher gern an Mopeds herum. Ingenieurstudium an der TU Dresden, mit Auslandsaufenthalt in Spanien. Zur Diplomarbeit ans Fraunhofer IOF nach Jena. Später dort Promotion an der FSU. Zwischenzeitlich zieht es ihn zu ZEISS. Nun mit eigenem Fertigungsstandort in Isseroda im Weimarer Land. Einer ihrer Prototypen fliegt auf der internationalen Raumstation (ISS), Ergebnis einer mehrfachen Kooperation. Die Tagesthemen berichten. Sie gewinnen viele Preise, u.a. waren sie Sechster der TOP-50-Start-ups im Jahre 2020.

Forschende werden Unternehmer: Zur gleichen Zeit startet die Polytives GmbH: Seit 2014 forscht der Chemiker Oliver Eckhardt aus Südthüringen an der FSU Jena über Kunststoff-Additive und ahnt, dass sich mehr damit machen lässt als seine geplante Dissertation. 2017 lernt er, im Rahmen eines Transfer-Seminars an der FSU, die BWL-Studentin Victoria Rothleitner kennen. Ebenfalls im März 2020 gründen die beiden dann. Mit ihrem Verfahren können bei der Herstellung von Kunststoffgranulat 30% Energie eingespart werden, zudem ohne toxische Zusatzstoffe. Nachhaltig und gesundheitlich unbedenklich. Im Moment arbeiten sie eng mit dem Thüringischen Institut für Textil- und Kunststoff-Forschung (TITK) in Rudolstadt zusammen. Dort ist auch der Aufbau der eigenen Fertigung geplant. Jena strahlt ins Umland aus. 

Mitgründer und Geschäftsführer der Quantum Optics Jena GmbH sind Dr. Oliver de Vries und Dr. Kevin Füchsel. Auch Füchsel stammt aus Thüringen, aus der Nähe von Arnstadt, studiert Physik in Jena und promoviert ebenfalls dort. Zudem ist er bei mehreren Businessplan-Wettbewerben erfolgreich. Erst leitet er aber mehrere Jahre die Abteilung für Strategie und Geschäftsentwicklung am Fraunhofer IOF. Im Jahr 2020 gründet er sich dort mit de Vries aus, um Lösungen zu entwickeln und anzubieten, die Cybersicherheit auch im Zeitalter des Quantencomputers gewährleisten.

OpenUC2. René Lachmann stammt aus einer Familie von Naturwissenschaftlern, auch sein Bruder ist Physiker. Nun gründete er mit Dr. Benedict Diederich eine Firma, um ihre Idee eines optischen Baukastens umzusetzen. Mit den Modulen lassen sich leistungsfähige Mikroskope leicht bauen, z.B. für Schulen. Entwickelt haben sie die Idee am Leibniz-IPHT . In diesem Sommer: Gründungspreis der Leibniz-Gemeinschaft. Aufmerksamkeit erregten sie auch international, u.a. im Silicon Valley in Stanford und an der Universität Cambridge.

Grenzübergreifende und interdisziplinäre Kooperation zeichnet auch das DeepEn-Team um Dr. Sergey Turtaev, Patrick Westermann, Dr. Jiri Hofbrucker und Dr. Hana Čižmárová aus, ebenfalls vom Leibniz-IPHT. Patrick Westermann ist dabei der einzige Jenaer und BWLer im Team. Sie wollen die am Institut in einer internationalen Kooperation entwickelte Endoskopie-Technologie in ein marktreifes Produkt überführen. Die werden über das Programm EXIST-Forschungstransfer finanziert, das in einem Jahr die Gründung vorsieht.

Mit Thüringer Ingenieurskunst in die Welt 

Die Thüringer Wirtschaft ist kleinteilig, aber nicht klein. Sie umfasst ganz unterschiedliche Industrien und Unternehmen in verschiedenen Stadien. Ihre Vielfalt macht sie resilienter in Krisen. Ähnlich wie in Jena gibt es oft eine lange lokale oder regionale Tradition und Forschungsexpertise in der jeweiligen Industrie. Die Unternehmen sind eingebettet in gewachsene Netzwerke u.a. mit den wirtschaftsnahen Forschungsinstituten (des FTVT e.V. ) und Hochschulen.

Die Herwig Bohrtechnik Schmalkalden GmbH ist ein Beispiel für solch ein Traditionsunternehmen, das vor Ort u.a. mit dem GFE-Institut  und der Hochschule Schmalkalden vernetzt ist. Die Stadt ist ein Zentrum des Werkzeugbaus seit 170 Jahren – und die 1994 gegründete Firma mittendrin: Peter Herwig ist Ingenieur und Tüftler aus Leidenschaft und entwickelt mit sicherem Blick für Bedarfe. Die nächste Generation ist Teil der Führung: Sohn Toralf für Produktion und Tochter Franziska für Vertrieb und Projektmanagement.

Ebenfalls relativ kurz nach der Wende, 1993, gründet Karl-Heinz Renger mit seiner Frau Marina und Jens Graber die Reschwitzer Saugbagger Produktions GmbH (heute RSP GmbH) in Saalfeld/Saale. Die Technologie wurde größtenteils zu DDR-Zeiten entwickelt. Die Patente gingen dann in der Wendezeit an eine Firma, die sie nicht nutzt. Die drei entschließen sich zum Neustart, erwerben mit ihrer Gründung diese Rechte und gehen damit persönlich voll ins Risiko. Es lohnt sich. Die Industrie muss allerdings erst von dem neuen Verfahren überzeugt werden: eben saugen statt baggern. Der erste richtige Kunde ist ein Rheinländer. Langsam geht es aufwärts: die Saugbagger werden in Venedig und am Gotthard-Tunnel genutzt. Heute ist RSP Weltmarktführer. Basis der Fahrzeuge sind LKW-Chassis von Daimler oder MAN. Die Firmenübergabe innerhalb der Gründerfamilien glückte.

Die Gummiprofile der SEALABLE Solutions GmbH aus Waltershausen, wirken unscheinbar, sorgen jedoch für Sicherheit, z.B. wenn sie in den Schienen von Straßenbahnen liegen. Im Kern ist sie ein Nachfolgeunternehmen des Kautschukkombinats in Waltershausen. Matthias Orth und Matthias Klug, die beiden Geschäftsführer, die aus Bad Tabarz und Eisenach kommen, können in der Pandemie die Firma im Rahmen eines so genannten Management-Buy-outs aus dem Konzern ihres Arbeitgebers, der Schweizer Dätwyler-Gruppe, mithilfe eines Konsortiums kaufen und herauslösen. 

Wissenschaftliche Präzision und Fokus auf die Umsetzung 

Der kleine Streifzug durchs Saaletal und etwas darüber hinaus zeigt: Eine neue Generation von Gründerinnen und Gründern ist aktiv, mit großem Esprit, mit dem Mut anzupacken, und der Kraft, Technologien in marktfähige Lösungen umzusetzen. Unternehmerisch werden sie die Region im 21. Jahrhundert erfolgreich gestalten. Auch die Beispiele der etablierten Unternehmen zeigen dies, u.a. durch gelungene Nachfolge- und Übernahmeregelungen. Die Wege sind individuell, doch sie alle eint, dass sie machen, um mit ihren Unternehmen und in ihrem Leben auf eigenen Beinen zu stehen. Viele kommen aus den Natur- und Ingenieurswissenschaften. Sie sind beste Beispiele für das “German Engineering”, das den Markenkern des „Made in Germany“ bildet.

Dr. Sebastian Händschke,
geb. 1979 in Berlin. Studium an der wiederbelebten Universität Erfurt, in Berkeley und London, danach Promotion in Jena. Dort Leiter des Inkubators „Digital Innovation Hub Photonics“ (DIHP). An der Bauhaus-Universität Weimar für Technologietransfer und Gründungsmanagement. Mitgründerdes Netzwerks 3te Generation Ost.